Hans-Jürgen Heinrichs: "Fremdheit"

Das Fremde in uns

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Ein Mann mit einem Cowboyhut in den Farben der Deutschlandfahne lehnt an einem Geländer und betrachtet eine nationalkonservative Demonstration in Dresden.
Viele Menschen erleben Fremdheit mitunter bedrohlich © Kunstmann/Sean Gallup/Getty Images
Von Marko Martin · 18.03.2019
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Der Ethnologe Hans-Jürgen Heinrichs schreibt in seinem neuen Buch gegen die Angst an, die uns vor dem vermeintlich "Anderen" ergreift. Dabei ist es uns oft verblüffend ähnlich, wie Heinrichs auf inspirierende Weise in seinem Buch nachweist.
Albert Camus‘ berühmtester Roman trägt den Titel "Der Fremde" – und ist die Geschichte eines Mordes. Doch assoziieren wir nicht ohnehin Fremde und Fremdheit mit etwas Negativem, Bedrohlichem? Dieser Frage widmet sich der Berliner Essayist und Ethnologe Hans-Jürgen Heinrichs in seinem neuen Buch "Fremdheit. Geschichten und Geschichte der großen Aufgabe unserer Gegenwart".
Trotz des etwas klobig anmutenden Untertitels – selten zuvor hat Heinrichs, den die meisten wohl vor allem von seinen oft einschüchternd klugen Bleiwüsten-Essays in der Zeitschrift "Lettre" kennen und schätzen – transparenter, fluider und freier geschrieben als hier. Vermutlich kein Zufall, denn ohne Rückgriffe auf schwere Begriffsapparate gelingt Heinrichs hier die plausible Umwertung (oder besser: Ergänzung) der Fremdheits-Metapher. Steht diese nämlich, so fragt er keineswegs didaktisch, nicht auch für die Chance auf Freiheit, auf Erweiterung des Horizonts und für die Möglichkeit, dem eigenen, oft strangulierenden Kokon zu entkommen?

Hass, eine anthropologische Konstante

Der Weitgereiste, dem das deutsche Publikum die Bekanntschaft mit poetischen Ethnologen wie etwa Michel Leiris oder Victor Segalen verdankt, belässt es nicht bei Rhetorik. Mit Rekurs auf andere unorthodoxe Reisende von Bruce Chatwin über Hubert Fichte bis Ilija Trojanow, vor allem jedoch aus seinem zahlreichen Erfahrungen in Afrika, Ozeanien und Lateinamerika schöpfend, weist er auf eine anthropologische Grundkonstante hin: Misstrauen, Konkurrenz, Neid, ja Hass gilt fast immer und überall zuerst einmal den vermeintlich "eigenen Leuten", den Nachbarn, den Mitbewohnern im Dorf, den Angehörigen der gleichen Ethnie. Und nicht etwa die Differenz ist es, die Angst macht, sondern im Gegenteil die verstörende Entdeckung, wie ähnlich uns diese Menschen sind – und damit auch dem, was wir an und in uns selbst verachten.
Nicht zufällig bezeichneten sowohl der Dichter Jean Paul wie auch der Wissenschaftler Sigmund Freud die Seele als "das wahre, innere Afrika". Da dem so ist, so die plausible Schlussfolgerung, sind wir alle mehr oder minder Fremde, denen es gut täte, zuerst einmal unser eigenes inneres Fremdsein anzuerkennen, da wir es ja mit vielen teilen.
"Wie können wir verstehen", fragt Hans-Jürgen Heinrichs, "was uns und was die Anderen zu einem bestimmten Denken und Handeln getrieben hat? Die Tatsache, dass wir uns wechselseitig als merkwürdig, ja als absonderlich vorkommen, ist das im Grunde nicht das viel Elementarere, wenn man so will: das Natürlichere?"

Diversity als Primat der Unterschiede

Doch wie verfahren mit Kulturen, denen solch westliche Praktiken der Introspektion und selbstkritischen Befragung durchaus fremd sein? Heinrichs verweist jedoch genau hier auf gewisse afrikanische Riten, die in Maskentänzen genau diese Fremdheitserfahrung im wahrsten Wortsinn durchspielen, um danach zu neuer Flexibilität zu gelangen. Solche Exkurse sind nicht zuletzt deshalb Erkenntnis fördernd, da sie vom Autor keineswegs in einem politisch korrekten, mahnend salbadernden Ton vorgetragen werden.
Dennoch hätte man sich an anderer Stelle – etwa in den Passagen über den Antisemitismus, der seit Jahrhunderten geradezu paradigmatisch ist für bösartige, mörderische Projektionen – etwas mehr Mut gewünscht auch das mitzudenken, was der eigenen These empirisch entgegensteht. Die Angst europäischer Juden, dass zum traditionellen europäischen Antisemitismus nun jener der bereits eingewanderten und weiterhin einwandernden Muslime hinzukommt, ist jedenfalls weder Halluzination noch Paranoia, sondern lebensweltlich ebenso wie statistisch belegt. Hinzu kommt: Trägt die unter vielen Progressiven längst zum Geplapper gewordene Rede von "diversity" und "kultureller Differenz" wirklich dazu bei, uns im Anderen wiederzuerkennen anstatt in zunehmend gereizter Kleinlichkeit auf dem absoluten Primat der Unterschiede zu bestehen?
Freilich: Es sind nicht die schlechtesten Bücher, die einen mit der Lust am Nachfragen und Hinzufügen entlassen. Im Gegenteil: Sie sind unverzichtbar für einen Dialog, der sich den Monologen des Hasses und der Ausgrenzung entgegenstellt. Hans-Jürgen Heinrichs ist solch ein inspirierendes Buch gelungen.

Hans-Jürgen Heinrichs: Fremdheit
Verlag Antje Kunstmann, 2019, 245 Seiten, 22 Euro

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