Handy aus

Ferien vom digitalen Ich

Ein Mann surft mit seinem Smartphone im Internet. Fast neun von zehn Deutschen finden es unhöflich, wenn ihr Gegenüber beim Essen immer wieder auf das Smartphone schaut. Foto: Nicolas Armer
Immer dabei: das Smartphone. Geht die ständige Erreichbarkeit gegen unsere Natur? © picture alliance / dpa / Foto: Nicolas Armer
Von Jochen Stöckmann · 02.11.2014
Schnell eine E-Mail schreiben, kurz Facebook checken - das kann auf Dauer ganz schön anstrengend sein. In Berlin wird nun in Seminaren erklärt, wie man sich aus der Geiselhaft des Smartphones befreit. Und was sagt die Philosophie dazu? Eine Betrachtung.
Nun müssen wir also bei teuer bezahlten Digitaltherapeuten lernen, was die ganze Menschheitsgeschichte hindurch für jedermann selbstverständlich, nur eine Frage des eigenen Willens war: innehalten, einfach mal Herabsteigen auf der Stufenleiter der Zivilisation und des technischen Fortschritts. Nicht mehr sklavisch der GPS-Navigation folgen, sondern Karte und Kompass zu Rate ziehen. Nicht blindlings Google Maps vertrauen, sondern mit dem Stadtplan in der Hand die Himmelsrichtung ermitteln. Instinktive Orientierung, die beherrscht das kleinste Spatzenhirn.
Und der Mensch? Der war nie wirklich jenes "Mängelwesen", als das der kulturkonservative Philosoph Arnold Gehlen uns eingestuft hat: Wer ist schon zu 100 Prozent angewiesen auf all die Werkzeuge der Organüberbietung, Organentlastung und des Organersatzes? Die Hände mit Greifarmen verlängern, die Ohren per Telefon erweitern, die Augen mit Ferngläsern fokussieren - darauf konnte man schon mal verzichten.
Aber dann kam die digitale Revolution. Die hat aufgeräumt mit Gehlens anthropologischen Denkfiguren - und damit sein "Mängelwesen" im Grunde erst hervorgebracht: indem jenes Wissen, das bis dahin allein durch vorwiegend mechanische Werkzeuge anschaulich verkörpert war, nun Tag für Tag, mit Cookies und allerlei Datenzauber, einfließt in elektronische Black Boxes - auf Nimmerwiedersehen. Damit besetzen diese nicht umsonst "intelligent" genannten Apparate Schlüsselpositionen, okkupieren die Schnittstellen zwischen Geist und Natur, Leib und Seele.
Entzug für iPhone-geplagte Menschen
So machen sie uns abhängig. Deshalb heißt die 290-Euro-Therapie "Digital Detox“, "Digital-Entzug". Warum nicht gleich ein Prohibitions-Gesetz? Aber Verbote haben auch gegen Alkoholismus nichts ausgerichtet. Entscheidend bleibt, dass jeder einzelne Trinker sich der Gefahren bewusst wird. Dieses aufgeklärte, durch eine "Wissensgesellschaft" beförderte Bewusstsein sollte doch den wesentlichen Unterschied ausmachen zwischen unserem Zeitgenossen, dem überinformierten homo iphonicus, und seinem eiszeitlichen Vorläufer, dem homo erectus.
Auch dessen aufrechter Gang war gar nicht ohne, hat Geisteskräfte gefordert und gefördert, so lesen wir bei Friedrich Nietzsche. Ausgerechnet beim Militär sah sich der Philosoph genötigt, als erwachsener Mensch noch einmal das Gehen zu lernen. Mit Schrecken erkannte er, "wie ungeschickt und roh man Fuß vor Fuß setzt" - um schließlich zu konstatieren, dass "aus den künstlich eingeübten Bewegungen wieder eine neue Gewohnheit und zweite Natur geworden ist".
Das digital ausgelagerte Ich
Den Digital Natives ist das Stakkato auf der Smartphone-Tastatur in der U-Bahn oder auf Parkbänken zur zweiten Natur geworden. In der Masse der virtuosen, in sich versunkenen Monaden geht jene Alltagskunst verloren, die Nietzsche selbst als Einzelgänger in der Marschkolonne zu kultivieren verstand: Sich in jedem Augenblick vergegenwärtigen zu können, wie das körperliche Tun, die künstlich eingeübten Gesten, mit Gedanken und Gefühlen im Innern korrespondieren.
Auf dieses Wechselspiel von Leib und Seele geht schließlich zurück, was immer schon das Wesen des Menschen ausgemacht hat, sein "Ich". Ist das erst einmal digital ausgelagert auf die nicht ohne weiteres zugänglichen, in ihrer Funktionsweise schlicht "unbegreiflichen" Apparate, dürfte es kaum weiterhelfen, Tablet oder Smartwatch für eine Weile beiseitezulegen.
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