Hamburgs Inselparadies Neuwerk

Zwei Briefkästen, eine Telefonzelle, fünf Gasthöfe

Wattwagen auf dem Weg zur Insel Neuwerk.
Wattwagen auf dem Weg zur Insel. © Deutschlandradio / Elke Vieth
Von Elke Vieth · 24.06.2018
Die Insel Neuwerk liegt in der Elbmündung, mitten im Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer, und doch gehört sie zum Bezirk Hamburg-Mitte. Wie lebt es sich dort als Insulaner? Die Deutschlandrundfahrt auf den Spuren von Kindheit und Jugend auf Neuwerk.
Diese kleine Insel ist ein Paradies. Die Kinder, die kommen, um Urlaub zu machen, im "Salzgitter-Camp" oder in der "Meereswoge", beneiden die Insulaner um ihr Zuhause: Klein, familiär, ohne Autos und ringsum vom Deich eingefasst: "Wenn ich auf den Deich gehe, überschaue ich diese kleine Oase auf einen Blick." Imme Flegel ist Meeresbiologin und Mutter der drei jüngsten Inselkinder.
Neuwerk, drei Quadratkilometer groß, 13 Kilometer von Cuxhaven entfernt und von der Nordsee umgeben. Volker Griebel ist auf "Nige Werk" geboren und heute Inselwart. Mit zwölf Mitgliedern zählen die Griebels nicht nur zur ältesten, sondern auch zur größten Familie auf Neuwerk. Sein Sohn Steffan hat die Verbundenheit zur Insel vom Vater geerbt. "Als Kinder durften wir rumpütschern, Schollen hinterher tigern, Strandkrabben fangen."
Die Insel in der Elbmündung liegt mitten im Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer, einer der vogelreichsten Regionen Mitteleuropas. Sie ist aber auch: zwei Briefkästen, eine Telefonzelle, fünf Gasthöfe, ein Leuchtturm und ein Süßigkeitenautomat. Die Deutschlandrundfahrt auf den Spuren von Kindheit und Jugend auf Neuwerk.

Zur Schule? Immer am Deich entlang

"Man kann hier einfach ein dreijähriges Kind aufs Fahrrad setzen und sagen, hol dir ein Eis, das kann man woanders kaum noch machen", sagt Imme Flegel. Denn Neuwerk ist klein und familiär und ringsum vom Deich eingefasst – und nicht nur für Kinder ein Paradies. Sie ist aber auch: zwei Briefkästen, eine Telefonzelle, fünf Gasthöfe, ein Leuchtturm und ein Süßigkeitenautomat.
Morgens früh mitten in der Nordsee, auf der Insel Neuwerk. Innerdeichs wohnen die Flegels: Imme und Werner mit ihren drei Kindern. Klein Jelle ist gerade ein Jahr alt geworden, Greta schon fünf und Karlotta acht, sie geht in die zweite Klasse.
"Ihr müsst in zwei Minuten los", ruft Immer. "Was sind den 32 geteilt durch zwei? 16? Ja!" Es ist mitten in der Saison, da kommen bei schönem Wetter bis zu tausend Tagesgäste auf die kleine Insel. Das bedeutet Stress, der zeigt sich auch schon kurz vor Beginn der ersten Schulstunde. Alles muss klappen an so einem Morgen, denn Imme und Werner Flegel sind berufstätig – beide.
"Tschüss, viel Spaß mein Schatz. Flott, flott los", sagt Imme und Greta antwortet: "Mama, hier ist was verdreht".
Die Weite der Landschaft löst bei Menschen das Gefühl von Freiheit aus.
Die Weite der Landschaft löst bei Menschen das Gefühl von Freiheit aus. © Deutschlandradio / Elke Vieth
Der Schulweg führt am Deich entlang. Einmal rund um die Insel sind vier Kilometer, erzählt Imme Flegel, die seit zwölf Jahren das Nationalpark-Haus auf Neuwerk leitet. Denn Neuwerk liegt mitten im Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer. "Neuwerk habe ich mir nicht richtig ausgesucht. Ich bin gefragt worden, ob ich die Leitung des Nationalparkhauses übernehmen könnte. Mein Vorgänger ist mitten in der Saison gegangen, ja, da war hier ne Lücke, die ich ganz schnell füllen durfte. Und dann erst habe ich realisiert, wie toll das hier ist und wie gut es zu mir passt. Ich komme ja auch aus dem Wattenmeerbereich und es ist für mich ein Stück Heimat. Ich fühle mich hier wie Zuhause und das von Anfang an."
Ihr Mann Werner ergänzt: "So kurz vor neun haben wir den üblichen Morgenstress hier. Wir sind dann immer mit ‘nem Großteil der Familie unterwegs. Ein kleiner im Hänger, die beiden auf dem Fahrrad zur Schule und dann Hund noch nebenbei ausgeführt. Muss alles funktionieren. Fahrt ihr mal ne bisschen schneller, ich fahre euch sonst in die Hacken."
Greta besucht schon mit fünf Jahren die Vorschule, Karlotta ist acht und geht in die Grundschule und Jelle geht seit ein paar Tagen zur Tagesmutter. Der Schulweg dauert zehn Minuten und führt vorbei an zwei der rund 20 Häuser der Insel. Dazwischen: Pferdeweiden. 34 Insulaner leben auf Neuwerk – und für die ist alles nah bei: Schule und Kindergarten in einem Haus und die Neuwerkstatt, die Werner Flegel betreibt, direkt daneben.
"Ich habe einen kleinen Laden hier auf der Insel wo ich T-Shirts bedrucke, für Gäste hier auf der Insel, T-Shirts, Pullover, Bücher über das Wattenmeer habe ich da und alles, was die Neuwerkurlauber begeistern könnte", sagt Werner. Dir Tür öffnet sich. Mittlerweile sind sie angekommen und die Mädels verschwinden in der Inselschule.

Nachbesprechung der Theatergruppe

"Guten Morgen Greta, Karlotta, seit ihr gut hergekommen? So, dann setzt euch erst mal hin, wie immer. Hallo, gestern habe ich dich ja gar nicht gesehen. Ich wollte noch mal fragen: Wie hat es dir das gefallen mit unserem Theaterstück?"
Susette Fabig, die Insellehrerin, und die beiden Mädels haben ein Theaterstück für den Geburtstag der Tagesmutter einstudiert."Also ich habe da den Hamster Billi gespielt und der hat halt neue Freunde gefunden. Und dann hat er noch den Fuchs verjagt, denn eigentlich sollte er sich nicht mit dem anfreunden, sondern ihn einfach verjagen", sagt Karlotta.
In der Schule auf Neuwerk
In der Schule auf Neuwerk © Deutschlandradio / Elke Vieth
Die Lehrerin spielt im Theaterstück übrigens nicht nur den Banditen-Papa mit Schnurrbart und Sonnenhut, sondern auch den bösen Fuchs: "Natürlich muss ich häufig die Rolle wechseln. Ich muss dann auch in Theaterstücken mitspielen oder bei Spielen mit dabei sein. Ich bin denn auch Spielpartner, also das ist ja sonst so ein Rollenwechsel, den man so in einer normalen Schule nicht hat. Es macht beim Theaterspielen sehr viel Spaß. Ich war gern ein Papa-Bandit."
Thomas Ridder-Padberg ist ein Freund der Insellehrerin und gerade zu Besuch. Er ist auch Sportlehrer in Nordrhein-Westfalen – da bot sich an, dass er mitmacht, erzählt die Insellehrerin Susette Fabig. Karlotta durfte gestern schon mit ihm turnen.

Eine echte Herausforderung: die Insel

Susette Fabig war bereits 20 Jahre an einer Hamburger Grundschule tätig, als sie von der freien Stelle der Insellehrerin erfuhr. Passte gerade in ihre Lebensplanung und stellte sich schnell für sie und ihren Lebensgefährten als eine echte Herausforderung dar:
"Man muss immer abwarten, wie ist der Wasserstand, wie steht der Wind, was ergibt sich so. Ja, das ist manchmal ganz schwer auszuhalten. Aber es ist ne schöne Erfahrung. Ich war ja vorgestern auf einer Geburtstagsfeier, ich hatte nur einen Weg von 15 Metern, aber der Wind blies heftig und ich bin reingekommen und habe gesagt: 'Meine Güte, man kann hier niemals mit einer schicken Frisur ankommen'."
Zurück zu den Mädels. Greta übt Schleife, Karlotta Mathe. Und die Insellehrerin erzählt, dass sie mit den Flegels drei Wochen im Winter in ihre "alte" Hamburger Schule fährt, denn Unterricht mit rund 20 Kindern ist so wichtig. Dazu kommt das Spielen auf dem Schulhof mit den vielen Kindern, das Toben mit der ganzen Klasse in der Turnhalle und vor allem das sich-verabreden mit den Schulfreundinnen.
Susette Fabig: "Es fehlen die anderen Kinder. Sie können sich auch nicht mal zurückziehen, denn sie sind mit mir konfrontiert. Weil normalerweise so viele Impulse gegeben werden, durch die anderen Kinder und durch das Miteinander. Die beiden können nicht abgucken von anderen Kindern, sie können auch nicht abwarten, was sagen die anderen Kinder, welche Meinung hab ich, ach, da kann ich auch drauf kommen."
Zudem genießen sie, dass nicht alle Augen auf sie gerichtet sind - eben die Anonymität der Großstadt -, denn auf Neuwerk sind sie die einzigen Schulkinder, eine ungewollte Attraktion, erzählt die Mutter:
"Die Wattführer erzählen Gruppen davon und die Wattwagenfahrer erzählen über die Inselschule. Teilweise werden die Kinder beim Namen genannt und es ist natürlich was Besonderes, wenn nur ein Kind zur Schule geht, oder zwei. Das kann ich aus der Sicht der Besucher auch verstehen, dass einen das interessiert, wenn man irgendwo hinfährt, das ist eine kleine Gemeinschaft, eine kleine Insel. Wie ist da die Schulsituation, was machen die Kinder? Ich würde mit ein bisschen mehr Anonymität wünschen, dass die Gäste ein bisschen rücksichtsvoller sind und die Kinder nicht ansprechen und sie nicht fotografieren, dass sie nicht wie Zootiere behandelt werden."

Auf Neuwerk ist man mit Rad oder zu Fuß unterwegs

"Neuwerk macht aus, dass man wieder spüren kann, dass die Natur bestimmt, was passiert. Drüben auf dem Festland hat alles seinen Beginn um acht Uhr und dann bis fünf Uhr Arbeit und hier verschiebt sich alles durch Ebbe und Flut – jeden Tag – und das ist das, was Neuwerk ausmacht", sagt Werner.
Üblicherweise bewegt man sich auf Neuwerk per Rad oder zu Fuß. Ein geschlossener Ringdeich umfasst die Insel. Die Deichkrone ist als Fußweg befestigt. Von oben kann man das Innere der Insel komplett überblicken. Dreht man sich um, blickt man in die Weite der Landschaft, je nach Tide aufs Meer oder aufs Watt.
Innerhalb führt eine Straße direkt am Deich entlang einmal um die Insel– da fahren nur kleine Pritschenwagen für den Müll und für die Mäh-, Aufräum- und Bauarbeiten im Nationalpark, die Trecker der fünf Betriebe und Fahrräder.
Berühmt sind die Wattwagen: Mit diesen gelb-roten zweispännigen Pferdekutschen werden die Gäste vom Festland geholt. Dann sieht man an Schön-Wetter-Tagen bis zu 60 Wattwagen zeitgleich, alle in Reihe, hintereinander zwischen Neuwerk und Cuxhaven-Sahlenburg fahren. Acht Leute plus Fahrer pro Wagen - es ist ein überwältigender Anblick, hat was von den Trecks der Siedler aus den alten Western, nur hier bei Ebbe durchs Watt.

Der viereckige Leuchtturm ist das Wahrzeichen der Insel

Viele pausieren am viereckigen Leuchtturm, dem Wahrzeichen der Insel, von überall sieht man ihn. Er thront auf dem Turmplatz und ist sogar das älteste Gebäude an der deutschen Küste – aber fast noch wichtiger: er ist der älteste Wehrturm Hamburgs, ja, Neuwerk gehört zu Hamburg-Mitte. Aus Hamburg kommen die Schülerinnen und Schüler der Klasse 8, die mit der Meeresbiologin Imme Flegel gerade ins Watt gehen: "Wir machen uns jetzt auf die Suche nach den small five. Habt ihr ne Idee, wer zu den kleinsten Besuchern des Wattenmeeres gehören könnte? Der Wattwurm gehört dazu – Garnelen? Bingo, die Wattschnecke, die Strandkrabben."
In der Ferne steht der Leuchtturm von Neuwark, es ist auch das Wahrzeichen der Insel.
In der Ferne steht der Leuchtturm von Neuwark, es ist auch das Wahrzeichen der Insel. © Deutschlandradio / Elke Vieth
Und die Herzmuschel, auch sie gehört noch zu den small five des Wattenmeeres – und dann geht’s auf die Suche:
Sven Erik: "Am besten holt man nen Spaten und muss n Loch buddeln und dann müssen wir drin rumwühlen - mit den Händen gucken, ob wir rote Würmer finden - ist auch so n bisschen eklig finde ich."
Dann geht es ganz schnell und alle sind im Buddelfieber.
Gut eine Stunde später, bevor die Priele wieder volllaufen und das Meer kommt, endet die Exkursion, wandern alle zurück auf die Insel, die Jugendlichen zielgerichtet ins Schullandheim am Leuchtturm, das der Hamburger Heinrich-Hertz-Schule gehört. Es kann auch von Vereinen und Jugendgruppen gemietet werden.
Das einzige Ferien-Freizeitheim ist aber das schräg gegenüber liegende Salzgitter-Camp. Besonders zu Pfingsten und in den Sommerferien geht es hier hoch her. Zu Fuß zehn Minuten über den Mittelweg – er führt als Straße mitten über die Insel. Mittelweg und Deichstraße sind die einzigen gepflasterten Straßen auf Neuwerk. Ansonsten gibt es geschotterte Wege zu den Höfen.

Handyempfang - das brauchen die Insulaner nicht

Auf dem Hof der Fischers liegt das Salzgitter-Camp. Da sind bis zu 60 Kinder in Zelten und Hütten untergebracht - immer zu sechst, immer ausgebucht mit sieben bis 14-Jährigen aus der Stadt Salzgitter. Früher war Jennifer Hotop, die angehende Erzieherin, auch eine von ihnen, heute ist die 24-jährige Jugendleiterin.
Sie sieht sich selbst als Kind der Internet-Generation, liebt aber dennoch den schlechten Handyempfang im Salzgitter-Camp: "Jugendliche haben hier die Möglichkeit mal was auszuprobieren, nicht immer von dieser Internetwelt, von dieser mobilen Welt abhängig zu sein. Heutzutage, die Jugendlichen in der Stadt verbringen wirklich ihr halbes Leben lang am Handy und hier haben sie wirklich die Möglichkeit, mal frei davon zu sein."
Und das geht sehr schnell, denn schon während der Anreise auf die Insel wird es schwierig mit dem Handyempfang.
Einfach draußen sein, spielen, die Seele baumeln lassen, selbst der Kicker steht unter freiem Himmel. Die Kinder machen einen ziemlich entspannten Eindruck.
"Also, wenn ich ein zweites Leben hätte, dann würde ich schon gern auf der Insel wiedergeboren werden, weil ich einfach, glaube ich, entspannter bin und anders durchs Leben gehen würde wie jetzt … begleitet die Technik … raubt einem Kraft", sagt Jennifer.
Genau diesen entspannten Eindruck machen die Menschen, denen man auf Neuwerk begegnet. Der Gang über den Deich gehört meist dazu. Von überall sieht man die Deich-Spaziergänger auf der kleinen Insel. Ruhe, Entspannung, und dann – am Ostvorland, also nach Cuxhaven rüber, das: Die Lachmöwen veranstalten dieses Spektakel.
Ausblick auf Neuwerk: Die Landschaft auf Neuwerk ist ideal für Möwen. 
Die Landschaft auf Neuwerk ist ideal für Möwen. © Deutschlandradio / Elke Vieth
Sie brüten in der Zone 1 des Nationalparks, was bedeutet, dass das Ostvorland nur auf den ausgeschilderten Wegen durchwandert werden darf. Kein Problem für Eric Walter, ihm reicht der Blick vom Deich aus. Er macht gerade Tonaufnahmen in diesem Eldorado für Ornithologen und auf Neuwerk sein Bundesfreiwilligenjahr: "Das ist eigentlich momentan ganz normaler Flugbetrieb. Also die fliegen raus aufs Meer, fangen Futter, fliegen zurück, setzen sich wieder auf ihre Eier, auf ihre Nester. Das ist eine Besonderheit in Neuwerk, dass man sehr nah an Zone 1 sein kann. Und das ist ja auch der Grund, warum dieses Haus hinter uns steht, die Meereswoge, die wurde um 1905 gebaut, damals war der Deich noch niedriger und hier eine große Brandseeschwalbenkolonie. Damals als dieses Hotel gebaut wurde war es wirklich so gedacht und möglich, dass die Leute beim Frühstück auf die brütenden Vögel gucken konnten."

Das Schullandheim war mal ein Hotel

Ein Hotel von damals, das heute ein weiteres Schullandheim ist und im Gegensatz zu den anderen auch für Familien offen. Dennoch scheint es, als wäre Neuwerk vor allem für Kinder und Jugendliche wie geschaffen und etwas ganz Besonderes.
Es gibt zwei Möglichkeiten, auf die Insel Neuwerk zu kommen: Bei Hochwasser mit dem Schiff namens MS-Flipper von Cuxhaven aus oder bei Ebbe zehn Kilometer vom Cuxhavener Festland durchs Watt - zu Fuß oder mit dem Wattwagen.
Drei der fünf Höfe auf Neuwerk betreiben das Wattwagen-Geschäft, holen die Touristen vom Festland mit der Pferdekutsche auf die Insel. Dann sind die Koppeln inmitten der Insel recht leer - auch die der Griebels. Sie habe fünf dieser gelb-roten Wattwagen. Volker Griebel ist noch unterwegs, seine Frau Afra kommt gerade mit einem Trabrennpferd zurück in den Stall: "Glenny! Wir machen Reha für gestresste Sportpferde und er ist ein Traber und hat gerade sein Pensum im Watt absolviert und jetzt hat er frei. Die machen Urlaub hier, die Sportpferde, die gehen ins Watt, in die Priele, in die Wellen und wir sind mit denen immer so zwei, zweieinhalb Stunden unterwegs und wenn sie denn Zuhause sind, sind sie kaputt oder haben Hunger. Glenny hat immer Hunger."
Der Stall ist zudem eine Pferde-Pension, denn viele Urlauber bringen ihre eigenen Pferde mit. Und dann stehen hier auch die 18 Wattwagenpferde, wenn sie nicht unterwegs sind.
"Die Wattwagenpferde, die müssen drei Stunden arbeiten. Früher war es viel anstrengender für die, weil wir da ja noch diese Holzräder hatten, die gingen viel tiefer ins Watt, jetzt die Gummibereifung, das ist nicht mehr so anstrengend und das ist alles relativ. Die einen sagen, oh, die armen Pferde, die anderen sagen, so gut möchte ich es auch mal haben, drei Stunden arbeiten und den Rest des Tages frei. Es ist immer so, ein Gespann hat drei Pferde, also das Pferd jeden dritten Tag frei. Früher mussten die nicht nur die Wattwagen ziehen, die gingen auch noch aufs Feld und mussten ackern, genauso auch wie die Traber. Die mussten auch ackern, wenn sie nach Hause kamen in den 50er Jahren. So, komm."
Jetzt kommt für Afra Griebel Zeitdruck auf: schnell umziehen und in die Küche, denn sind erst die Wattwagen da, läuft der Café-Betrieb auf Hochtouren.

Kuchen, Bratkartoffeln und Heringshappen

In der Küche wartet Enkelin Janna Griebel, die beiden haben heute Küchendienst. Die Enkelin hat gerade auf dem Festland im Internat ihr Abitur gemacht. Sie sieht ihre Zukunft ganz klar nicht auf Neuwerk: "Nee, wirklich nicht. Es macht mir Spaß, wenn ich hier mal helfen muss, ne zeitlang, aber das möchte ich mir nicht antun, kann man wirklich so sagen."
Und dann knetet Afra Griebel Kuchenteig, backt schnell drei Rhabarber-Schmand- und zwei Apfelstreußel. Janna Griebel geht ihr dabei zur Hand, dann kommen Bestellungen: Kuchen, Bratkartoffeln, Heringshappen. Sie hilft gern, ist aber mit ihren Gedanken schon in den USA, für ein Jahr als au pair. Danach strebt sie ein duales Studium an: Design, Mode, Fashion. "Ich möchte auf jeden Fall erstmal in ne Großstadt, weg von der Ruhe", sagt Janna. Weg von der Ruhe und der Einsamkeit? Wie einsam war denn die Kindheit auf der Insel? "Einsam waren wir nie, eigentlich war es ganz gut, dadurch dass wir hier die ganzen Wohnwagenleute hatten, eigentlich sind quasi alle meine Freunde zu mir gekommen - über die Ferien und im Sommer. Wir waren zu meiner Zeit ja schon neun Kinder in der Schule. Es war ja verhältnismäßig viel zu dieser Zeit. Die meisten sind schon mit fünf in die Schule gegangen, in die Vorschule. Kaja, meine kleine Schwester, noch früher, mit vier wollte sie schon immer mit in die Schule kommen."
"Ja, alle Kinder waren da und sie alleine Zuhause, ist doch auch doof und sie hat auch gerne gelernt und denn war es so", sagt ihre Oma Afra.
Aber auf Neuwerk gibt es mittlerweile nur eine Grundschule. Bis vor kurzem konnten die Kinder in der Inselschule noch bis zum Haupt-oder Realschulabschluss unterrichtet werden. Doch die Eltern der jetzigen Jugend-Generation wollten ihren Kindern eine bestmögliche Schulausbildung ermöglichen – das Abitur. Das bedeutete Internat auf dem Festland, also mit zehn Jahren die Insel verlassen. Daran und wie es war, Abschied zu nehmen, kann sich Afra Griebel als Oma und als Mutter genau erinnern:
"Dann, mit zehn Jahren aus dem Haus, die kleinen Würmer, das ist nicht witzig. Und das ist auch nicht gut. Das war bei unseren Kindern besser, die waren denn schon 13, 14, wenn sie aus dem Haus gingen. Da haben wir in der Schule Bescheid gesagt, dass die Kinder alleine wohnen und wir bitte rechtzeitig Nachricht haben möchten, falls was schief geht. Unsere Kinder hatten ne kleine Wohnung in Cuxhaven und die hatten dann auch immer ne Möglichkeit nach Hause zu kommen, auch wenn es nur mal mit ne Schiff war, für zwei Stunden, mal eben ein Stück Kuchen, mal eben was zu essen von Mama, ist doch was anderes, und das ging, das ging, besser als Internat."
Für die Enkelkindergeneration, also auch für die jetzt 19-jährige Janna Griebel, stand dann Internat an. Sonst hätte ein Elternteil mit aufs Festland gehen müssen. Undenkbar, denn in den Betrieben auf Neuwerk wird jede Arbeitskraft gebraucht, die Hotels, Pensionen, Hof-Campingplätze, Restaurants und Fuhrbetriebe sind die Existenz der Groß-Familien, das war auch Janna Griebel klar:
"Die erste Zeit im Internat war ziemlich hart, man hatte schon ziemlich viel Heimweh und war immer schon froh, wenn man nach Hause konnte und viele von meinen Freunden sind auch mit hierhergekommen nach Neuwerk, weil viele auch von weiter weg kamen, Rheinland Pfalz, Hessen, Bayern, also das Internat war voll mit Kindern von überall her. Das Internat hat mir nie wirklich gut gefallen, man hat halt irgendwann da seine Freunde gefunden, die da dann eine Familie waren, aber das Internat an sich, ja, ich würde nie wieder zurück gehen und ich glaube ich würde auch nie meine Kinder dahin schicken wollen. Also es war ok, den Umständen entsprechend, war es auch auszuhalten. Eigentlich war man immer froh, wenn man nach Hause konnte."
So ging es auch Jannas Cousin Finn Griebel von nebenan. Auch ihm hat der Wechsel ins Internat zugesetzt: "Das war echt krass, das ist nicht einfach von jetzt auf gleich komplett von der Familie weg zu sein, immer für fünf Tage. Ich weiß noch, das erste Mal als ich da war, habe ich fast geweint, weil ich mit zurück wollte, aber als meine Mutter dann weg war, war ich mit den anderen Jungs unterwegs, habe ich kaum darüber nachgedacht."
Glücklich erzählt der 17-jährige Finn Griebel dann weiter, dass er eine Lehre als Elektriker beginnt und jetzt in Cuxhaven in die Wohnung der Familie zieht. Ob er irgendwann das Hotel seiner Eltern übernehmen wird, ist völlig ungewiss. Für seine Cousine Janna ist dagegen ganz klar: "Ich glaube, ich würde eher Neuwerk so als Urlaubsziel, also, dass man seine Familie besucht und nicht als Heimat, später mit meinen Kindern, bezeichnen, sondern dass man mal in den Ferien herkommt oder am Wochenende – wo es genauso ruhig ist."

Morgens wird mit dem Schiff angereist, nachmittags mit Pferdekutsche

Ein ganz normaler Morgen, erklärt Steffan Griebel. Es ist halb neun, er sitzt noch am Frühstückstisch und plant bei einem letzten Schluck Kaffee den Tag. Gestern hat er bis Mitternacht in der hauseigenen Bar "wolkenlos" bedient, und eigentlich würde sein Arbeitstag nun beginnen - eigentlich: "Also jetzt war heute gerade ne bisschen das Problem, dass aufgrund der Wetterlage das Schiff nicht fahren kann und denn hast du auf Neuwerk viele Gäste die ihre Ab- und Anreisemöglichkeiten umplanen müssen und dadurch hast du an so einem Tag morgens also gleich so ne bisschen Thermik, das ist auch ganz schön, weil es deinen geplanten Tagesablauf zerwirbelt."
Flexibilität in solchen Situationen - ein absolutes Muss. Die Gäste, die heute Morgen eigentlich mit dem Schiff abreisen wollten, müssen nun nachmittags auf die Pferdekutsche, die berühmten Wattwagen, umsteigen. Für die einen vier Stunden gewonnene Urlaubszeit, für die anderen Termindruck.
Der Seniorchef Volker Griebel bleibt bei so etwas mittlerweile gelassen: "Also die Grenzen sind ja, auch wenn man sich mal was vorgenommen hat und weil wir von Ebbe und Flut ja abhängig sind und sage, ich möchte heute Abend, oder ich will nach Hamburg und Ebbe und Flut spielt nicht mit, denn kannst du das canceln, also das sind so Grenzen, da gewöhnst du dich, aber die ersten Jahre, die ich hier war, da habe ich mich fürchterlich darüber geärgert, wenn man was vor hatte und sich drauf gefreut hat ja auch und wenn das denn schief ging, aber mittlerweile, ja, denn ist das so. Gelassenheit tut gut."
Drei Generationen packen auf dem Mittelhof mit an. Volker und Afra Griebel, ihr Sohn Steffan mit seiner Frau und zurzeit auch Enkeltochter Janna : Hotel, Café, Restaurant und eine Bar. Dazu kommen der Reitstall, die Wattwagenfahrten, Campingplatz und Strohhotel. In der Hochsaison übernachten knapp 100 Leute auf dem Hof und alle wollen essen und trinken. Denn dadurch, dass es auf der Insel keinen Supermarkt gibt, ist für die Gäste Selbstverpflegung schwierig: "Ich glaube sowieso, dass Inselurlauber, die an die Nordsee fahren ein spezieller Schlag Menschen sind. Die für sich das mal brauchen aus nen gewissen Trubel mal Abstand zu nehmen, die gerne n bisschen Wind um die Nase hätten und am Wasser sind. Und dann noch mal Neuwerk speziell, weil es hier diesen kommerziellen Einfluss, den man auf den großen Nordseeinseln hat, halt gar nicht gibt."
Die fünf gastronomischen Betriebe stammen aus der bäuerlichen Tradition. Das Miteinander spielt eine tragende Rolle: Die Insulaner duzen sich untereinander, die Stammgäste ebenfalls. Sich gegenseitig helfen, gehört genauso zum guten Ton wie das selbstverständliche Mitanpacken der Kinder. Steffan Griebel musste immer mit seinen Freunden bei der Heuernte helfen, die Ballen in der Scheune stapeln: "Und wir haben uns denn halt in den Heuschober denn gleich Höhlen und Gänge mit eingebaut, damit wir da drinnen spielen konnten und mein Vater ist im Winter denn immer richtig durchgedreht, wenn er die Tiere füttern wollte und dachte, mein Heuboden ist komplett voll, und denn nahm er zwei drei Reihen Heu weg und denn waren da riesige Höhlen hinter, also täuschte der Eindruck manchmal so ne bisschen."
Da gab es natürlich Ärger. Dennoch schwärmt er von seiner Insel-Kindheit, von der großen Freiheit. Seine Augen strahlen, als er vom Rumstreunen auf der Insel erzählt, vom Krabben Rennen lassen am Strand, dem Rumpütschern im Watt: Die Schönwetterseite der Insel.

Die Insel hat auch eine unkalkulierbare Seite

"Es gibt aber auch die andere, die unkalkulierbare Seite, wenn zum Beispiel die Priele zu schnell wieder volllaufen. Diese Priele führen bei Ebbe kein oder nur ganz wenig Wasser, sie ähneln einem Rinnsal, sind oft für das ungeschulte Auge gar nicht zu erkennen. Kommt die Flut, sind sie es, die zuerst volllaufen, dann werden aus Pfützen schnell reißenden Ströme. Schlimmstenfalls versperren diese Priele den Weg ans sichere Festland oder auf die Insel. Bis hin zur Lebensgefahr, wie sich Volker Griebel erinnern kann, als er Anfang der 1980er Jahre mit Kollegen und vier Wattwagen bei Ebbe nach Cuxhaven unterwegs war: "Da war recht viel Wasser, das war aber eigentlich nicht unnormal. Damals waren wir mit Funkgeräten ausgerüstet und uns wurde mitgeteilt, dass eine Kindergruppe mit einem Wattführer noch unterwegs war. So, dann haben wir gesagt, wir können eigentlich nicht umdrehen, aber das war an einem Tag, wo man Lebensmittel und so was hatten. Einen großen Teil davon haben wir dann über Bord geschmissen, weil wir die Kinder alle aufgeladen haben."
Doch die Gefahr war noch nicht gebannt. Das ganze Watt stand schon unter Wasser, die Priele waren zu früh, zu schnell vollgelaufen. Mittendrin die vier Wattwagen, voll beladen mit Jungen und Mädchen.
"Jetzt muss man sich ja vorstellen, wenn Pferde so drei bis vier Kilometer im Schritt - also wir sind an Neuwerk herangekommen, da waren die Pferde Dreiviertel des Bauches im Wasser. Das bedeutet, dass da so 1,10 Meter Wasser an den Pferden war und das Problem, das wir damals gesehen haben war, dass wenn nur ein Pferd mal schlapp macht, denn bleibt dieser ganze Tross stehen. Und wenn du dann erst stehen bleibst, die fangen das nicht wieder an, das ist ganz, ganz schwer. Wir sind dann wirklich mit 1,10 Meter auf die Insel gekommen. … Ist niemand zu Schaden gekommen, es war n mulmiges Gefühl."
Manfred Webel und Imme Flegel beim Eiderenten-Beobachten auf dem Weg nach Scharhörn. 
Manfred Webel und Imme Flegel beim Eiderenten-Beobachten auf dem Weg nach Scharhörn.© Deutschlandradio / Elke Vieth
Respekt vor der Natur zu haben - davon kann jeder Neuwerker berichten. Bis heute gibt es allerdings einen sturmsicheren Ort auf der Insel, den Leuchtturm. Da suchen alle Zuflucht, wenn der Deich bei einem Sturm zu brechen droht. Mit dieser Gefahr ist der heute 63-jährige Volker Griebel aufgewachsen: "Wenn ganz doller Sturm war, dann war das insofern für uns nichts Schlimmes, weil man durfte immer die besten Sachen anziehen, die man hatte. Das machte meine Oma so, da kriegten alle Kinder gute Sachen an und wir durften fast mit den guten Sachen zu Bett gehen, das liegt mir immer im Kopf, sollte der Deich brechen, dass man fertig war."

Neuwerk gibt ein Gefühl von Freiheit

Neuwerk, das ist auch ein Gefühl von Freiheit. Sonnenschein am Morgen, blauer Himmel, Ebbe, es geht nach Scharhörn. Scharhörn ist eine kleine Vogelschutzinsel, auf der von April bis Oktober nur ein Vogelwart lebt – ansonsten: "Betreten verboten" für Menschen – außer mit Anmeldung für eine Stunde in Begleitung der Vogelwarts. Imme Flegel, die Leiterin des Nationalpark-Hauses, freut sich auf diese Tour, bei super Wetter, sieben Kilometer durchs Watt. Manfred Webel, der auch schon mal Vogelwart auf Scharhörn war, kommt mit. "Man kann sich eigentlich nicht verlaufen. Der Weg ist ausgesteckt mit Pricken, aber es kann natürlich mal passieren, dass Seenebel aufkommt, ja da stehen die Pricken eigentlich dicht genug für. Ja, aber man muss natürlich aufpassen und sich informieren, wie die Wetterlage so ist, also, wenn zu viel Wasser rein drückt, dass die Priele vielleicht früher volllaufen auf dem Rückweg. Man muss einfach die Zeit einhalten auf dem Rückweg, man muss einfach die Zeit einhalten auf dem Weg nach Scharhörn, weil man nur über die Niedrigwasserzeit hinweg laufen kann."
Autorin auf Scharhörn mit der Vogelwartin Doro Hagenschulte (l). 
Autorin auf Scharhörn mit der Vogelwartin Doro Hagenschulte (l). © Deutschlandradio / Elke Vieth
Das bedeutet 14 Kilometer in vier Stunden, denn auf der Vogelschutzinsel ist Übernachten nicht erlaubt.
Genuss pur: Der Blick in die Weite – grenzenlose Wattflächen und ein riesiger Himmel, der sich in den Wasserpfützen spiegelt. Beim genaueren Hinschauen gibt es noch mehr zu entdecken: Würmer, Muscheln, Krabben und Schnecken. Von ihnen ernährt sich die Vogelwelt, und diese ist einmalig hier, inmitten des Nationalparks Hamburgisches Wattenmeer.
Verein Jordsand zum Schutz der Seevögel und der Natur betreut diese Landschaft seit 80 Jahren. Das Wattenmeer ist von der UNESCO auch zum Weltnaturerbe ausgezeichnet worden, weil man die Dynamik der Natur so gut beobachten kann. Dieses Fleckchen Erde ist blutjung, Scharhörn erst vor 110 Jahren zur Insel angewachsen. Direkt westlich daneben wurde vor 25 Jahren die etwa gleichgroße Insel Nigehörn aufgeschüttet, als weiteres Refugium für Tier und Pflanzen. "Ich glaube, alle Eiderenten von Nigehörn, die dort gebrütet haben, machen gerade ihren Sonntagsausflug. Die laufen tatsächlich in Kolonne durchs Watt. Sieht ganz putzig aus. Ist wirklich wie ein Familienausflug, das sind immer mehrere Weibchen, die zusammen unterwegs sind, ist wie so ein kleiner Kindergarten."
Die Eiderenten laufen weiter, die Naturschützer machen einen kleinen Bogen, um die Enten nicht zu stören, so ist das im Nationalpark: "Wir greifen ja zu bei der Natur und wir geben der Natur wenig Fläche frei und lassen sie in Ruhe. Wir werden immer mehr Menschen, mit immer mehr Bedürfnissen, alle wollen komfortabel leben und wir nehmen der Natur natürlich Raum weg und nicht nur in der Stadt, auch auf dem Land, auch im Wattenmeer. Und deswegen ist es total wichtig, Freiräume zu haben, in der sich die Natur entwickeln kann, denn ohne Natur würde es uns auch gar nicht geben."

Die Vogelwartin kennt keine Einsamkeit

Ein Jahr hat Imme Flegel auf diese Wanderung verzichten müssen, sie war schwanger und anschließend in Elternzeit. Jetzt kommt sie aus dem Schwärmen nicht mehr heraus. An der Salzwiese von Scharhörn nimmt sie die Vogelwartin Doro Hagenschulte in Empfang. Doro Hagenschulte lebt drei Monate ganz allein hier, mitten im Wattenmeer. Was früher die Vogelwärter-Hütte war, ist heute ein kleiner, spartanisch ausgestatteter Container, bei Sturmflut steht er stabil auf mächtigen Stahlstützen: Fließend Wasser habe ich noch nicht, aber es ist alles niegelnagelneu und sauber. Mein größter Luxus, was mir am besten gefällt, es gibt Fliegengitter an allen Fenstern. Ich muss mir keine Sorgen mehr machen über 1000 von Fliegen in meiner Behausung hier."
Imme Flegel (r) bei einer Wattführung mit Schülern.
Imme Flegel (r) bei einer Wattführung mit Schülern. © Deutschlandradio / Elke Vieth
Das Wasser wird in Kanistern geliefert, immer wenn mal ein Wattwagen mit Besuchern hierher kommt. Der Container verfügt über einen Gasherd, einen Holzofen zum Heizen, WLAN, aber weder über eine Dusche noch über eine Toilette: "Das ist einfach nur ein Loch im Boden, da steht aber ein süßes Häuschen drauf, aber im Prinzip nur ein Loch im Boden."
Es ist eine surreale Situation: Hier der geschützte Raum für die Tier- und Pflanzenwelt, dort die Behausung der Vogelwartin, mitten in einer Möwenkolonie. Und zum Greifen nahe, nur 100 Meter entfernt, fahren riesengroßen Containerschiffe. Sie fahren in Richtung Elbmündung, ihr einziger Weg in den Hamburger Hafen.
Manch einem würde die Einsamkeit zusetzen, nicht aber Doro Hagenschulte. Sie schreibt gerade ihre Masterarbeit und geht nebenher der Frage nach, ob der Naturschutz für sie als angehende Biologin ein passendes Arbeitsfeld sein könnte. Da kommen ihr die Ruhe und die täglich wiederkehrenden Arbeiten ganz recht: "Ich mache die Brutvogelkartierung, schaue, welche Vogelarten hier brüten und wo genau. Trage es auf Karten ein. Und dann mache ich das Müllmonitoring, was am Strand liegt. Sehr viel Plastik aus der Fischerei und sehr viel Plastikflaschen."

Bernsteinsammeln als Hobby und Leidenschaft

Die fünfjährige Greta Flegel sitzt am Küchentisch und sortiert ihre Bernsteine. Sie hat sie selbst gefunden, hier auf Neuwerk, besser gesagt im Watt, in Sichtweite der Insel. Dieses Hobby teilt sie mit ihrem Vater, beide sammeln Bernsteine. Diese bis zu 50 Millionen Jahre alten Baumharz-Stücke sind sehr selten und sehr unscheinbar. Es braucht schon eine besondere Gabe sie zu finden, diese gelben Steine im gelben Sand: "Der Sand ist braun. Und die Steine sind leuchtend gelb."
Alles klar – und da hat Greta Erfahrung. Seitdem ihre kurzen Beine den Weg schaffen, geht sie gemeinsam mit ihrem Vater den weiten Weg durchs Watt bis zur Elbe raus. Dorthin, wo die besten Bernsteine zu finden sind: "Man muss sich das so vorstellen: Die Insel hat einen Steinring rings um als Befestigung. Und wenn man über diesen Steinring hinweg ist, steht man im Sand, also im Wattboden. Und je weiter man von der Insel wegkommt, umso tiefer würde dann das Wasser da stehen. Das heißt, man geht Richtung Elbfahrrinne und da ist der Punkt, dass das Wasser nicht weiter zurückläuft."
Das Wasser zieht sich bei Ebbe bis zur Elbe zurück. Der Meeresboden gibt eine riesengroße Sandfläche frei. Der alte Neuwerker Dorflehrer hat immer gesagt, da liegen die Bernsteine so da, man muss sie nur eben sehen.
An diesem Mittag sieht man zehn Personen, die sehr langsam gehen und total konzentriert auf den Boden schauen. Einer von ihnen ist Bernd Czarnietzki, auf seinem T-Shirt steht "Bernsteintrüffelschwein". Er reist für die Bernsteine extra aus dem Rheinland an: "Wenn die im Wasser liegen, die schweben wirklich, die schweben jetzt, die werden vom Wasser mitgeführt und je nachdem wie der Wind steht, in der Nähe von Prielen sieht man was gelbes oder rotes glänzen, man bückt sich, manchmal greift man auch in ein gelbes Blatt, war es halt ein Fehlgriff, manchmal hat man Glück."
Bernd Czarnietzki kommt seit acht Jahren mindestens einmal im Jahr mit seiner Familie nach Neuwerk. Er braucht das Runterkommen auf der Insel, weder Zeitung noch Nachrichten sind wichtig, beim Bernsteine suchen tankt er Energie fürs ganz Jahr: "Das ist nur Abenteuer und so ein bisschen erinnert mich das an meine Kindheit. Ich habe sehr gern Jack London gelesen, gute Art gehabt zu schreiben, erinnert mich an 'lockendes Gold', wo dann die Abenteurer loszogen, um Gold zu schürfen."
Und er findet täglich "sein" Gold. Kleine Steine und Steinchen. Aber einmal, da lag ein richtig großer für ihn "so da": "Und das war ein hühnereigroßer gelber Bernstein. War mein größter, da habe ich vor Freude geschrien, wie ein kleines Kind."

Ein Naturphänomen, das alle verzaubert

Abend mit Meeresleuchten auf der Insel Neuwerk.
Abend mit Meeresleuchten auf der Insel Neuwerk. © Deutschlandradio / Elke Vieth
Nur noch eins toppt das Bernstein-Finden auf Neuwerk – und das ist das Meeresleuchten, ein sehr seltenes Natur-Phänomen. Es verzaubert Jung und Alt, die sich deshalb extra nachts am Strand treffen. Schwimmen gehen beim Meeresleuchten, das ist magisch, märchenhaft, majestätisch: "Das ist ja auch was so Cooles, das gibst du an deine Kinder weiter. Das heißt, wenn man das Gefühl hat, du kannst mit denen abends, wenn‘s mal richtig dunkel ist im Sommer, ans Meer gehen, dann haben dich die Eltern geschnappt. Dann bist du nachts schwimmen gegangen und das sind so Algen, die sich im Wasser statisch aufladen, über den Tag, durch die Sonne. Und wenn im Wasser dann ‘ne Reibung stattfindet, Wellenschlag, drin badest, dann leuchtet und glitzert das."