Hagia-Sophia-Debatte in der Türkei

Das Morgengebet als Kampfansage

Umkämpft - die Hagia Sophia in Istanbul
Umkämpft - die Hagia Sophia in Istanbul © dpa/ picture alliance / Cem Turkel
Von Luise Sammann · 05.07.2016
Die 1500 Jahre alte Hagia Sophia in Istanbul war erst Kirche, dann Moschee. Die letzten Jahrzehnte jedoch diente das Gotteshaus als Museum – Beten war hier nicht mehr erlaubt. Das könnte sich allerdings bald wieder ändern.
Ein Muezzin mehr oder weniger, das fällt in einer Stadt wie Istanbul eigentlich kaum auf. Von 3000 Moscheen schallen die Gebetsrufe täglich über die 15-Millionen-Metropole. Dieser eine aber glich dennoch einer Sensation.
85 Jahre lang hatte die Hagia Sophia geschwiegen, bevor am vergangenen Samstag zum ersten Mal wieder von ihren Minaretten zum Frühgebet gerufen werden durfte. Von einem historischen Tag schwärmten regierungsnahe Zeitungen im Anschluss. Dass die Umwandlung von einem Museum in ein muslimisches Gotteshaus – nicht nur für Präsident Erdogan eine Herzensangelegenheit – nun nur noch eine Frage der Zeit sein kann, steht seitdem für viele Türken fest.
"Die Hagia Sophia ist eine Moschee und deswegen sollten wir dort selbstverständlich beten dürfen. Wenn Sie sie aber heute betreten wollen, brauchen sie ein Ticket. Man sollte für kein Gotteshaus dieser Welt ein Ticket benötigen!"
… so Ali Ugur Bulut von der religiös-konservativen "Anatolischen Jugendorganisation", die regelmäßig groß inszenierte Massengebete vor der Hagia Sophia organisiert.

15 Millionen Unterschriften für Rückumwandlung

Es war der säkulare, westlich orientierte Republikgründer Atatürk, der das Bauwerk im Jahr 1935 – also gut 500 Jahre nach seiner Eroberung – in ein Museum verwandelt hatte. Gläubige Türken mussten mit dieser Entscheidung genauso leben, wie gläubige Griechen, die die einstige Kathedrale von Konstantinopel nach wie vor als größte Kirche der Christenheit verehren.
25 Türkische Lira – gut 7 Euro – muss heute bezahlen, wer das byzantinische Bauwerk besichtigen möchte. Vor allem westliche Touristen zahlen den Preis gern. In der zu 99 Prozent muslimischen Bevölkerung aber ist das Verständnis dafür, dass im wichtigsten Gotteshaus des Landes nicht gebetet werden darf, gering. Mehr als 15 Millionen Unterschriften, so Ali Ugur Bulut von der Anatolischen Jugendorganisation, habe man in den vergangenen Jahren für die Rückumwandlung in eine Moschee gesammelt.
"Schon unser Prophet sagte: Was für ein wunderbarer Feldherr wird der sein, der Istanbul einnimmt. Und Gott gab diese Ehre dem Eroberer Fatih Sultan Mehmet. Das erste, was der 1453 tat, war, die Hagia Sophia von einer Kirche in eine Moschee zu verwandeln. Ihre Bedeutung geht also direkt zurück auf unseren Propheten. Das macht sie so wichtig für uns."

Selbstverständnis des Landes spiegelt sich wieder

Doch die Diskussion um die Hagia Sophia hat für die Türkei nicht nur religiösen Symbolcharakter sondern auch politischen, meint Gökhan Tan von der Istanbuler Bilgi-Universität. Der Medienwissenschaftler verfolgt die Debatte seit Jahren.
"Für mich spiegelt die Frage, ob die Hagia Sophia weiter ein Museum bleibt oder wieder eine Moschee wird, das ganze Selbstverständnis unseres Landes. Sollte sie wirklich wieder ein Gebetsort werden, dann steht das für einen großen Wandel in der Türkei."
Ein Wandel, den viele säkulare Türken mit wachsender Sorge beobachten. Egal ob Alkoholverbote oder Abtreibungsdebatten, Kopftucherlaubnis oder religiöse Schulreformen... Die konservative Regierung und Präsident Erdogan zeigen regelmäßig, wie sie sich die von Atatürk als säkulare Republik gegründete Türkei im 21. Jahrhundert vorstellen. Ihre wiederholten Wahlerfolge beweisen, dass sie dabei die Mehrheit der Menschen auf ihrer Seite haben.
Das und die Gerüchte von bald anstehenden Neuwahlen in der Türkei dürfte auch bei der Entscheidung eine Rolle gespielt haben, nach 85 Jahren Pause wieder einen Muezzin vom Minarett der Hagia Sophia erklingen zu lassen.
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