György Dragomán: "Löwenchor"

Musik als biografischer Begleiter

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Das Bild zeigt eine Montage aus dem Buchcover von György Dragománs Buch "Löwengebrüll" und einem Hintergrundfoto, dass Notenblätter zeigt.
György Dragománs neues Buch "Löwenchor" © Suhrkamp Berlin/Unsplash/Cassi Stewart/Deutschlandradio
Von Wolfgang Schneider · 18.03.2019
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György Dragomán hat für seinen neuen Erzählband oft eine kindliche Perspektive gewählt. Um Musik und die Historie Rumäniens geht es in den mitunter surrealen Kurzgeschichten. Diese erzählt er virtuos mit kaskadenhaften Satzgebilden.
György Dragomán wurde 1973 als Angehöriger der ungarischen Minderheit im rumänischen Siebenbürgen geboren. Das letzte Jahrzehnt der Ceauşescu-Diktatur prägte seine jungen Jahre. Im grandiosen Roman "Der weiße König" hat er die Schrecken wiedergegeben, die er in der rumänischen Pubertät aufgesogen hat. Der kindliche Blick bestimmt auch in seinem neuen Erzählband "Löwenchor" oft die Perspektive.
Die Unmittelbarkeit des kindlichen Erlebens gibt das Aroma einer Epoche besonders intensiv wieder. Auch das Unheimliche, Traumhafte, Magische bekommt auf diese Weise höhere Plausibilität, etwa in der Episoden-Erzählung "Ohrensessel", die vom Zusammenleben eines kleinen Jungen mit seinen Großeltern handelt. Der alte Mann kann seit einem Unfall nicht mehr laufen. Er sitzt in seinem Ohrensessel, der auf Rollschuhen steht und gelegentlich auch fliegen kann. Der Junge erlebt mit ihm märchenhafte Abenteuer, und gemeinsam wehren sie sich gegen den musikalischen Terror der Großmutter, die mit übermäßiger Lautstärke immer wieder die Videocassette vom Neujahrskonzert abspielt.

Von High-End-Lautsprechern und treulosen Schlagzeugern

Musik als Lebenselixier, Musik als Plage oder Form der Gewaltausübung, Musik als Bindemittel zwischen den Menschen, Musik als biographischer Begleiter und Gefäß der Erinnerung – daraus ergibt sich ein dichtes Motivgeflecht, das die 29 Kurzgeschichten (die Bezeichnung Novellen ist nicht ganz passend) in einen zwanglosen Zusammenhang bringt.
In einer Geschichte hat ein völlig unmusikalischer Mann von seinem Vater die High-End-Lautsprecher geerbt, an denen der Alte bis zur Erschöpfung gebastelt hat, ohne ihre Inbetriebnahme noch zu erleben. Wir lesen von einer Jazz-Sängerin, die in den Schlüsselmomenten ihres Lebens immer wieder denselben Standard singt, das Liebeslamento "Cry me a river", oder von einem Schlagzeuger, der seine Frau mit einer kubanischen Sängerin betrogen hat, worauf sie sein Drumset abfackelt und mit Voodoo seine Trommelschlägel verzaubert. In einer anderen Geschichte reist eine Frau wegen einer Forschungsarbeit in eine fremde Stadt, in der gerade politische Unruhe herrscht. Die Musik ist hier der Gesang der Demonstranten, kontrastiert durch das Getrommel der Polizisten, die zur Einschüchterung mit den Gummiknüppeln auf ihre Schutzschilde schlagen.

Ein Blick in die rumänische Vergangenheit

Einige Geschichten erzählen von den Beschädigungen durch die rumänische Diktatur, etwa von den Tücken der Mangelwirtschaft oder von der Zerstörung einer Familie, weil der Vater im alkoholischen Überschwang die falschen Lieder gesungen hat. Die Bedrängnis vermittelt sich durch den Stil Dragománs: Kaskadenhafte, durchrhythmisierte Satzgebilde, die sich über mehr als eine Seite erstrecken können, eine Suada der Erinnerung und Beschreibung, die nie in Reflexionen abschweift, sondern aus einem dichten Strom konkreter, sinnlicher Eindrücke gefügt ist und oft unversehens ins Surreale übergeht.
Die Übersetzung aus dem Ungarischen von Timea Tankó gibt diese selbst sehr musikalische Sprache hervorragend wieder; nur die eine Geschichte, die von der Schriftstellerin Terézia Mora übersetzt wurde, holpert ein wenig und weist einige verunglückte Formulierungen auf, die man nicht dem Autor anlasten möchte.

György Dragomán: "Löwenchor"
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó und Terézia Mora
Suhrkamp Verlag, 2019, 272 Seiten, 24 Euro

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