Gülen-Bewegung

"Kein harmloses Bildungsnetzwerk"

Moderation: Philipp Gessler · 18.01.2014
In der Türkei tobt ein Machtkampf zwischen der Partei von Ministerpräsident Erdogan und der Gülen-Bewegung, einem Imperium von rund 1000 islamisch geprägten Bildungseinrichtungen. Deren Ziele hält Claudia Dantschke für gefährlich: Die Überzeugungen Gülens und seiner Anhänger seien mit der Demokratie schwer vereinbar.
Philipp Gessler: In der Türkei fliegen derzeit die Fetzen. Das muslimisch geprägte Land wird von einer Korruptionswelle in den höchsten Regierungsämtern erschüttert. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sah sich gezwungen, fast die Hälfte seines Kabinetts zu entlassen. Es tobt ein kaum verhüllter Machtkampf zwischen Erdogans Partei - der AKP - und der islamischen Gülen-Bewegung. Gegründet hat sie der Imam Fethullah Gülen. Der charismatische Mann – ihn hatte einst Papst Johannes Paul II. empfangen – hat im Laufe seines 72-jährigen Lebens ein Imperium von rund 1000 islamisch geprägten Bildungseinrichtungen, oft Nachhilfezentren aufgebaut – weltweit, vor allem aber in der Türkei.
Zu seiner Bewegung gehören wichtige Medien in der Türkei wie etwa die große Zeitung "Zaman", aber auch sein Einfluss im Polizei- und Justiz-Apparat gilt als immens. Lange haben sich die AKP Erdogans und die Gülen-Bewegung, die manche mit einer pietistischen Strömung vergleichen, gegenseitig gestützt. Nun bekämpfen sich der islamische Premier und die islamische Sekte, wie manche sie nennen. Mit der bundesweit hoch angesehenen Islam-Expertin Claudia Dantschke aus Berlin habe ich vor der Sendung über die schillernde Gülen-Bewegung gesprochen. Meine erste Frage an die Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Demokratische Kultur war, ob sie die Gülen-Bewegung für ein harmloses Netzwerk von Bildungseinrichtungen hält – oder für eine gefährliche Sekte.
Claudia Dantschke: Ob sie eine gefährliche Sekte ist, das muss man schauen. Ein harmloses Bildungsnetzwerk ist es nicht. Die Gülen-Bewegung ist eine weltweite, sehr konspirativ arbeitende Bewegung. Sie ist in der Lage, durchaus Gesellschaften zu transformieren, aber nicht die deutsche Gesellschaft. Das ist auch nicht das Ziel. Aber die Gülen-Bewegung kann man nur verstehen, wenn man die Türkei versteht. Sie sind eine türkische Bewegung, eine religiöse Bewegung. Sie nennen sich ja inzwischen auch Hizmet-Bewegung. Hizmet ist ein religiöser Begriff für Dienstleistung. Und sie meinen damit Leistung am Menschen, also religiös basierte Dienstleistungsgemeinschaft.
Der Punkt ist, sie stellen sich hin als jemand, der für die Gesellschaft etwas tut. In Wirklichkeit ist es ein Netzwerk mit partikularen Interessen, und das, was sie tun, tun sie für ihre partikularen Interessen. Und da geht es natürlich um Macht und um Gesellschaftsveränderungen nach ihren Vorstellungen. Die Vorstellungen, das sind die des Inspirators dieses Netzwerkes, die religiösen Vorstellungen von Fethullah Gülen.
Gessler: Nun sind Bewegungen, die religiös sind und auch Macht haben wollen, nicht unbedingt gefährlich. Was macht denn das gefährlich?
Dantschke: Ja, das ist immer Relation. Die Gülen-Bewegung hat nichts mit Gewalt und Terror zu tun, das ist ganz, ganz wichtig. Sie haben ein bestimmtes Gesellschaftsideal, ein Gesellschaftsbild. Und das auf die Türkei projiziert, ist eben ein anderes Gesellschaftsbild als eine weltliche Demokratie. Sondern für sie geht es mindestens darum, die Türkei in eine Gesellschaft zu verwandeln, wo ihre Vorstellung von Religion - also die Interpretation des Islam von Fethullah Gülen - die prägende Norm für Moral, Ethik, Werte der gesamten Gesellschaft sind. Ist es dann noch ein Demokratie, das heißt, wollen die Gülen-Leute über den Aspekt Trennung von Staat und Religion hinaus? Wollen sie also eine Türkei, die quasi von dieser Religion basiert, demokratische Verhaltensnormen akzeptiert, oder bleiben sie bei der Demokratie? Aber ihre Islamvorstellung ist der prägende und bestimmende Konsens für die Gesellschaft. Das ist die offene Frage.
"Sie besetzen natürlich damit auch Machtpositionen"
Gessler: Das heißt, man kann nicht sagen, dass die Gülen-Bewegung unbedingt anti-demokratisch ist oder islamistisch?
Dantschke: Das wäre genau dieser Punkt. Islamistisch wäre sie, wenn sie sagt, wir hebeln die Trennung von Staat und Religion auf. Das heißt, das, was wir als islamische Grundlage sehen, muss quasi die Norm sein für Staat, Gesellschaft, Justiz und so weiter. Aber wir haben halt ein islamisches Gesellschaftsideal mit demokratischem Antlitz. Das heißt, demokratische Verhaltensnormen, Parlamentarismus, eine gewisse Art von Meinungsfreiheit und so weiter. Trotzdem wäre das eine islamistische Form.
Anders wäre es, wenn sie so eine Art theokratische Demokratie wollten. Dann wären sie nicht anti-demokratisch, aber es wäre eine hinkende Demokratie, das heißt: Formal ist es ein demokratischer Staat, wo also Trennung von Staat und Religion ist, aber wir haben quasi so etwas wie eine Art Staatsnorm, die für alle verbindend ist. Das sind so kleine Differenzen, deswegen denke ich mal, ist das so am Rande von antidemokratisch-islamistisch. Sind sie schon antidemokratisch-islamistisch oder nicht?
Gessler: Würden Sie von einer Unterwanderung der türkischen Gesellschaft reden durch die Gülen-Bewegung.
Dantschke: Die Gülen-Bewegung ist angetreten über Bildung, letztendlich, man sagt, so eine Art "Islamisierung in Form von Religiösierung von unten". Das heißt, sie haben ein bestimmtes Gesellschaftsideal, was sie über Erziehung und Bildung transportieren. Dadurch, dass sie Leute ausbilden zu qualifizierten Personen und sie auch auffordern, in Staat und Gesellschaft, in die Machtinstitutionen zu gehen, hat das natürlich von außen diesen Anschein von Unterwanderung.
Sie besetzen natürlich damit auch Machtpositionen, weil sie gehen klassisch davon aus - und da unterscheiden sie sich nicht von anderen islamistischen Bewegungen, die auch nicht in dieser gewalttätigen Form, sondern über Erziehung und Bildung den neuen Menschen erziehen wollen - dieser neue Mensch, der also mit ihren Ideen geprägt ist, besetzt die Schaltstellen der Macht. Und je mehr letztendlich in diesem Machtapparat und in der Gesellschaft diesen Ideen folgen, desto mehr wird sich die Gesellschaft an sich entsprechend diesen Normen ändern.
Gessler: Dass sie Macht haben, sieht man ja im Augenblick in der Türkei. Diese Ermittlungen, die gegen Ministersöhne von der Regierung Erdogan laufen, zeigen ja, dass sie zumindest in Justiz und Polizeiapparaten in der Türkei einen großen Einfluss haben.
Dantschke: Es gab einen – ja, ob das jetzt ein Aussteiger ist – aber er war bei der Polizei, Hanefi Afci, der also als erster aus so einer Art Binnenperspektive ein Buch geschrieben hat, wo er eben genau diese Unterwanderung der Gülen-Leute der Polizei beschrieben hat. Und das ist also letztendlich auch ein wichtiger Punkt. Das Interessante ist, im türkischen Diskurs, im ganzen Gülen-Diskurs, ist das quasi Wissen. Also alle wissen, die Gülen-Leute haben die Polizei unterwandert. Wenn Sie nachfragen, können Sie es beweisen und so weiter, ist das schwierig. Das ist so eine Art von Konsens, das weiß man. Und man weiß auch, dass sie andere Schaltstellen haben im Machtapparat, im Justizapparat.
Jetzt sehen wir, dass Erdogan quasi im Justizapparat aufräumt, im Polizeiapparat aufräumt. Das ist natürlich aus der Fernwahrnehmung wie eine Bestätigung. Eine Bestätigung dessen, dass sie natürlich genau in diesen Bereichen ihre Leute platziert haben. Und man hat lange zusammengearbeitet, und natürlich kann man sagen, dass die AKP und Erdogan und seine Leute ganz genau wissen, wer wer ist.
"Erdogan hat versucht, sie zu disziplinieren"
Gessler: Erstaunlich ist doch, dass offenbar es eine relativ große Nähe zwischen Erdogan, also der AKP in der Türkei, und der Gülen-Bewegung für lange Zeit gab. Warum kam es jetzt zu diesem großen Zerwürfnis?
Dantschke: Man muss sagen, die AKP setzt sich aus verschiedenen Gruppen zusammen. Erdogan war nie Gülen. Das ist ganz wichtig. Das wurde hier immer sehr pauschal formuliert. Die AKP ist von einem wirtschaftsliberalen Teil gegründet worden, denen war Religion relativ egal. Das ist eine große Fraktion in der AKP. Das ist eine rein wirtschaftsliberale, kapitalistische Elite, so eine Art FDP. Die haben sich mit den Religiösen verbündet, und zwar dem Flügel, der sich halt von Milli Görüs abgespalten hat - das ist Erdogan - und gleichzeitig mit diesen Unternehmern mit religiösen Ethik- und Moralvorstellungen der Gülen-Bewegung. Das sind die drei Größen in der AKP. Das waren immer diese drei Blöcke, die bisher am gemeinsamen Interesse zusammengearbeitet haben.
Recep Tayyip Erdogan
Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan© dpa / picture alliance / Sergey Guneev
Erdogan war immer ein Machtmensch. Dem ging es immer darum, sich in Pose zu setzen, seine Macht. Erdogan ist ein Opportunist. Der konnte über ideologische Vorgaben springen, wenn es seiner Macht diente. Und zwar seit Jahren, das ist nicht neu. Die Gülen-Bewegung hat ein klares Ziel. Das heißt, sie hat eine bestimmte Vorstellung, nach der sie arbeitet, und sie ist weltweit, sie ist eine globale Bewegung. Sie hat Geld, sie hat Wirtschaftsmacht, das heißt, sie ist eben nicht dirigierbar, so, wie Erdogan andere dirigieren kann. Und insofern ist sie für Erdogan immer eine unsichere Größe gewesen. Und er hat natürlich versucht, sie zu disziplinieren. Sie lassen sich aber nicht disziplinieren. Sie haben Erdogan unterstützt, wenn sie es wollten, wenn sie es gut fanden, wenn das gemeinsame Ziel da war.
Da die Gülen-Bewegung aber davon ausgeht, die Menschen mitzunehmen in ihrem Gesellschaftsideal, und Erdogan aber letztendlich mit seiner rabiaten Tour eigentlich die Menschen eher verschreckt - zumindest der Teil der Türkei, der nicht auf seiner Linie ist, er verschärft ja die Fronten, er polarisiert extrem - hat sich die Gülen-Bewegung natürlich von ihm abgesetzt immer stärker. Und Erdogan sieht jetzt in dieser unkontrollierbaren Macht eine Gefahr für sich – zu Recht. Und deswegen hat er natürlich versucht jetzt, die Gülen-Bewegung kleinzukriegen durch den Versuch, diese "dershane", also die Nachhilfeinstitute, diese Schulen aufzufordern, reguläre Schulen zu werden, unter Kontrolle zu kriegen. Und das war dann ein offener Bruch, ein offener Machtkampf, und der hat halt zu der jetzigen Entwicklung mit geführt.
"Die Gülen-Bewegung hat nicht die halbe Türkei hinter sich"
Gessler: Kann man denn abschätzen, wer am Ende diesen Machtkampf gewinnen wird?
Dantschke: Es ist sehr, sehr schwierig, weil, es hängt von der wirtschaftlichen Situation ab. Erdogan hat ja nicht 50 Prozent bekommen, weil alle Erdogan so toll finden oder weil sie alle wissen, was er will, sondern Erdogan hat natürlich auch für eine soziale Umverteilung gesorgt. Dass diese Wirtschaft seit Jahren auf Pump ist, dass sie also eine ganz schiefe Leistungsbilanz hat, das heißt: extrem viele Importe, wenig Exporte, ein Kaufrausch auf Kredit. Das heißt, das ist eine Wirtschaftsentwicklung, die steht auf dünnen Füßen. Und jetzt bricht sie auch zusammen. Aber den Leuten ging es erst mal besser. Und die Leute wollen am Reichtum teilhaben. Und da ist dann alles andere zweitrangig, und da kann Erdogan immer noch punkten mit seinen Verschwörungstheorien, das kommt von außen.
Die Gülen-Bewegung ist natürlich mit ihrem Einfluss in der Türkei sehr, sehr stark, aber sie hat nicht die halbe Türkei hinter sich. Und vor dem Hintergrund, wie sich jetzt die wirtschaftliche Situation weiter entwickeln wird, wie also die Menschen letztendlich von der Wirtschaftskrise, die scheinbar jetzt einsetzt – die Währung verfällt und so weiter – persönlich betroffen werden, werden sie Abstand nehmen von Erdogan und dann vielleicht offen sein für andere Gruppen, eventuell für die Gülen oder für die Opposition und so weiter – das ist völllig unkalkulierbar, wie diese Menschen dann sich orientieren werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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