Guatemala

Neuer Präsident, altes Leid

Vermisste im Bürgerkrieg - im Nationalen Polizeiarchiv.
Vermisste im Bürgerkrieg - im Historischen Polizeiarchiv. © Deutschlandradio / Isabella Kolar
Von Isabella Kolar · 16.12.2015
Guatemala hat mit Jimmy Morales seit Ende Oktober einen neuen Präsidenten, aber die Wahrscheinlichkeit, dass das Land unter diesem Mann des Militärs Fortschritte bei der Aufarbeitung seiner blutigen Bürgerkriegszeit macht, ist gering.
"Herzlich willkommen hier in Zacualpa. Ihr betretet hier praktisch heiliges Land, denn es ist hier viel Blut geflossen. Viele Menschen haben hier ihr Leben verloren, Frauen, Kinder und auch ungeborene Kinder."

Juliana Garcia Gutierrez, eine kleine Maya-Frau mit buntbestickter Bluse und einem freundlichen runden Gesicht, steht im Hof des Franziskaner-Klosters in der Kleinstadt Zacualpa, 210 Kilometer nordwestlich von Guatemala-Stadt. Julianas Lippen umspielt ein Lächeln, das gut zu den Marimba-Klängen aus der Ferne passt, aber nicht zu dem, was sie erlebt hat: Erstaunlich, dass sie überhaupt noch lächeln kann angesichts der Geschichten von Mord, Vergewaltigung und Folter, die sie uns jetzt erzählen wird. Geschichten, die an Grausamkeit das übertreffen, was Menschen sich vorstellen können.

"Wo wir hier gerade stehen im Moment war die Militärbasis. In dieser Pfarrei gab es 115 Morde. Sie gingen in die Berge, sie wollten uns Indigene alle umbringen. Die Frauen organisierten sich danach und wir haben erreicht, dass die Toten exhumiert wurden."


Trotz der Angst waren diese Frauen sehr mutig, fügt sie – die Angehörige verloren, aber selbst überlebt hat – leise hinzu. Ihr Blick huscht wie abwesend über die Anwesenden.

"Als alle ins Licht gingen, da erstand wieder mein Volk", steht über der großflächigen Wandmalerei auf dem Haus hinter ihr, wo schreiende Totenköpfe von gesichtslosen Militärhelmen bedrängt werden. Juliana hält mit beiden Händen einen kleinen Korb prall gefüllt mit einem Strauß bunter Kerzen für das Maya-Ritual vor sich: Sie zündet die schwarze Kerze an.

"Hier ist der Ort, an den die Männer kamen, die sich vor der Folter retten konnten. Einer von ihnen hat bezeugt, dass er auf allen Vieren gekrochen ist, um um Essen zu bitten. Und die Militärs fragten ihn, was er denn wolle, ob er essen wolle. Und er sagte: Ja! Und dann haben sie die Krumen von ihrem Essen zusammen mit seinem Urin, das er in ein Glas abgeben mußte, vermischt und das mußte er dann trinken. Das ist ein Teil der Folter, die die Menschen hier erlebt haben."

626 Massaker, 45.000 Verschwundene und 1,5 Millionen Flüchtlinge

Der Bürgerkrieg in Guatemala von 1960 bis 1996 gilt mit rund 200.000 Toten als einer der längsten und blutigsten auf dem ganzen Kontinent. Am 30. Januar 1981 kamen die Militärs in das auf 2.000 Metern Höhe gelegene Zacualpa und damit in das im Norden an Mexiko grenzende Departamento Quiche , der von der Militärdiktatur am härtesten betroffenen Region Guatemalas. Und sie blieben drei Jahre lang. Erst warfen sie Bomben, dann kam der Terror über die Dörfer.

Hier befehligte General Rios Montt zwischen 1982 und -83 seine "Politik der verbrannten Erde": Massaker an der Zivilbevölkerung wurden verübt, hunderte Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, zehntausende Menschen getötet, gefoltert oder sie "verschwanden". Die Bilanz: 626 Massaker, 45.000 Verschwundene und 1,5 Millionen Flüchtlinge. Die Mehrheit der Opfer waren Angehörige des indigenen Volkes der Maya, die in den Augen der Militärs Verbündete der Guerilla waren.

Aber auch die Katholiken im Pfarrhaus wurden umgebracht und ab 1982 auch Priester. Ihr Vergehen: Sie besaßen eine Bibel. Das Militär, das in Zacualpa folterte, kam aus anderen Landesteilen. Es waren auch Indigene darunter, die unter Zwang rekrutiert wurden, aber die Leitung hatten die Ladinos, die Weißen. Wissenschaftler nennen das, was damals passierte, heute Völkermord, ein Genozid und ein Ethnozid.

"Einige waren ohne Arme, ohne Beine, aber sie starben nicht danach. Sie wurden von da bis hier festgebunden, da sind die Haken, an denen sie festgebunden wurden und noch ein Seil hängt da. Und als die Soldaten sahen, dass sie müde waren, haben sie sie umgedreht und an den Füßen aufgehängt. Die Menschen stützen sich mit ihren Händen an der Mauer ab und schrien vor Schmerzen. Man erkennt an der Mauer noch die Abdrücke."

"Guatemala - Nunca Mas" – "Niemals wieder" steht in großen schwarzen Buchstaben über dieser sogenannten Märtyrerkapelle oder Kapelle der Folter. Ein winziger Raum – an der Wand hängt der gekreuzigte Jesus, einen roten Schal um den Hals, der linke Arm ist ans Kreuz genagelt, der rechte fehlt. Am Boden eine Kuhle für das viele Blut. Fotos der Ermordeten, Holzkreuze mit ihren Namen an der Wand. Auch Frauen wurden gefoltert:

"Und eine Frau erzählte, dass ihrer Mutter die Geschlechtsteile mit elektrischen Geräten verbrannt wurden. Danach wurde sie wiederholt vergewaltigt: Sie hat es geschafft zu entkommen, aber danach ist sie gestorben."

Wir zünden unsere weißen Kerzen an, die für die Weisheit der Vorfahren und der Verstorbenen stehen, und legen sie in eine große Kuhle in dem mit einer Fülle von Pinienzweigen bedeckten Boden der Kapelle. Diese Zweige symbolisieren in der Maya-Kultur die Verbundenheit mit der Natur und der Mutter Erde. Die kleinen Flammen Dutzender Kerzen vereinigen sich in der Tiefe und bilden ein großes Feuer.

"Ihr habt heute in der Kirche die Marimba gesehen, hier hört ihr sie. Die Marimba war Zeuge vieler Überfälle und Übergriffe, aber die Alten haben sie gerettet. Und sie haben gesagt, man wolle uns töten. Aber die Traurigkeit darf uns nicht umbringen, denn wir müssen weiter leben. Wir sind sehr müde, aber wir müssen die Marimba erklingen lassen, um unser Herz zu erfreuen."
Nur einen Steinwurf vom Pfarrhaus in Zacualpa entfernt liegt ein anderer Ort der Folter der 80er Jahre: die an diesem Sonntagmorgen gut gefüllte und mit weißen Tüchern geschmückte San Franziskus Kirche, in der Chor und Marimba die Predigt von Monseñor Julio Cabrera begleiten. "Tröstet mein Volk" ist das Leitmotiv dieses Bischofs mit den freundlichen, leuchtend-hellblauen Augen, der am 6. Januar 1987 von Papst Johannes Paul II. ernannt wurde und 15 Jahre im Verwaltungsbezirk Quiche gearbeitet hat. Wenn der charismatische Mann hier über den Markt geht, erkennen ihn viele Menschen immer noch, liegt man sich in den Armen. Er hat jeden Winkel seiner ehemaligen Diözese persönlich bereist.

"Die Region Quiche war damals ein Kampfplatz, überall war Krieg. Und die Menschen hatten sehr große Angst. Und natürlich sind viele Katecheten ums Leben gekommen, weil sie ihrem Glauben treu geblieben sind. Als ich von Papst Johannes Paul dem Zweiten zum Bischof geweiht wurde, war das eine Geste – so glaube ich – um mich zu motivieren, meine Mission in diesem Departamento aufzunehmen."

Die Guerilla hatte sich nicht ohne Grund hier niedergelassen, sagt Monseñor Cabrera, der jeden Satz, jedes Wort mit lebhaften Gesten untermalt.

"Die Guerilla sucht sich gezielt hohe Bergregionen aus. Und sie sucht Völker aus, deren Sprache in der Regel nicht verstanden wird, wie hier bei den Itschil. Eine weitere Strategie der Kriegsführung ist es, in eine Grenzregion mit einem Nachbarland zu gehen. Auf das Quiché treffen diese drei Punkte zu. Als das Militär hierher kam und gesehen hat, dass das Volk gut organisiert und charakterstark ist, hat es angenommen, dass die Guerilla dahinter steckt."

Systematische Gewaltakte gegen die Maya-Bevölkerung

Sein Vorgänger in dieser Diözese, Monseñor Juan Gerardi , war später, ab 1996, Vorsitzender der guatemaltekischen sogenannten Wahrheitskommission, die am 24. April 1998 ihren detaillierten Bericht vorlegte. Darin sind die Aussagen tausender Zeugen und Opfer des Bürgerkrieges aufgezeichnet. Das Fazit: es handelte sich um systematische Gewaltakte, die sich primär gegen die Maya-Bevölkerung des Landes richteten. Verübt wurden sie in 80 Prozent der Fälle von der Armee und paramilitärischen Gruppen. Zwei Tage nach der Veröffentlichung des Berichts wurde Bischof Gerardi brutal ermordet.
"Dieses Team bekommt die Dokumente von dort, wo sie sortiert werden. Was man sehr gut sehen kann, dass die Kopie perfekt ist, man kann sie perfekt lesen."

"Die Kopie ist perfekt, man kann sie perfekt lesen".... Gelassen und freundlich lächelt der weißhaarige Alberto Fuentes seine Besucher in dem flachen eierschalenfarbenen Gebäude in der Zone 6 im Norden von Guatemala-Stadt an. Nein bedroht fühlt er sich überhaupt nicht, obwohl das Wühlen in der Vergangenheit buchstäblich sein tägliches Geschäft ist. Die Wahrheitskommission sei eine wichtige Voraussetzung für die Arbeit hier gewesen, sagt der 64-jährige. Stolz schaut er auf die junge Guatemaltekin vor ihm, die, ausgerüstet mit Plastikhaube auf dem langen schwarzen Haar, mit Mundschutz sowie Plastikhandschuhen ein vergilbtes Blatt Papier in ein Digitalisierungsgerät gelegt hat. Der Ex-Kommunist Fuentes ist Mitglied der Kommission des "Archivo Historico de la Policia Nacional", AHPN, des Historischen Polizeiarchivs von Guatemala. Ein Archiv mit 80 Millionen Dokumenten – hinter jedem Dokument, hinter jedem Foto steht das persönliche Schicksal eines Verschwundenen und Ermordeten. Die frühere guatemaltekische Regierung hatte lange versucht, diese Zeugnisse und Beweisstücke der Vergangenheit zu verstecken. Durch einen Zufall wurden sie vor zehn Jahren inmitten einer Müllhalde entdeckt. Mittlerweile arbeiten hier 100 Mitarbeiter an der Rettung und Registrierung der Zeugnisse der Vergangenheit, die den Zeitraum von 1881 bis 1997 umfassen:
Fuentes:

"Als Erstes müssen wir herausfinden, zu welcher Polizeieinheit jedes Dokument gehört. Der zweite Schritt ist die Wiederherstellung der Dokumente, die in einem sehr schlechten und verwahrlosten Zustand sind. Und dann machen wir weiter mit dem Ordnen der Papiere für das Archiv und der nächste Schritt ist dann die Digitalisierung."

Internationale Fachleute leisteten zu Beginn Hilfestellung beim Archivieren und internationale Gelder halten das Archiv bis heute am Leben. In den ersten neun Jahren lagen die Ausgaben bei einer Million Dollar pro Jahr. Obwohl sich das Archiv mehrfach darum bemühte, gibt der guatemaltekische Staat kein Geld, stattdessen Länder wie Schweden oder Holland. Fuentes glaubt nicht, dass das unter dem gerade neugewählten Präsidenten Jimmy Morales besser werden wird.
"Ich glaube, dass Jimmy Morales das Militär im Rücken hat, auch die alten Generäle unter denen es viele gibt, die für den Genozid verantwortlich sind. Aus meiner Sicht ist das eine komplizierte Situation nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für diesen ganzen Prozess der Aufarbeitung."

"Manchmal ist die Regierung das größte Hindernis"

Im Januar 2009 wurde das Archiv für das Publikum geöffnet. Und bis zu diesem September kamen 14.700 Besucher und durchforsteten die langen, schmalen Gänge mit den Dutzenden Regalen und Kartons. Unter ihnen waren 22 Prozent direkte Familienangehörige von Verschwundenen und Opfern des Bürgerkrieges. Fuentes sieht sein Archiv als Instrument, um Gerechtigkeit zu erlangen. Zwölf Hintermänner wurden aufgrund der Recherchen hier überführt und verurteilt, aber die Hauptverantwortlichen waren nicht dabei. Er wisse, dass das nicht viel sei, sagt der Mann, dessen Bruder 1982 für immer verschwand. Sein Dauerlächeln gefriert in seinem weißen Vollbart, als er sagt:

"Diese Prozesse sind sehr schwierig, weil sich die guatemaltekische Regierung nicht engagiert wenn es um Vergangenheitsaufarbeitung, Wahrheit und Gerechtigkeit geht. Manchmal ist die Regierung sogar das größte Hindernis auf dem Weg zur Aufarbeitung. Mir ist klar, dass das ein schwerer Vorwurf ist, aber der guatemaltekische Staat befördert die Straflosigkeit."

Doch Straflosigkeit heute hat auch in Guatemala ihre Grenzen wie die Entwicklung in diesem Jahr zeigt. Sitzt doch der Ex-Präsident des Landes Otto Perez Molina hinter Gittern und wartet – gemeinsam mit Vizepräsidentin Baldetti – auf einen Korruptionsprozess. Das ist dem guatemaltekischen Volk zu verdanken, das seit April protestierend auf die Straße ging und der sogenannten "CICIG" , der "Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala", eine Art internationale Staatsanwaltschaft, eine weltweit einmalige Institution, eingesetzt von den Vereinten Nationen. Ihre Aufgabe ist seit 2008 die Stärkung der guatemaltekischen Strafverfolgungsbehörden. Und sie ist dabei auf gutem Weg, findet Matthias Sonn, seit zwei Jahren deutscher Botschafter in Guatemala:

"Es gibt immer noch politische Kräfte, die der Meinung sind, es habe in Guatemala keine Kriegsverbrechen gegeben. Es gibt auf der anderen Seite politische Kräfte, die der Meinung sind, die Kriegsverbrechen seien es, um die sich auch heute noch das gesamte politische Leben in Guatemala herumgruppieren müsse. Guatemala hat hier schon bedeutende Dinge geleistet: Es hat zum Beispiel die erste Verurteilung eines früheren Staatsoberhauptes wegen Völkermords und Kriegsverbrechen durch ein Gericht ihres eigenen Landes gegeben."

Der Ex-General und Ex-Präsident Guatemalas, der heute 89-jährige Jose Efrain Rios Montt, von dem hier die Rede ist, wurde am 10. Mai 2013 wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 80 Jahren Gefängnis verurteilt. Etwa die Hälfte der von Militärs und Paramilitärs während des Bürgerkrieges verübten Massaker fiel – so das Ergebnis der Wahrheitskommission unter Bischof Gerardi - in die Herrschaftszeit Montts von 1982 bis -83. Das Urteil gegen ihn wurde am 20. Mai 2013 vom Verfassungsgericht Guatemalas wegen angeblicher juristischer Verfahrensfehler aufgehoben und eine neue mündliche Verhandlung angeordnet.
Michael Mörth, deutscher Menschenrechtsanwalt, der seit mehr als 20 Jahren in Guatemala lebt, war Nebenkläger in diesem Prozess und betrachtet ihn heute mit viel Wut im Bauch:

"Dieses Urteil wurde ja völlig rechtswidrig, völlig rechtsbeugend annulliert. Ich persönlich habe ganz klar noch ein Lebensziel, dass diese drei Richter auch im Gefängnis landen werden. Die haben Rechtsbeugung begangen, die haben gelogen und betrogen. Sie haben den Prozess annulliert mit der Begründung eines Anwaltshandelns, was nie stattfand und es werden ja hier sämtliche Verhandlungen alle aufgenommen, gespeichert. So dass man das wunderbar nachweisen kann. Des-wegen haben wir im Augenblick eine Anzeige laufen, in der wir wollen, dass der Interamerikanische Gerichtshof die Aufhebung dieses Verfassungsgerichtsurteils erklärt, womit dann wieder das ursprüngliche Gerichtsurteil in Kraft treten würde."
Aber das kann dauern, sagt Mörth. Lange dauern. Fast 20 Jahre liegt das Ende des Bürgerkriegs jetzt zurück. Und Guatemala wartet bis heute auf die angemessene Aufarbeitung seiner blutigen Vergangenheit.

Die Recherche für die Reise nach Guatemala wurde unterstützt von Adveniat, dem Lateinamerika-Hilfswerk der Katholiken in Deutschland.
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