Grund zur Entspannung? - Deutsche Zustände

Von Andreas Zick · 31.12.2012
Im Januar will die Bundesregierung ihren Armutsbericht veröffentlichen. Er ist umstritten, weil die Vorlage des Sozialministeriums vom Wirtschaftsministerium korrigiert worden war. Für den Konfliktforscher Andreas Zick ist es beunruhigend, dass hierzulande Menschen nach den Gesetzen des Marktes bewertet werden..
Der deutsche Zustand ist beunruhigend. Sicherlich scheint er entspannt aus dem Blickwinkel jener, denen es relativ gut geht, aber mit einem Blick auf die sozialen Verhältnisse trifft das Adjektiv.

Seit vielen Jahren ermitteln wir den deutschen Zustand anhand der Antworten auf die Frage: Wie geht die Gesellschaft mit schwachen Gruppen um, und wie ist es um die im Grundgesetz verbürgte Gleichwertigkeit bestellt? Bestimmt diese Frage die Zustandsqualität, dann ist Entspanntheit eher Suggestion.

Der Zustand der Gesellschaft ist zuvorderst mit Blick auf die Lebenslage von Menschen beunruhigend. Das resultiert nicht nur aus der Beobachtung, dass der Spalt zwischen den Armen, der Mitte und den Reichen weiter auseinanderklafft und neue Armutswellen vor der Tür stehen.

Der Zustand ist beunruhigend, weil viele Menschen davon betroffen sind, dass die Gesetze des Marktes die Gleichwertigkeit bestimmen und nicht umgekehrt. Du bist, was Du leistest. Auch Integration, Bildung, Erziehung, Solidarität und selbst die Demokratie werden nach Leistung und Kompetenz benotet.

Das muss beunruhigen, denn viele Menschen können der nach Standards und Erfolgen drängenden Leistungsgesellschaft nicht Schritt halten. Mehr noch: Immer stärker werden Gruppen, die Solidarität brauchen, der Inkompetenz verdächtigt. Menschen mit Migrationshintergrund wissen, was ich meine. Der Tunnelblick auf ihre Defizite ist eingeübt, selbst wenn das der Evidenz des Integrationsbarometers für Deutschland widerspricht.

Verunsicherungen und Gefühle des Kontrollverlustes haben für all jene Folgen, die vermeintlich unter die Standards fallen und nicht mithalten können. Viele Bürger haben auch deshalb massiv Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Demokratie verloren. Dem Wutbürger scheint die Puste auszugehen, aber der Zornbürger spült weiter ungebremst den Argwohn gegen demokratische Institutionen und Verfahren in die Blogs.

Es wundert kaum, wenn rechtspopulistische Gruppen dort lokale Landgewinne machen, wo über Jahre hinweg demokratische Strukturen vernachlässigt wurden.

Vielleicht war auch deshalb das Bekanntwerden des Rechtsterrorismus schockierend. Es hat die Frage nach der Bemessung der Gleichwertigkeit von Gruppen eindringlich aufgeworfen.

Die Gewalt, die bekannt wird, schockiert aber auch, weil sie in allen Schichten der Gesellschaft ignoriert oder heruntergespielt wurde. Wir haben in zahlreichen Studien festgestellt, wie weit die Menschenfeindlichkeit in die Gesellschaft vorgerückt ist.

Die Aufarbeitung des Rechtsterrorismus und das Gedenken an die Opfer sind wichtige Schritte. Aber machen wir uns nichts vor: Wir haben keinen gesellschaftlichen Mechanismus etabliert, der Gedenken in Umdenken münden lässt. Wir sind auf schnelle Lösungen getrimmt. Auch hier gilt das Leistungsprinzip. Kurze Projekte bis zum nächsten Störfall, statt eine solide, wenn auch riskante Erprobung langfristiger Strategien.

Während Willy Brandt noch appellierte, mehr Demokratie zu wagen, müssen wir wohl in Zukunft mehr Demokratie machen. Ausgrenzung und Abwertung anderer schützt nicht davor, Opfer zu werden.

Konfliktforscher wie ich sind immer beunruhigt. Auch die Kanzlerin war es in diesem Jahr. Sie hat einen Dialog über die Zukunft Deutschlands geführt. Sie war beunruhigt über die Entspanntheit der Bürger. Umso wichtiger waren die Zukunftsvorschläge der Wissenschaftler. Opferschutz und eine kontinuierliche Beobachtung des demokratischen Zustandes sind dort auch gefordert und Instrumente werden benannt.

Die Zukunft Deutschlands ist keine Kanzlersache. Die Vorschläge stehen bereit. Ein simpler Download wird nicht reichen.

Andreas Zick ist Professor für Sozialisation und Konfliktforschung und Mitglied des renommierten Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Er forscht als Sozialpsychologe seit den 1980er Jahren zu Vorurteilen und Konflikten zwischen Gruppen sowie der Frage, wie Menschen sich an veränderte gesellschaftliche Zustände anpassen.

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