Große Koalitionen

"Ein Mischmasch von Wünschen und Ideen"

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kommt mit Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD, l) und dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer am 14.04.2016 im Kanzleramt in Berlin zu einer Pressekonferenz, um über die Ergebnisse des Koalitionsgipfels aus der Nacht zu informieren.
Große Koalitionen können im Prinzip zwar große Probleme lösen, in der Praxis kommt dabei nicht immer viel heraus, kritisiert der Politologe Stefan Marschall. © picture alliance / dpa - Rainer Jensen
Stefan Marschall im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 05.09.2017
Große Koalitionen lösen beim Bürger oft das Gefühl aus, dass alle sich in der Mitte träfen und Politik alternativlos werde, sagt der Politikwissenschaftler Stefan Marschall. Doch Dreierkoalitionen seien auch keine Wunschkonstellationen.
Liane von Billerbeck: Heute findet im Deutschen Bundestag die letzte reguläre Debatte in dieser Wahlperiode statt. Drei Stunden sind dafür eingeplant, denn das Thema lautet zur Situation in Deutschland, und man wird da vermutlich erleben, dass sich auch die regierende große Koalition aus CDU, CSU und SPD ein wenig voneinander distanziert – es ist Wahlkampf schließlich. Die Wählerinnen hatten letztlich dafür gestimmt, dass es dazu gekommen ist zu dieser großen Koalition, und das bekanntlich auch nicht zum ersten Mal, aber ein Ergebnis der GroKo ist, dass die radikalen Ränder durch solche Koalitionen gestärkt werden – wurden und werden muss man sagen. Das sagt zumindest Professor Stefan Marschall, der sich als Politikwissenschaftler an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit dem politischen System Deutschlands befasst und der unter anderem den Wahl-O-Mat mit entwickelt hat. Schönen guten Morgen!
Stefan Marschall: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
Billerbeck: Die große Koalition – warum sollte es sie, Ihrer Meinung nach, nur im Ausnahmefall geben?
Marschall: Weil die große Koalition etwas ist, was für die Demokratie nicht optimal ist, und zwar deswegen, weil die Bürger den Eindruck haben oder bekommen, dass es keine Alternativen gibt, sondern dass es einfach nur ein Programm gibt, eine Möglichkeit, alle treffen sich in der Mitte und dass Politik alternativlos wird.

Das Profil der Parteien verwischt

Billerbeck: Nun sagt man ja gerne, große Koalitionen können große Probleme lösen. Wie war denn das diesmal in der zu Ende gehenden Wahlperiode?
Marschall: Ich glaube, das stimmt, wenn man sich beispielsweise anschaut, dass jetzt die Finanzbeziehung zwischen Bund und Ländern verändert worden sind. Das hätte man nur in der großen Koalition machen können, denn dafür braucht man eine verfassungsändernde Mehrheit, also zwei Drittel. Da hätte es sowieso eine große Koalition geben müssen, aber wenn es dann auf konkrete Politikfelder geht, da ist es dann doch eher ein Mischmasch von Wünschen, von Ideen, die aus verschiedenen Lagern kommen und die das Profil der großen Koalition dann verwischen.
Billerbeck: Nun erleben wir ja, dass wir eine eher schwache Opposition haben im Bundestag. Bei einer großen Koalition haben die wenig Chancen. Wie gefährlich ist denn so eine Situation für unsere Demokratie?
Marschall: Die Opposition im Parlament ist ganz, ganz wichtig, denn sie hat die Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren, sie hat die Aufgabe, Alternativen zu formulieren und darzustellen, und wenn die Opposition, wie in diesem Fall, nur 20 Prozent der Mandate hat, dann ist es eine sehr, sehr schwache Opposition, die auch eingegrenzt ist und beschränkt ist, was ihre Kontrollmöglichkeiten angeht. So hatte die Opposition in dieser Legislaturperiode nur begrenzt Möglichkeiten, bestimmte Rechte des Parlamentes zu fordern, und das ist schlecht für die Demokratie, denn dann fällt die parlamentarische Kontrolle weg, und die ist ganz, ganz wichtig für das demokratische Gemeinwesen.

Eine Dreierkoalition ist keine Wunschkoalition

Billerbeck: Das heißt, auch eine große Koalition sollte dafür sorgen, dass die Opposition viele Rechte bekommt?
Marschall: Ja, das sollte sie und das hat sie in diesem Fall übrigens auch. Einige Rechte, die die Opposition nicht hätten haben dürfen, weil sie so klein war, hat sie trotzdem bekommen. Das wurde der Opposition zu Beginn der Legislaturperiode dann gewährt. Da gab es Änderungen in der Geschäftsordnung. Insofern ist dem Rechnung getragen worden, aber auch generell: Es fehlt einfach die große Alternative im Parlament, die sich dann darstellt und die sagt, okay, bei der nächsten Wahl können wir auch die Regierung stellen.
Billerbeck: Stichwort Alternativen: Auf Landesebene sind sie ja bisher sehr selten, weil oft instabil. Im Bund gab es sie noch nie. Ich meine die berühmten Dreierkonstellationen. Sehen Sie dafür diesmal eine Chance bei der Bundestagswahl oder nach der Bundestagswahl am 24. September?
Marschall: Na ja, gut, also eine Dreierkonstellation ist sicherlich keine Wunschkonstellation, denn die macht das Leben nochmals schwieriger. Nebenbei haben wir ja faktisch jetzt schon eine Dreierkonstellation, weil CDU und CSU ja auch schon zwei Parteien sind, mit der SPD zusammen drei, aber es ist natürlich richtig: Es wäre noch mal eine ganz besondere Konstellation, die lagerübergreifend wäre, wenn jetzt die Grünen, FDP, CDU oder wie auch immer zusammenarbeiten würden. Das macht die Sache noch schwieriger. Es ist leichter und es ist natürlich immer für den Regierungschef, die Regierungschefin einfacher, wenn man eine Koalition hat, die einigermaßen zusammensteht, homogen ist, wie man sagt, und das passiert dann eher, wenn das im Lager ist. Eine Dreierkoalition geht oft über das eigene Lager hinaus.

Parteien verlieren an Konturen

Billerbeck: Aber so eine Situation, sich wechselnde Mehrheiten zu suchen, die ist ja vielleicht gar nicht mal die schlechteste oder ist das in Deutschland schlicht ein mentales Problem, dass man so eine Situation eher nicht für wünschenswert hält?
Marschall: Nein, es ist sicherlich nicht schlecht, wenn man Mehrheiten sucht, mal auch wechselnde Mehrheiten sucht. Das Problem dabei ist, dass die Parteien an Konturen verlieren, dass unklar ist, wofür die Parteien dann noch stehen, wie sie sich unterscheiden, wenn sie in verschiedenen Kombinationen eingebunden sind in Regierungskonstellationen. Ich denke, das sieht man sehr gut auch bei der Grünen-Partei, die, da sie in Baden-Württemberg eine andere Rolle spielt als auf Bundesebene, plötzlich ihre Konturen und ihr Profil in einigen Hinsichten verliert, beispielsweise was die Umweltpolitik angeht – Stichwort Diesel –, aber auch was die Asyl- und Flüchtlingspolitik betrifft.
Billerbeck: Seit Jahren – wir wissen das – sinkt ja die Bindung der Menschen an die traditionellen Parteien. Liegt das an denen oder ist unsere Gesellschaft schlicht vielschichtiger geworden und lässt sich eben nicht mehr in so klassische Schemata pressen?
Marschall: Was in den letzten Jahrzehnten passiert ist, ist dass sich die sozialen Milieus, wie man sagt, aufgelöst haben, und früher war es halt so, dass man, wenn man einem sozialen Milieu angehörte, man auch eine bestimmte Parteineigung hatte. Arbeiter haben dann SPD gewählt beispielsweise. Dadurch, dass diese Milieus sich auflösen, ist es so, dass die Parteibindung sich auch mit auflöst, und, man kann sagen: die Wählerinnen und Wähler insgesamt wählerischer geworden sind.

Der Wahl-O-Mat erhöht die Wahlbeteiligung

Billerbeck: Sie sind ja der wissenschaftliche Kopf – ich habe es am Anfang gesagt – hinter dem Wahl-O-Mat und beobachten genau, welche Fragen dort gestellt werden. Gab es denn dort auch eine Entwicklung?
Marschall: Na ja, gut, über die Jahre hinweg kann man beobachten, dass sich die Fragen geändert haben. Themen sind abgeräumt worden. Wir haben früher nach der Wehrpflicht gefragt. Beispielsweise wir haben früher nach der Atomenergie gefragt. Das sind Themen, die sich erledigt haben. Nebenbei auch die Ehe für alle wäre sicherlich ein Reizthema gewesen, was Parteien in der Mitte getrennt hätte. Auch das ist weggefallen. Insofern sind einige Themen dann doch … haben sich erledigt. Andere sind hinzugekommen, neue Themen. Auch gerade im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise sind neue Themen dann aufgenommen worden. Von daher sieht man einen thematischen Wandel. Man sieht übrigens auch, dass die großen Parteien CDU und SPD in vielen Hinsichten sich gar nicht so groß unterscheiden.
Billerbeck: Immer mehr Wähler – das hört man doch auch immer wieder – machen ihre Entscheidung auch vom Wahl-O-Mat-Ergebnis abhängig, weil sie einfach gar nicht genau wissen, wen sie wählen sollen. Fast die Hälfte hat sich noch nicht entschieden, hat eine Umfrage gesagt. Wächst damit auch die Verantwortung für das, was da beim Wahl-O-Mat rauskommt?
Marschall: Ja, unsere Erfahrung ist, dass die Wählerinnen und Wähler den Wahl-O-Mat natürlich nutzen, weil sie etwas wissen wollen, aber dass sie ihre Entscheidung nicht davon abhängig machen. Die meisten Wähler, die den Wahl-O-Mat nutzen, nutzen diesen, um zu schauen, inwieweit ihre Position der Position entspricht von der Partei, die sie sowieso unterstützen wollen oder der sie nahestehen, und der Wahl-O-Mat spuckt ein Ergebnis aus, was bei 90 Prozent der Betroffenen, der das Tool spielt, auch ungefähr ihre Parteipräferenz widerspielgelt. Also insofern gehen wir davon aus, dass die Effekte gering sind, die Wirkungen gering sind auf die Wahlentscheidung, aber nicht auf die Wahlbeteiligung. Wir sehen, dass Menschen, die den Wahl-O-Mat spielen, stärker motiviert werden, sich mit Politik auseinanderzusetzen, sie sind danach interessierter, und die Wahrscheinlichkeit wächst auch, dass sie zur Wahl gehen.
Billerbeck: Der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Stefan Marschall war das über die Krux der großen Koalition und die möglichen Alternativen und die Rolle des Wahl-O-Mats. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Marschall: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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