Große Koalition

Flüchtlingskompromiss mit Fragezeichen

Bundeskanzlerin Angela Merkel, CSU-Chef Horst Seehofer und SPD-Chef Sigmar Gabriel stehen bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin hinter Rednerpulten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel, CSU-Chef Horst Seehofer und SPD-Chef Sigmar Gabriel verkünden bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin den Kompromiss zur Asylpolitik. © picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Von Klaus Remme · 06.11.2015
Die Regierungsfraktionen haben sich auf einen Kompromiss zur Flüchtlingspolitik geeinigt. Doch wie dieser umgesetzt werden soll, sei völlig unklar, kritisiert Klaus Remme. In jedem Fall müsse deutlicher gesprochen werden, beispielsweise was die Zahl der erwarteten Flüchtlinge betrifft.
"Die Koalition ist sich einig", – so beginnt das Papier zu den Ergebnissen des Gipfelgesprächs zwischen Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel. Mal schauen, wie lange dieser Konsens hält, denn auf den dann folgenden acht Seiten findet sich kaum etwas, dass die noch immer wachsende Zahl von Flüchtlingen substantiell und kurzfristig sinken lassen könnte.
Müssen CDU, CSU und SPD schon allein dafür gelobt werden, dass sie nicht länger aufeinander einschlagen? Denn das immerhin ist gelungen und vor allem Merkel kann es als Erfolg verbuchen. Zunächst hat sie die Konfliktlinie am vergangenen Sonntag von einem unionsinternen Verlauf hin zur Auseinandersetzung mit der SPD verschoben. Und nach der Einigung gestern Abend verläuft diese Linie wieder da, wo sie aus Sicht der Kanzlerin hingehört und wo sie für Merkel ungefährlich ist: Zwischen Regierungskoalition einerseits und Opposition andererseits.
Umsetzung ist momentan völlig unklar
Doch ob diese Große Koalition wieder handlungsfähig geworden ist, dahinter steht nach wie vor ein dickes Fragezeichen. Merkel, Seehofer und Gabriel halten sich über Wasser und vielleicht kann man angesichts der beispiellosen Herausforderung nicht mehr erwarten. Unter der Lupe sind die gestrigen Vereinbarungen mager. Horst Seehofer wird den Verzicht auf Transitzonen verkraften, als Provokation hat der Begriff subjektiv Dienste geleistet. Konkret konnten selbst die Christsozialen nicht erklären, wie man diese Zonen hätte umsetzen können.
Kernstück der Vereinbarung ist ein schnelleres Verfahren für Asylbewerber ohne Bleibeperspektive. Wie die Bundesregierung ihre Absicht, ein solches Verfahren in Gänze binnen drei Wochen abschließen will, ist momentan völlig unklar. Die Voraussetzungen dafür sind zurzeit sicher nicht gegeben. Die beabsichtigte Aussetzung des Familiennachzugs wird kaum zur Lösung der Probleme beitragen. Sie bezieht sich auf einen verschwindend geringen Personenkreis, im vergangenen Monat auf 0,6 Prozent der Asylbewerber. Vollends nebulös wird das Papier, wenn es um den Schutz der EU-Außengrenzen geht, die Aussagen dazu schwanken irgendwo zwischen Ankündigungen, Erwartungen und Hoffnungen.
Es muss deutlicher gesprochen werden
Dass die Türkei eine Schüsselrolle spielt, wenn es darum geht, die Zahl der Flüchtlinge Richtung EU einzuschränken, ist offensichtlich. Ob Verhandlungen mit einem vor Kraft strotzenden Erdogan erfolgreich sein werden und wie hoch der Preis für türkisches Wohlwollen in dieser Frage ist, bleibt abzuwarten. Es ist nicht zu erkennen, warum die Zahl derer, die tagtäglich mit Bleibeperspektive nach Deutschland kommen, im nächsten Jahr spürbar sinken sollte. Will man im Wochenrhythmus weitere vermeintlich sichere Herkunftsstaaten definieren? Es muss deutlicher gesprochen werden und könnte damit beginnen, dass das Bundesinnenministerium die Erwartung von 800.000 Flüchtlingen für dieses Jahr endlich anpasst. Jeder weiß, dass es mehr sein werden. Die Dinge beim Namen nennen, auch das gehört zur Handlungsfähigkeit.
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