Großartiger Auftakt

Von Holger Hettinger · 10.08.2011
Mit der Oper "Flavius Bertaridus, König der Langobarden" von Georg Philipp Telemann sind die Innsbrucker Festwochen der Alten Musik gestartet. Jens-Daniel Herzog stilisiert darin den Machtkampf zweier Herrscher zu einer Konfrontation von Herrschaftstypen und Persönlichkeitsmustern.
Wundersames Innsbruck: Da machten sich beim Verlassen des Tiroler Landestheaters eine Gruppe von Opernfreunden phonstark Luft über die "Regietheater-Zumutungen", die sie ertragen mussten bei der Premiere von Georg Philipp Telemanns "Flavius Bertaridus, König der Langobarden" bei den Innsbrucker Festwochen für Alte Musik.

Eigenartig nur: der Ansatz von Regisseur Jens-Daniel Herzog hatte mit Regietheater herzlich wenig tun – denn das, was dem zukünftigen Dortmunder Intendanten Herzog zu "Flavius" einfiel, war eben kein Telemann-Schlachtfest, keine Opern-Dekonstruktion. Sondern eine hochsensible, präzise, material- und kenntnisreiche Durchdringung eines Stoffes, der höchste Anforderungen an eine plausible und werkgerechte Regie stellt.

Denn Telemanns Oper ist in erster Linie ein Produkt des Barock – was bedeutet, dass man mit dem Opernverständnis der Neuzeit nicht allzu weit kommt. Die DNA barocker Opern besteht aus "Affecten" – einem reich verzweigten Repertoirekatalog von musikalischen Figuren, die beim Zuhörer allerlei Empfindungen auslösen sollen. Kategorien wie Rollenentwicklung und Handlungsentwicklung kommen in der barocken Opernwelt nicht vor. Umso überzeugender, wie Herzog auf Grundlage der "Affecte" ein fein gezeichnetes Geflecht aus Beziehungen, Charakteren und Handlungsmustern entwickelte.

Herzog stilisiert den Machtkampf zweier Herrscher zu einer Konfrontation von Herrschaftstypen und Persönlichkeitsmustern: auf der einen Seite der dionysische Lustmensch Grimoaldus, ein Bunga-Bunga-Tyrann voller Selbstgerechtigkeit und Brutalität. Auf der anderen Seite: Flavius Bertaridus, der Bruder des weggeputschten Langobarden-Herrschers und Hoffnungsträger des Volkes im Exil. Dieses Spannungsverhältnis reichert Telemann mit zahlreichen (Haupt-) Figuren an: Rodelinda, die Frau des Flavius’s, die von Grimoaldus gefangen gehalten wird – Flavia, die Schwester von Flavius, die mit Grimoaldus (zwangs-) verheiratet ist und die sich abarbeitet an ihrem inneren Konflikt zwischen Loyalität zu ihrem Mann und der Treue zu ihrem Bruder. Orontes, Oberbefehlshaber des Grimoaldus-Regimes, der zärtliche Gefühle für die Frau des Tyrannen hegt.

Jens-Daniel Herzog bewahrt die Vieldeutigkeit der Figuren und ihrer Beziehungen untereinander, findet griffige Bilder für innere Konflikte und übergeordnete Handlungsmuster – eine Art riesige Familienaufstellung.

Das Bühnenbild unterstützt diese Vieldeutigkeit. Mathis Neidhardt schuf Variationen einer heruntergerockten Palast-Architektur, unten marmorierte grüne Kassetten, oben gelblicher Putz, und daraus werden unzählige Räume modelliert, die mal groß sind und mal klein, mal verwinkelt und mal flächig, die für Enge stehen, für Weite und Verlorenheit, für fahle Hoffnungslosigkeit, für pralle Verschwendungssucht – das funktioniert nicht zuletzt dank einer wundervollen Lichtregie von Stefan Bollinger extrem intensiv.

Musikalisch war "Flavius" die pure Glückseligkeit. Alessandro de Marchi, künstlerischer Leiter der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik, steuerte einen pulsierenden, spannungsgeladenen und zur tänzerischen Bewegtheit neigenden Musikfluss, reicherte die Partitur um zahlreiche Bläser-Stützen an und inszenierte eine subtile Klang-Rede. Besonders gelungen: die sehr geschmackvollen Verzierungen. Das Orchester der Academia Montis Regalis schuf ein duftiges, schwebendes Klangbild, das allenfalls in den Tutti-Partien etwas mollig wirkt.

Dadurch, dass Alessandro de Marchi kaum Striche in der Partitur vornahm, kam dieser "Flavius" auf eine Spieldauer von prallen viereinhalb Stunden – das war mitunter anstrengend, denn Telemanns Partitur ist nicht frei von Redundanzen: anders als etwa Schuberts "himmlische Längen", die durchaus proportionierenden Sinn haben, wirkt Telemanns Ausdehnung einfach nur lang. Wie gut, dass Jans-Daniel Herzog intelligent und augenzwinkernd gegenhält und mit charmanten Regieeinfällen die Zeitendehnung verhindert.

Die Gesangssolisten waren bis in die Nebenrollen hinein großartig besetzt. Nina Bernsteiner als Rodelinda lieferte eine herausragende Leistung, weil sie eine extrem diszipliniert geführte, in der Höhe grandios blühende Stimme hat, andererseits aber auch das darstellerische Rüstzeug mitbringt, um diese Figur der Gattin verständlich werden zu lassen, die zehn Jahre lang vor ihrem Ehemann weggesperrt ist, inhaftiert ist von dessen Gegenspieler.

Maite Beaumont in der Hosenrolle des Flavius war eine Klasse für sich, die halsbrecherischen Koloraturen saßen derart souverän, das perlte und glitzerte, dass es nur so eine Freude war. Ann-Beth Solvang waltete souverän über ihren schier unerschöpflichen Vorrat von Farben und Abtönungen. Antonio Abete sang den Grimoaldus mit wohldosiertem Powerplay und gebührendem Ingrimm. Weitere Glanzlichter setzen Jürgen Sacher als beredt deklamierender Orontes und David DQ Lee, der als Onulfus hochwillkommene komödiantische Akzente setzte. Ein großartiger Auftakt der "Sternstunden" des hochambitionierten Innsbrucker Festivals!

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Georg Philipp Telemanns "Flavius Bertaridus" in einer Neuinszenierung von Jens-Daniel Herzog und Alessandro De Marchi in Innsbruck (DLF)

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