Grenzreise durch Griechenland

1000 Kilometer zu den Vergessenen

23:42 Minuten
Die meisten Häuser in Teriachi wurden von ihren Besitzern verlassen.
Die meisten Häuser in Teriachi wurden von ihren Besitzern verlassen. © Panajotis Gavrilis
Von Panajotis Gavrilis · 07.03.2018
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Kein Arzt, kein Supermarkt - viele abgelegene griechische Grenzregionen drohen auszusterben. Die verbliebenen Bewohner fühlen sich vom Staat allein gelassen. In dieser Randlage lebt auch eine muslimische Minderheit, die seit 1923 eingeschränkt die Scharia praktiziert.
In den Bergen, zwischen Griechenland und Albanien liegt ein kleines, malerisches Dorf mit 32 Steinhäusern namens Teriachi.
"Einen schönen guten Tag und herzlich Willkommen im kleinen Dorf Teriachi. Ich freue mich sehr, dass Sie hier sind."
Nikos Galitsis begrüßt mich. Hier schaut selten jemand vorbei. Umso mehr freut er sich über den Besuch, sagt er. Der Vizebürgermeister der Gemeinde "Pogoni" lebt alleine mit seinen zwei Hunden. Seine einzige Nachbarin ist eine 90-jährige Frau, die zurückgezogen lebt.
"Leider gibt es hier nur alte Menschen, keine Jugend. Ich sehe andere Regionen, die werden vom Staat nicht so im Stich gelassen. Wir wurden hier einfach vergessen. Dabei leben hier alte Menschen und haben Probleme. Dennoch: Sie lassen ihre Dörfer nicht im Stich. Die Politik muss etwas tun! Was? Das wichtigste ist die Sicherheit. Wir leben an der Grenze und fühlen uns nicht sicher."
Am Tor zu seinem Haus hängt eine blaue Sirene, am Stromzähler blinkt ein rote Fahrradlampe. Selbstgebastelte Alarmanlagen-Attrappen – um potenzielle Einbrecher abzuschrecken.
"Hier ist eine Eisentür, dahinten auch. Es ist wie im Gefängnis. Ich schlafe in dem kleinen Bett, nicht im Schlafzimmer. Da sind, wie Sie sehen, Einbrecher übers Dach reingekommen. Sie haben die Decke kaputt gemacht und sind durch den Wandschrank ins Haus gelangt. Sie kommen in letzter Zeit häufig über die Ziegeldächer. Aber ich weiß nicht, wer es war. Wir sollten auch vorsichtig sein, bevor wir sagen: ‚Es waren die Albaner oder die Griechen’. Wenn ich abends nach Hause fahre bin ich sehr angespannt, bis ich wieder wegfahre."
In Teriachi an der griechisch-albanischen Grenze leben nur noch zwei Menschen.
In Teriachi an der griechisch-albanischen Grenze leben nur noch zwei Menschen.© Panajotis Gavrilis

Viele Häuser stehen seit Jahren leer

Es gibt eine kleine Ikone über dem Bett von dem Heiligen Nikolaus und daneben eine Patrone für das Jagdgewehr.
"Du weißt nicht, wie du dich verhalten wirst. Ob du abdrückst oder nicht. Es kommt auf deine Verfassung an, auf deine Angst. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Vielleicht werde ich das Gewehr nie brauchen. Um so eine Waffe zu benutzen, musst du ja auch abgeklärt sein – ich bin das aber nicht. Die Angst bringt mich dazu, es neben mir zu haben. Dadurch fühle ich mich sicherer, glaube ich. Ich rede es mir zumindest ein."
Hier in der Epirus-Region verläuft die 300 Kilometer lange griechisch-albanische Grenze meist über Berge, durch Wälder und ohne Zaun. Wer sich auskennt, kann ohne Probleme unbemerkt ein- und ausreisen. Es gibt zu wenige Polizisten, kritisiert der 65-Jährige:
"Früher gab es mal 200 Polizisten. Heute sind es nur halb so viele. Wer soll dieses große Gebiet bewachen? Was sollen die Polizisten heute denn noch leisten? Ohne Wärmebildkameras gibt es keinen ausreichenden Schutz. Es kommen auch verbotene Drogen über die Grenze, aber das interessiert uns nicht. Das ist Sache der Polizei. Wir wollen einfach in Ruhe leben, was nicht der Fall ist."
Das Dorf: ausgestorben. Die Häuser: seit Jahren leer. Die Eigentümer: ausgewandert. Banken schließen, Behörden werden zusammengelegt. Immerhin gab es die letzten Monate keine Einbrüche in der Gegend.
Aber zu wissen, dass niemand hier lebt, mit dem du reden kannst, kein Nachbar da ist, den du nach Salz fragen kannst oder der dir bei einer Autopanne helfen könnte – das sei das schlimmste Gefühl.

Kein Nachbar zum Reden

Wenigstens gibt es seit vergangenem Jahr Internet. Das ist für Nikos Galitsis die beste Waffe. Gegen die Einsamkeit.
"Zum Glück haben wir Internet. Die Gemeinde hat sich dafür eingesetzt. Das Internet leistet mir Gesellschaft. Ich surfe rum, die Zeit vergeht und ich informiere mich über bestimmte Dinge für meine Tätigkeit. Die Gemeinde hat sogar fast überall Internetleitungen gelegt. Fast 50 der insgesamt 64 Gemeinde-Dörfer haben Internet."
Nikos Galitsis verließ als Kind Teriachi, lebte viele Jahre in Athen und kehrte vor elf Jahren zurück. Ohne seinen Job als Vizebürgermeister hätte er diesen Schritt nie gewagt. Was ist, wenn seine einzige Nachbarin stirbt?
"Ich werde mein Dorf nie verlassen. So lange ich lebe, bleibe ich hier. Zur Not auch ganz alleine. Ich hatte es ja selbst nie gedacht, wieder hier zu wohnen. Aber meine Wahl zum Vizebürgermeister hat dazu beigetragen. Mir macht es Spaß den Menschen zu helfen und mir gefällt die kommunale Selbstverwaltung. Ich werde nie von hier weggehen. Solange ich kann, will ich helfen: der Gemeinde, der Region und meinen Mitmenschen."
Ohne Auto wäre Nikos Galitsis aufgeschmissen. Fast täglich fährt er die umliegenden Nachbardörfer ab, erkundigt sich nach dem Wohlergehen der Bewohner. Nur ein paar Kilometer weiter liegt Zavrocho. 13 Menschen leben hier noch. Sieben Frauen und sechs Männer. Fast schon eine Hauptstadt, scherzt er.
Einmal in der Woche kommt der mobile Supermarkt vorbei.
Einmal in der Woche kommt der mobile Supermarkt vorbei.© Panajotis Gavrilis

Jeden Samstag kommt der mobile Supermarkt

Nikos Galitsis parkt sein Auto zwischen dem einzigen Café von Zavrocho und der Arztpraxis. Früher kam hier jede Woche ein Arzt vorbei, zum Gesundheitscheck. Jetzt wird nur alle 15 Tage Blutdruck gemessen.
"Hier gibt es so ein kleines Häuschen, das heißt: Fünf bis zehn Quadratmeter, würde ich sagen, groß. Eine Heizung sehe ich und da steht noch: 8 Uhr bis 15 Uhr 30, das ist aber alt. Da ist nur ein Tisch drin, ein Apothekenschrank und ein kleines Bett – mehr nicht. Und das ist hier eine Arztpraxis."
Mitten auf der einzigen Haupt- und Durchfahrtsstraße des Dorfes hält der Manavis – der Gemüsehändler mit seinem kleinen Transporter. Efthimia Bouzari erledigt hier ihren Wocheneinkauf. Der mobile Supermarkt parkt direkt vor ihrer Haustür.
"Es ist schön, sehr gut! Was wir sonst tun würden? Ein Taxi nehmen zum nächsten Markt. Wir haben auch ein Auto, aber mein Mann kann nicht mehr fahren, er ist alt geworden."
Jeden Samstag kommt der Händler vorbei und verkauft alles. Joghurt kauft sie ein, Bananen, Mandarinen, Zwiebeln, Birnen, alles. Und Brot gibt’s auch noch.
In Zavrocho betreibt Efthimia Bouzari seit 36 Jahren das einzige Café. Früher noch gemeinsam mit ihrem Mann, doch der kann nicht mehr richtig laufen. Deswegen macht sie so viel sie kann alleine. Sie lebt von 450 Euro Rente im Monat. Bescheiden sagt sie: "Es geht immer weiter!"
Efthimia Bouzari schält Kartoffeln für das Mittagessen.
Efthimia Bouzari schält Kartoffeln für das Mittagessen.© Panajotis Gavrilis

Vier Kilometer zu Fuß zum nächsten Cafe

"Ich mache ab morgens für ein paar Stunden auf, abends nicht. Es kommt ja auch kaum jemand. Und meine Beine machen das nicht mehr mit. Aber wenn wir nur rumsitzen, rostet alles noch mehr ein."
Sie wirft neues Holz in den Kaminofen, bringt mit Gehstock ihren vier Gästen Salzkartoffeln mit Paprikapulver zum Tisch. Begleit-Snack zum selbstgebrannten Tsipouro-Schnaps. Um 12 Uhr mittags. Alltag.
"Ich bin arbeitslos. Ich komme vom übernächsten Dorf zu Fuß hierher. Vier Kilometer. Hier finde ich immer jemanden zum Quatschen."
Fotis ist Stammgast. Er diskutiert mit dem Vizebürgermeister über Probleme und vergebene Chancen der Region. Sie streiten über Politik, die aktuelle Krise, philosophieren über das Leben und natürlich – über die Liebe. Vieles davon verarbeitet der 55-Jährige in seinen eigenen Liedern.
"Es geht um die Situation, wenn jemand in einer Bar kommt ..."
Bei diesem handelt der Text von jemandem, der ein Lokal besucht, sich in die Kellnerin oder den Kellner unglücklich verliebt. Und dann realisieren muss, dass jeglicher Versuch der Annäherung umsonst war. Er singt "Echasa ton chrono mou mazi sou" – das heißt so viel wie: Ich habe meine Zeit für dich verschwendet.
Fotis kommt vom benachbarten Dorf regelmäßig zu Fuß.
Fotis kommt vom benachbarten Dorf regelmäßig zu Fuß.© Panajotis Gavrilis

Von der Flüchtlingszeltstadt in Idomeni sind nur noch Reste da

Das Ziel ist Idomeni, was 2016 ja weltweit bekannt wurde als Flüchtlingslager direkt an der Grenze. Hier links abbiegen. "Borderland Station Evzoni" 0,7 Kilometer, da ist auch schon die Grenze zu sehen, aber wie biegen vorher links ab, 700 Meter und fahren nach Idomeni. Zu meiner rechten Seite sieht man Felder. Es ist wunderschön, die Sonne scheint und man sieht so drum herum die verschneiten Bergspitzen.
"Wir befinden uns an der Stelle, wo wir vor knapp eineinhalb Jahren etwa 15.000 bis 16.000 Flüchtlinge und Migranten zu Gast hatten. Das ist die nächste Stelle an der Grenze zu Skopje. Es gibt mittlerweile nichts außer dem Stacheldrahtzaun, der damals von den Skopjanern errichtet wurde, als sie die Grenze dicht gemacht haben. Die Menschen konnten nicht mehr rüber, um ihren Traum von Europa zu erfüllen."
Skopjaner – so nennen Griechen ihre Nachbarn. Xanthoula Soupli ist Gemeindevorsitzende von Idomeni. Sie steht direkt vor dem Grenzgraben. Auf der anderen Seite weht eine große gelb-rote Sonnen-Flagge der "ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien", Grenzpolizei läuft am Zaun entlang. Auf griechischer Seite patrouilliert in Frontex-Mission ein VW-Bus der deutschen Bundespolizei. Xanthoula Soupli zeigt vor ihre Füße auf einen Müllhaufen: Plastikplanen, Holzpaletten und verrostete Stangen: Reste der einstigen Flüchtlingszeltstadt.
"Es war eine beispiellose Situation für uns. Wir haben die Menschen von Anfang an herzlich empfangen und respektiert, aber nach einiger Zeit gab es viele Probleme für die Bewohner und letztendlich haben wir die Räumung gefordert."
Von 2015 bis zur Räumung des Camps im Mai 2016 war hier ein chaotischer, ein lebendiger Ort. Idomeni heute wirkt so, als wäre nichts gewesen, als hätte es das Flüchtlings-Idomeni nie gegeben.
Was übrig geblieben ist von Idomeni dem Flüchtlingscamp: dieser Container, der wahrscheinlich früher ein Container vom UNHCR war. Alte Dosen, die hier rumliegen, ein paar zerrissene Schlafsäcke und Decken. Ich weiß nicht, ob hier noch irgendjemand lebt. Isomatten liegen hier noch rum, aber sieht alles ziemlich verlassen aus und trostlos.
"Das Leben ist heute wieder so wie früher. Die Männer beschäftigen sich mit der Landwirtschaft, die Frauen mit dem Haushalt. Im Winter, wo es nicht so viel Arbeit gibt, drehen alle ihre Runden, trinken Kaffee, diskutieren und gehen wieder nach Hause. Das ist der Alltag der Bewohner hier in Idomeni."
Von Flüchtlingslager Idomeni sind nur Müllreste geblieben.
Von Flüchtlingslager Idomeni sind nur Müllreste geblieben.© Panajotis Gavrilis

"Da hinten endet Griechenland"

Idomeni ist gut angebunden: Mit dem Auto ist man in 20 Minuten in der nächsten Stadt, Thessaloniki liegt über die Autobahn nur eine Stunde entfernt. Der kalte Wind peitscht mit 70 Kilometern die Stunde über die weiten, leeren Felder und über die Hausdächer des 120-Seelen-Dorfes. Draußen ist niemand zu sehen.
In der einzigen Taverna Idomenis sitzt Thanassis. Der 17-Jähige hält das Restaurant für zwei Gäste am Laufen, während seine Eltern Mittagspause machen. Ist es nicht komisch so nah an der Grenze zu leben und jeden Tag auf den Zaun schauen zu müssen?
"Ich habe mich daran gewöhnt. Es ist nicht mehr so komisch. Nur manchmal sehe ich die Grenze und denke: Da hinten endet Griechenland. Das ist schon komisch. Aber ich habe mich daran gewöhnt."
Thanassis schickt Messenger-Nachrichten an seine Freunde. So vertreibt er sich die Zeit.
"Es ist sehr schwierig. Gerade, wenn ich nicht einfach woanders hinfahren kann. Ich habe nur während der Schule Kontakt mit meinen Freunden und hier mit meinem Handy. Es gibt hier kein Leben. Ich bin alleine. Ok, dann machst du mal eine Spazierfahrt, noch einmal, zehnmal. Das langweilt dich dann auch irgendwann. Es ist jeden Tag das Gleiche."
Manchmal bringt er Essen ins Polizeirevier, erzählt er.
"Wenn sie jemanden beim Grenzübertritt schnappen, rufen sie uns an und sagen: ‚Wir haben so und so viele Leute, bringt uns so und so viel Essen.‘ Wir bringen ihnen: Pommes, Omelette, Eier, Spaghetti – eigentlich alles. Einmal waren es 50 Leute, wir sind immer hin und her gefahren, hin und her."
Nach der Schule will er so schnell es geht weg. Weiterziehen, auch über die Grenze, so wie die Geflüchteten.
"Du musst anfangen, dein Leben selbst zu gestalten. Du kannst nicht ein Leben lang mit deinen Eltern leben und ihnen auf der Tasche liegen. Ich überlege Elektriker zu werden und ich will eine gute Arbeit finden, um mein eigenes Geld zu verdienen. Wenn das nicht klappt, dann werde ich gezwungenermaßen hier bleiben."
Muslime während ihres Mittagsgebets in der  Alten Moschee in Komotini
Muslime während ihres Mittagsgebets in der Alten Moschee in Komotini© Panajotis Gavrilis

In West-Thrakien gilt die Scharia

Knapp 800 Kilometer sind zurückgelegt. Nach Idomeni geht es nun in den Nordosten, nach West-Thrakien. Hier leben noch etwa 100.000 Muslime, darunter auch Roma und Pomaken. Sie durften nach dem Ende des griechisch-türkischen Krieges 1922 in Griechenland bleiben. Andere, etwa 400.000 Muslime verloren damals ihr Zuhause und mussten im Austausch gegen mehr als eine Million Christen aus der Türkei dorthin umsiedeln.
Minarette und Moscheen prägen in Thrakien die Landschaft. Das Autoradio empfängt immer mehr türkischsprachige Radiosender, viele Frauen tragen Kopftuch, in manchen Dörfern wird nur Türkisch gesprochen. In sogenannten "Minderheiten-Schulen" werden Kinder auf Griechisch und Türkisch unterrichtet, zudem besuchen sie regelmäßig Koranschulen. Und: Seit 1923 gilt in West-Thrakien eingeschränkt die Scharia. Einzigartig in der EU. Das heißt: Für Familien- und Erbschaftsrecht sind hier in der Regel muslimische Geistliche zuständig.
"Mein Onkel hat gesagt: Das Scharia-Gesetz wird das Erbe regeln. Das war als meine Großeltern gestorben sind. Aber wie regelt das die Scharia? 2/3 für den Mann, 1/3 für die Frau. Und meine Mutter hat gesagt: Wir leben in Griechenland, ich will keine Scharia, wir sind ja nicht in einem arabischen Land. Sie konnten sich nicht einigen und sind vor Gericht gezogen. Wir haben viel Geld für Anwälte bezahlt. Am Ende hat meine Mutter Recht bekommen und hat die Hälfte bekommen."
Das ist Hüseyin. Er gehört zur muslimischen Minderheit der Region. Gemeinsam mit der Sozialarbeiterin Olga, einer Christin, fährt er im Van, dem mobilen Klassenzimmer, in abgelegene "Minderheiten-Dörfer". Dort bringen sie Kindern Griechisch bei, denn viele sprechen nur Türkisch. Der Zugang zu Bildung wurde jahrelang erschwert, auch weil der Staat sich jahrzehntelang nicht für die Belange der Minderheit interessierte.
Die Scharia? Für Hüseyin und Olga ist sie nie ein Thema gewesen. Olga respektiert die Regelung zwar, sagt aber:
"Die Scharia ist ungerecht zu Frauen, weil sie Männer in manchen Fällen begünstigt. Das ist ungerecht und verstößt ja auch gegen geltende Menschenrechte."
Seit Anfang des Jahres hat die Regierung die Scharia-Regelung angepasst. Muslimische Geistliche können jetzt nur über Scheidungen und Erbfragen entscheiden, wenn beide Streitparteien das möchten. Sonst geht es vor ein ordentliches Gericht.
"Die Scharia hat es immer schon gegeben. Und es wird sie auch weiterhin geben unter uns. Es wird nur unsichtbarer."
Wir gehen hier am Flussbett entlang, gehen runter zum Flussufer. Hier ist der Fluss Evros. Hier ist gleichzeitig auch die griechisch-türkische Grenze. Das heißt, der Fluss hier ist ungefähr – ich würde jetzt schätzen – 20 Meter breit und die Hälfte gehört Griechenland und die andere Hälfte gehört der Türkei.
Sperrgebiet: auf der anderen Seite hinter den Bäumen fängt die Türkei an.
Sperrgebiet: auf der anderen Seite hinter den Bäumen fängt die Türkei an.© Panajotis Gavrilis

Der Fluss Evros trennt Griechenland und die Türkei

Teriachi, Idomeni, West-Thrakien. Nach etwa 1000 Kilometern ist dies die letzte Station meiner Grenzreise: Marasia, an der griechisch-türkischen Grenze. Der Fluss Evros trennt die beiden Länder auf natürliche Weise. Nirgendwo ist er so schmal wie hier. Nach dem griechisch-türkischen Krieg wurden die heutigen Staatsgrenzen 1923 mit dem Abkommen von Lausanne festgelegt. Hier ein rotes "Sperrgebiet Schild" – drüben auf einem Wachturm ein türkischer Soldat mit Gewehr in der Hand.
"Eine kleine Konfrontation kann es mal geben, wenn wir nicht rechtzeitig eine Lösung finden. Aber aktuell wird es so eine Konfrontation eher nicht geben. Es gibt ja immer eine Lösung für alles. Die Grenze wird bewacht und unser Militär gewährleistet, dass der Vertrag von Lausanne und die Grenzlinie eingehalten werden. Wir beanspruchen nichts, wir treten aber auch nichts ab. Wir sind es gewohnt an der Grenze zu leben, es ist Alltag. Wir wissen: Bis zur Hälfte ist es unser Fluss."
Giorgos Chatzigagidis war früher Militäroffizier. Seit acht Jahren ist er Gemeindevorsitzender von Marasia. Hier ist er geboren und aufgewachsen. Im nordöstlichsten Teil Griechenlands, in der Region Evros. Was denkt er, wenn der türkische Präsident Erdogan das fast hundertjährige Abkommen von Lausanne und somit auch die Grenzen in Frage stellt?
"Ich werde hier oben am Fluss stehen und wer will, kann ja kommen. Für uns hier gibt es kein Zurück. Es geht nur Vorwärts. Warum sollten wir nicht mal drüben vorbeischauen? Zufrieden sind wir jedenfalls nicht. Ich würde ja gerne zum Herkunftsort meiner Großeltern gehen. So etwas geht nicht von heute auf morgen. Aber du weißt nie, was passiert."
Im Zuge des sogenannten Bevölkerungsaustausches flohen in den 1920er-Jahren seine Großeltern nach Marasia. Sie waren, wie die meisten hier, Christen aus Adrianoupoli. So nennen die Griechen immer noch die ein paar Kilometer entfernte türkische Stadt Edirne. Im Jahr 2010 lebten in Marasia noch 135 Menschen. Heute sind es 93.

Mit 55 Jahren gilt man hier noch als jung

"Wenn du jemanden bestrafen willst, steck ihn nicht ins Gefängnis. Bring ihn hierher. Ohne Auto, damit er nicht weg kann."
Giorgos Chatzigagidis selbst wohnt in Orestiada, der nächstgelegenen Stadt. Vor allem der Winter im Dorf ist zu hart, sagt er. Und mit seinen 55 Jahren gilt er hier noch als "jung".
"Die meisten sind über 80 Jahre alt. Sie haben nicht die Kraft, um einkaufen zu fahren. Es ist tragisch. Beerdigungen finden regelmäßig statt. Aber Hochzeiten oder Taufen in der Kirche habe ich hier noch nie erlebt. Ich glaube, in zehn Jahren wird es kein Dorf mehr geben."
Ein Wachhaus der griechischen Armee am Rande des Dorfes steht leer, hat ausgedient. Einst sollten Soldaten die Bewohner beschützen. Heute übernimmt die Polizei diese Aufgabe. Ein blau weißer Pick-Up-Truck patrouilliert in Flussnähe und soll vor allem Menschen auf der Flucht abhalten, den Fluss Evros zu überqueren: Die meisten sind Syrer, aber aktuell auch Türken, die hier Asyl beantragen. Erst kürzlich starben mehrere Menschen bei dem Versuch, den Fluss mit einem Schlauchboot zu überqueren.
"Ich habe oft Leichen hier gesehen. Deshalb habe ich auch mit der Fischerei aufgehört. Du willst gut gelaunt deinem Hobby nachgehen und dann siehst du vor dir einen Ertrunkenen, rufst die Polizei, Staatsanwaltschaft – das ist keine angenehme Situation. Der Fluss ist alles – mit den Migranten ist er auch zum Grab geworden."
Der Gemeindevorsitzende grüßt ein paar ältere Herren auf der Straße. Für sie fährt jeden Dienstag ein Bus in die Stadt zum Markt. Supermärkte? Hier? Braucht doch niemand, sagt einer der beiden mit sarkastischem Unterton.
"Solche Luxussachen brauchen wir nicht. Supermärkte brauchen wir nicht. Ärzte brauchen wir auch nicht. Wir werden ja nicht krank. Wenn wir nämlich krank werden, dann sterben wir meistens auch direkt und kommen glimpflich davon. Wir werden einfach nicht krank, weil wir gleich sterben! Wir brauchen eben keinen Arzt!"

Dörfer, die verschwinden werden

Ein Regionalzug hält an einem gelben Steinhäuschen, das direkt neben dem Grenzfluss Evros liegt. Der Bahnhof von Marasia. Lediglich ein Mann steigt ein. Einst fuhr hier sogar der Orient-Express entlang. Ausgerechnet heute platzt die Nachricht über lokale Medien ins Dorf, dass die griechische Eisenbahngesellschaft die Fahrten in diese Region reduziert. Dieser Zug wird heute der einzige sein.
In dem kleinen verrauchten Bahnhofs-Café wird dazu die Rentnerin Kalliopi vom lokalen Fernsehsender interviewt. Sie ist empört über den neuen Fahrplan:
"Uns, die Alten und alle, die kein Auto haben oder ein anderes Transportmittel, betrifft das sehr. Wir konnten ziemlich leicht nach Orestiada fahren, wenn wir einen Arzt brauchten oder in eine andere Stadt. Der Zug uns sehr genützt. Jetzt müssen wir 50 Euro für ein Taxi ausgeben. Mit dem wenigen Geld, das sie uns geben: Das ist unerhört, das können wir nicht bezahlen!"
Die Reise geht so langsam zu Ende. Sehr viele Eindrücke, sehr viele unterschiedliche Menschen, die aber alle das Eine vereint, nämlich: Die meisten fühlen sich hier zurückgelassen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie der Vize-Bürgermeister, abends im Dunkeln durch den Wald am Berg langzufahren, nach Hause zu kommen und zu wissen: Ich bin der einzige von zwei Einwohnern und wahrscheinlich bin ich bald auch nur der einzige Einwohner in diesem Dorf. Das Ganze ist ein Stück weit traurig und deswegen ist es umso bewundernswerter, wie die Leute hier versuchen, zu überleben. Diese Dörfer, wenn nicht Nachwuchs kommt, wenn nicht Leute aus den Städten wieder zurückziehen in ihre Dörfer. Diese Dörfer werden wahrscheinlich irgendwann verschwinden.
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