Grenzöffnungen nach Corona

"Besseres als eine Abstandsregel kann uns nicht passieren"

11:22 Minuten
Zwei Menschen sitzen bzw. liegen an einem Strand.
"Dieser kleine Freiraum, den wir um uns haben, diese 1,50 Meter, das kann auch etwas Positives sein", meint der Philosoph Konrad Paul Liessmann. © picture alliance/dpa/PIXSELL/Marko Dimic
Konrad Paul Liessmann im Gespräch mit Dieter Kassel · 15.06.2020
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Nach drei Monaten sind die EU-Grenzen wieder offen für Urlauber. Was hat sich durch den Lockdown verändert? Der Philosoph Konrad Paul Liessmann sieht es positiv: Der Abstand zum anderen wird mehr respektiert - und das kann auch im Urlaub gut tun.
Dieter Kassel: Dass man zum Beispiel von Aachen aus nicht einfach nach Belgien fahren kann, vom Saarland aus nicht nach Frankreich oder auch von Bayern nicht rüber nach Österreich, das war für viele Menschen, für die jüngeren eine völlig neue Erfahrung. Das haben die so in ihrem Leben noch nie gehabt so wie in den letzten ungefähr zweieinhalb Monaten. Es war in vielen Grenzregionen, nicht nur in den genannten, auch ein großes wirtschaftliches Problem, aber es war für viele Menschen, auch die, die weit weg von diesen Grenzen leben, mitten in Deutschland zum Beispiel, ein ganz neues, oft sehr merkwürdiges Gefühl des Unfrei-Seins. Wie hat uns das alles verändert? Darüber reden wir jetzt mit Konrad Paul Liessmann, er ist Professor für die Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien.
Sie haben vor ungefähr acht Jahren ein Buch veröffentlicht mit dem Titel "Lob der Grenze, Kritik der politischen Unterscheidungskraft". Können Sie eigentlich diesen wochenlangen Grenzschließungen, die wir jetzt auch mitten in Europa im Schengen-Raum erlebt haben, irgendetwas Positives abgewinnen?
Liessmann: Das ist natürlich schwer zu sagen, vor allem an dem Tag, an dem diese Grenzen zum Großteil wieder geöffnet werden. Aber vielleicht haben uns diese Grenzschließungen auch das Bewusstsein geschärft, was Grenzen eigentlich bedeuten und wann Grenzen und Grenzregime Grenzregelungen, Grenzkontrollen auch unterliegen können. Es war für uns, Sie haben es schon angedeutet, eine Selbstverständlichkeit, dass es territoriale Grenzen im Sinne des Überschreitens dieser Grenzen im Zuge von Reisen für uns in Europa eigentlich nicht mehr gab oder eben nur Ausnahmefällen.

Selbst der Eiserne Vorhang ließ sich überqueren

Was wir jetzt erlebt haben, war ja etwas, was nicht nur die jüngere Generation nicht gekannt hat, das hat in dieser Weise in Europa niemand gekannt, nämlich tatsächliche Grenzschließungen. Auch in der Zeit vor dem Schengen-Abkommen war es ja nicht so, dass man nicht nach Italien reisen oder nicht nach Belgien fahren konnte. Sogar für Westeuropäer war es ja durchaus möglich, den Eisernen Vorhang, die brutalste Grenze mitten durch Europa, zu überqueren. Man musste nur unendlich lang warten an den Grenzen, man wurde kontrolliert, man wurde vielleicht schikaniert. Mein Großvater lebte in Leipzig, ich kann mich erinnern, als Kind sind ihn natürlich in der DDR besuchen gefahren, wir haben zwar einen halben Tag an der Grenze warten müssen, dann waren wir aber drüben. Das heißt die Grenzen waren tatsächlich überschreitbar gewesen und die normalen Grenzen in Europa, da gab es die Grenzkontrollen, manchmal gab es Staus, aber dann war man dort.
Das, was wir jetzt erlebt haben, man konnte einfach nicht reisen. Es ging nicht darum, einen Stau auszuhalten, darin sind wir geübt als Reisende. Und ob man an einer Grenze oder einer Baustelle steht, für den Stehenden macht das wenig Unterschied. Das hätte uns nicht irritiert. Wir wären wunderbar gerne nach Italien gefahren, wenn es nur darum gegangen wäre, vier Stunden an der Grenze zu warten wie vor 20 Jahren. Nein, es ging einfach nicht, die Grenzen waren tatsächlich zu, es gab nicht wenig Flüge, es gab keine Flüge. Und das war eine wirklich neue Erfahrung, die vielleicht auch gezeigt hat, was es heißt, in einer Krisensituation für ein Land, für einen Staat, für eine Region, wenigstens für zwei, drei, vier Wochen auf sich selbst angewiesen zu sein.

Kein Grund zur Renationalisierung

Kassel: Da haben Sie zwei Aspekte erwähnt, die ich gerne vertiefen würde. Ich mache es mal in umgekehrter Reihenfolge. Das, was Sie zum Schluss gesagt haben, dass ein Staat und die Menschen in diesem Staat mal wieder das Gefühl haben: Wir sind hier auf uns allein gestellt, auf uns selbst angewiesen. Ist das auch so eine Wiederkehr des nationalstaatlichen Denkens gewesen, die vielleicht sogar gefährlich ist, weil sie ein bisschen bleiben könnte?
Liessmann: Nein, das denke ich nicht, und zwar aus zwei Gründen: Die meisten Menschen haben das ja nicht tatsächlich als positiv empfunden, sondern als eine Notwendigkeit, die diese Pandemie uns auferlegt hat. Niemand, der einen Unfall hat und dann gezwungen ist, ein paar Tage oder ein paar Wochen in Ruhestellung zu verbleiben, empfindet das ja als positiv. Aber er weiß, es ist notwendig, es ist besser, sich nicht zu bewegen, es ist besser, erst mal Ruhe zu geben – und er wird deshalb nicht das große Lob des Stillstands singen. Das ist das eine.
Das andere, warum ich glaube, dass das jetzt keine Rückkehr ist zu einem Nationalstaat oder zu einem bestimmten Nationalismus: Weil einfach klar war, dass das eine vorübergehende Maßnahme ist, die der Not geschuldet ist. Und es wurde ja schon sehr früh wieder begonnen, darüber nachzudenken: Wie kann man das lockern, wie kann man die Verbindungen wiederherstellen, wie kann man auch in der internationalen Gemeinschaft gegen dieses Virus arbeiten. Das ist das Paradoxe dieser Pandemie gewesen: Auf der einen Seite waren wir für einige Zeit auf uns selbst zurückgeworfen – im Sinne der Staatlichkeit. Die Staaten mussten reagieren, und jeder Staat hat ein bisschen anders reagiert. Und auf der anderen Seite war es eine Pandemie, also etwas, was tatsächlich die Weltgemeinschaft betroffen hat. Und genauso besorgt, wie wir verfolgt haben, wie sind die Infektionszahlen in Deutschland, in der Heimatregion, im eigenen Bezirk, in dem man lebt, genauso besorgt haben wir doch verfolgt, wie sind die Infektionszahlen in China, in Brasilien, in den USA, in Großbritannien.
Das heißt, das Gegenteil von Abschirmung war eigentlich der Fall, mental waren wir vielleicht in dieser Pandemie globalisierter denn je. Das trifft übrigens auch die gesamte Wissenschaft. Der internationale Diskurs der Wissenschaft über die Erforschung dieses Virus und die Experimente, die notwendig sind, um Medikamente und Impfungen zu entwickeln, waren plötzlich auch für den normalen Laien von einem Interesse, wie man es sich vorher gar nicht hätte vorstellen können. Da finde ich jetzt nicht, dass das zu einer Renationalisierung führt.

Paradoxie des Massentourismus

Kassel: Ich möchte noch kurz über Thema Reisen sprechen. Es ist klar, es wird sich was ändern. Ich denke jetzt an diese Bilder, die wir gesehen haben: das völlig leere Venedig, zum Beispiel, oder auch Museen wie der Louvre oder andere, wo man dann plötzlich alleine vor einem Bild stehen konnte, wenn man noch reindurfte. Ist das nicht gerade etwas, wo wir, glaube ich, uns gerade selbst betrügen? Weil ich von vielen Menschen höre: Das ist doch toll, in Zukunft kann ich selbst durch Venedig laufen, da es nicht mehr so voll ist, in Zukunft kann ich selber die Mona Lisa drei Stunden angucken und keiner schubst mich weg. Glauben Sie wirklich, dass sich unser Reisen oder Tourismus verändern wird durch diese Krise?
Liessmann: Nein, das Reisen wird sich überhaupt nicht verändern. Es wird eine Zeit lang dauern, bis man wieder mutig genug ist und bis klar ist: Auch wenn wieder viele Menschen an den Stränden, in den Städten sind, sich an den Kulturzentren bewegen, wird es keinen Anstieg der Infektionen geben. Und dann werden wir genauso reisen und uns genauso versammeln wie vorher. Aber diese Krise hat eine Paradoxie des Massentourismus gezeigt. Es ist die Sehnsucht jedes Touristen, der in einer Masse von Menschen im Louvre ist oder am Markusplatz steht, es ist eine unglaubliche Sehnsucht: Wäre ich hier doch nur alleine. Und diese Krise hat uns zumindest Bilder gezeigt, die diesen Traum virtuell erfüllt haben. Wir haben uns plötzlich vorstellen können, wie es wäre, jetzt in Venedig zu sein: Nur ich und sonst niemand. Und diese Sehnsuchtsbilder werden vielleicht noch eine Zeit lang erhalten bleiben, sie haben aber nur etwas verstärkt, was da ohnehin ganz tief in uns als Touristenmenschen drinsteckt.

Abstandsregeln zwingen zum Respekt

Kassel: Wir haben ja auch völlig neue Grenzen, die es in der Form vor Jahrhunderten eigentlich nicht gab, kennengelernt, nämlich Grenzen, die man nicht unterschreiten darf. Zum Beispiel die 1,50-Meter-Grenze bei Personen, die nicht aus dem eigenen Haushalt sind. Wie verändert uns das, dass wir plötzlich gesehen haben: Unsere Bewegungsfreiheit ist nicht grundgegeben, die kann auch vorübergehend wieder weg sein?
Liessmann: Ich denke, vor allem die Abstandsregel finde ich philosophisch ja hoch interessant, weil sie an die Urgrenze des Menschen rührt, nämlich an die Integrität des eigenen Körpers. Und wenn wir uns erinnern, wie vor Corona heftig diskutiert wurde über Fälle, über Menschen, die ständig diese Abstandsregeln überschreiten, die anderen Menschen zu nahe kommen, die sie berühren, wo sie sie nicht berühren dürfen, die sie bedrängen, wo sie sie nicht bedrängen dürfen, denken Sie an die MeToo-Debatten, dann würde man sagen, etwas Besseres als so eine Abstandsregel kann uns eigentlich gar nicht passieren. Sie zwingt die Menschen wieder dazu, sich gegenseitig in einer Art und Weise zu respektieren, höflich zu sein, sich nicht ungefragt anzunähern, niemanden ungefragt zu berühren und verweist uns darauf, dass die Souveränität über den eigenen Körper und diesen kleinen Freiraum, den wir um uns haben, diese 1,50 Meter, dass der auch etwas Positives sein kann – unter der Voraussetzung, es wäre tatsächlich nicht der Not geschuldet, sondern Ausdruck unseres wechselseitigen Respekts.
Das Virus hat mit sich gebracht, dass ich nicht diese Souveränität habe, zu jemandem zu sagen: Für uns gilt jetzt dieser Freiraum nicht mehr, aus hygienischen Gründen und medizinischen Gründen müssen wir danach trachten – mit Ausnahme der Menschen, mit denen wir ganz eng und ständig zusammenleben –, diesen Freiraum überall aufrechtzuerhalten. Aber ich denke, dass Menschen jetzt ein bisschen auch in der Öffentlichkeit, in öffentlichen Verkehrsmitteln und dergleichen mehr auf Distanz zueinander stehen und man danach trachtet, wenn man jetzt wieder öffnet bei Gastgärten, in Bädern, dass man ein bisschen mehr Platz um sich hat. Das ist doch nicht schlecht. Wir haben doch alle gelitten unter diesem Gedränge an den Stränden, wo ein Liegestuhl fünf Zentimeter neben dem nächsten stand und man alles mitbekam an Unliebsamkeiten, was in der unmittelbaren Strandnachbarschaft geschehen ist. Ein bisschen Abstand, das könnten wir uns bewahren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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