Goethe-Medaille für Irina Scherbakowa

Eine Hüterin der Wahrheit

Die russische Historikerin und Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa
Die russische Historikerin und Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa © Imago
Von Thielko Grieß · 27.08.2017
Heute erhält die russische Historikerin Irina Scherbakowa die Goethe-Medaille in Weimar. Der Preis geht an eine Kämpferin für das historische Gedächtnis und die Aufklärung - Porträt einer aufrechten Humanistin.
Durch die Decke tropft Wasser, weil im zweiten Stock in einer Wohnung ein Rohr gebrochen ist. Mitarbeiter von Memorial schieben Tische zur Seite, trocknen Computer. Man kann es so sagen: Wer hier arbeitet, muss mit Unvorhergesehenem jederzeit umgehen können.
"Ich weiß nicht, sollen wir uns verstecken? Aber ich weiß nicht, wo."
Irina Scherbakowa eilt den Korridor entlang; sie kommt gerade von einem Termin und gleich folgt ein weiterer. Eigentlich ist sie Germanistin; aber längst ist die Geschichte ihre Berufung geworden. Die Geschichte ihres Landes: Russlands und der einstigen Sowjetunion.
"Ich bin in diesem Sinne sehr altmodisch. Ich glaube, wir sind hier in Memorial sehr altmodisch. Ich glaube, es gibt diese Wahrheit in dem Sinne, dass es Fakten gibt. Und es sei zu erforschen, wie diese Fakten sind."

Pflege der zarten Pflanze Wahrheit

Die Wahrheit ist in ihrer Heimat eine zarte Pflanze. Sie gedeiht meist schlecht und fristet, oft unbeachtet, ein Schattendasein. Scherbakowa gehört seit Jahrzehnten zu den Instanzen des Landes, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das kleine Grün zu pflegen, aufzuklären und ein wenig Licht auf die Fakten der Vergangenheit zu richten, auf die unmöglich zu vergessenen Jahre: den Terror unter Stalin, die Verfolgung von Minderheiten und politisch Missliebigen, die schweren Traumata des Kriegs gegen Nazi-Deutschland.
"Ich bin kein pessimistischer Mensch, sonst kann man sich gar nicht mit diesen Themen beschäftigen, mit denen ich mich mein ganzes Leben beschäftige."
Die Historikerin wurde 1949 in Moskau in einer jüdischen Familie geboren, in der die Auseinandersetzung mit Geschichte, Politik und Zeitgeschehen selbstverständlich war.
"Ich hatte riesiges Glück gehabt. Ich gehöre eigentlich zu einer glücklichen Generation, wenn man sich Russland und das 20. Jahrhundert anschaut."
Früh hat sie gelernt, die Erzählungen und Erinnerungen von Eltern und Großeltern über den Krieg, die sowjetische Verfolgung Intellektueller, jüdischer zumal, mit sich zu vergleichen. Glück ist relativ.
"Ich gehöre zu dem Schulgang, und ich glaube, das ist für mich symbolisch, die die ersten waren, ein Lesebuch ohne Stalin zu haben. Der war raus."

Zuhörerin im Dienst der Menschenrechte

Der Stalinkult verblasste, doch der Schatten der Diktatur blieb und quälte Seelen und Psychen. Später, längst erwachsen, fand Irina Scherbakowa Zugänge zu Erinnerungen ihrer Mitmenschen, indem sie ihnen zuhörte, als diese sich öffneten und über ihre tiefen Verletzungen und Narben Auskunft gaben. So schuf sie mit ihrer historischen Arbeit, dem Freilegen von Biographien und Fakten, eine Grundlage, auf der später die Menschenrechtsorganisation Memorial aufbaute. Und obwohl die Historikerin von den Erzählenden Unmenschliches erfuhr und niederschrieb, gewann sie einen Glauben: in den Menschen.
"Dieses Gefühl, dass man so stark sein kann, dass man so viel erleiden kann und trotzdem ein Mensch bleiben kann, der lebensfreudig sein kann, das war sehr wichtig für mich."
Scherbakowas Arbeit steht meist quer zu einem Staat, der sich herausnimmt, Geschichte dogmatisch von oben herab zu definieren und sie Machtzwecken unterzuordnen. Er tat dies zu Zeiten der Sowjetunion, und er tut es heute wieder: Stalin ist zurückgekehrt, in Schulbücher und ins Denken, geachtet, als Sieger gefeiert, als Visionär.

Gegenposition zu Putin

Parallel beschränkt die russische Machtelite bürgerliche Freiheiten; ein Prozess, der die Historikerin schmerzt, gerade weil die schwarzen Kapitel russischer und sowjetischer Geschichte jedem bekannt sein könnten. Sie stehen im Netz. Weshalb die von ihr verfochtene Aufklärung an vielen Russinnen und Russen heute nahezu spurlos vorübergeht, kann auch sie nicht erklären.
"Ich glaube, meine Botschaft, aus meiner Generation, wäre natürlich: keine Lüge, keine historischen Lügen, keine Mythen, keine Täuschungen, egal, wie bitter die Wahrheit ist."
Zu ihrer Generation gehört indes auch der Präsident Russlands, Wladimir Putin, der nur drei Jahre jünger als Irina Scherbakowa ist. Beide, die nie miteinander gesprochen haben, repräsentieren gegensätzliche Entwicklungsvorstellungen für Russland. Zum polittechnologischen Repertoire des Präsidenten gehört oft Anderes als Fakten, Wahrheit und schmerzhafte historische Einsichten.
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