Görings Psychiater

Auf der Suche nach dem Bösen

Die Hauptangeklagten Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop auf der Anklagebank während der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse am 13.02.1946 in Nürnberg.
Die Beschäftigung mit Hermann Göring (M.) wurde dem Psychiater Douglas Kelley zum Verhängnis. © picture alliance / dpa
Von Pieke Biermann · 30.09.2014
1958 schluckt der Psychiater Douglas Kelley Zyankali und ahmt damit seinen berühmtesten Fall nach: den Suizid von Hermann Göring. Wie es dazu kam, erklärt Jack El-Hai in seinem Buch "Der Nazi und der Psychiater".
Bei Recherchen für sein Buch über den Lobotomie-Verfechter Walter Freeman stößt der Journalist Jack El-Hai zufällig auf einen bizarren Suizid. Am Neujahrstag 1958 schluckte der in den USA berühmte Psychiater und Kriminologe Douglas Kelley vor den Augen seiner Frau, seines zehnjährigen Sohns und seines Vaters Zyankali. Eine seltsam dramatische Inszenierung.
Sie wirkt wie eine makabre Parallelaktion. Ganz ähnlich hatte es zwölf Jahre zuvor Kelleys berühmtester "Fall" vorexerziert: Hermann Göring. El-Hai wird neugierig und findet Kelleys Sohn, der ihm tatsächlich Zutritt zum Nachlass seines Vaters gewährt. Jahrzehntelang hatte den niemand angerührt. Vier Kisten voll Aufzeichnungen und Nazi-Memorabilien. In einer separaten Kiste sind handschriftliche Notizen, ein Porträtfoto von Hermann Göring, gewidmet: "Major Dr. Kelley in aufrichtiger und herzlicher Dankbarkeit", ein Glasfläschchen mit etwa 100 Paracodin-Tabletten.
Kelley hatte Göring von der Opiatsucht befreit, und von den Fettmassen gleich mit. Das war Teil des Auftrags, mit dem er 1945 vom US-Militär-Geheimdienst nach Mondorf-les-Bains/Luxemburg verlegt wurde. Hier im einstigen Palasthotel waren die 22 höchstrangigen Nationalsozialisten interniert. Kelley, als Leiter der psychiatrischen Abteilung, hatte erstens ihren geistigen Zustand zu begutachten und zweitens dafür zu sorgen, dass sie gesund und lebendig zum Nürnberger Prozess erscheinen konnten. Und der hochbegabte junge Psychiater hatte, drittens, seine eigene, ehrgeizige Agenda: die Suche nach einem psychisch-mentalen gemeinsamen Nenner für "das Böse" schlechthin, nach der möglichen "Nazi-Persönlichkeit".
Nicht geisteskrank, sondern normal
Ausgehend von der einmaligen Trouvaille recherchiert El-Hai Kelleys Familiengeschichte, die Zeitumstände und die Entwicklung der Psychologieforschung in den USA. Sein Buch ist eine beeindruckend detallierte Charakterstudie, und Kelley offenbart immer mehr Parallelen mit Göring: etwas alphatierhaft Größenwahnsinniges, den Hang zu Gefallsucht und sprunghafter Gewalttätigkeit.
El-Hai reflektiert die gefährliche, weil Vertrauen bildende Nähe, die sich bei langen, intensiven Gesprächen einstellt. Noch gefährlicher für Kelley war aber womöglich seine Erkenntnis: Auch die grausamsten Nazis sind nicht geisteskrank, sondern ansonsten normale, sogar nette Leute, eine zu schlimmsten Gräueln fähige Persönlichkeit steckt in uns allen.
Die Entdeckung, lange vor Hannah Arendts ebenso verstörender Eichmann-Studie und Milgrams Stromstoß-Experiment, hat Kelley, so legt El-Hai nahe, das Genick gebrochen und seinen makabren Zyankalitod motiviert.
"Der Nazi und der Psychiater" ist zwar etwas ungelenk übersetzt und deutlich für ein US-amerikanisches Publikum geschrieben, das heißt, die Passagen über Göring und die Nazis klingen für europäische Leser stellenweise salopp. Aber es ist ein spannender Schmöker über eine Phase psychowissenschaftlicher Theorie und Praxis, die noch gar nicht so lange vergangen ist.

Jack El-Hai: Der Nazi und der Psychiater
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Henriette Heise
Die Andere Bibliothek, Berlin 2014
318 Seiten, gebunden, 38 Euro

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