Glücklich mit Ritalin?

Vorgestellt von Kim Kindermann · 30.03.2005
Kaum etwas hat in den letzten Jahre mehr die Gemüter erregt als ADS – das so genannte Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Besser bekannt vielleicht als Zappelphilipp-Syndrom, das unter Ärzten, Psychologen, Lehrern, Eltern und Politikern zu einem wahren Glaubenskriegs führt: Die einen sprechen von einer hirnorganischen Störung, die behandelt werden muss. Die anderen sehen in ADS eine Modeerscheinung, die zu einer wahren Hysterie ausgeufert ist. Doch wer hat recht?
Für den Laien ist es schwer, den Durchblick zu behalten. Zumal bisher über 60 Sachbücher zum Thema erschienen sind, jedes mit seiner eigenen Sicht. Jetzt ist ein neues erschienen: ADS. Erfolgreiche Strategien für Erwachsene und Kinder. Geschrieben hat es die Medizinerin Astrid Neuy-Bartmann.

Eine kleine Dosis Methylphenidat, besser bekannt unter den Markennamen Ritalin, hat Jonas geholfen: "Er habe hervorragend bei der Sache bleiben können, und sei geradezu euphorisch, dass er sich nun etwas merken könne und auch viel schneller sei. (...) Ein Alptraum sei von ihm gewichen."

Jonas ist nur einer von vielen unterschiedlichen Fallbeispielen, die Astrid Neuy-Bartmann in ihrem Buch "ADS. Erfolgreiche Strategien für Erwachsene und Kinder." beschreibt. Anschaulich und lebensnah erhält man so Einblicke in das anstrengende Leben von Menschen, die unruhig sind, sich schlecht konzentrieren können und Probleme haben, ihren Alltag zu bewältigen. Einerseits. Doch andererseits wundert man sich schnell über die Gemeinsamkeiten aller im Buch geschilderten Schicksale:

1. Sie alle profitieren von der Diagnose Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom und 2. sie alle sind glücklicher, haben sich zum Guten verändert nach der entsprechenden Medikation, die, falls nötig, von einer Psychotherapie unterstützt wird. Was zeigt: Hier spricht eine Medizinerin und zwar ganz in Anlehnung an die geltenden Richtlinien der deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychologie und Nervenheilkunde. Danach handelt es sich bei dem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS), das häufig mit Hyperaktivität einhergehen soll (ADHS), um eine "vererbte Stoffwechselkrankheit mit weit reichenden Folgen für alle Beteiligten" und deshalb muss unter anderem eine medikamentöse Behandlung sein.

Dass andere Ärzte im Zusammenhang mit ADS statt von einer Stoffwechselkrankheit, lieber von einer "genetischen Verwundbarkeit" sprechen, die ihren Auslöser in einem komplizierten Zusammenspiel zahlreicher medizinischer und soziokultureller Faktoren hat, erfährt man nichts. Vielmehr schildert die Autorin Horrorszenarien, wenn ADS nicht behandelt wird: Drogenabhängigkeit, Kriminalität Depressionen. Quellen hierfür nennt sie nicht.

Wie überhaupt fast keine Angaben gemacht werden, woher die als Fakten verkauften Erkenntnisse stammen. Und das ist ärgerlich, da das Buch hierdurch an Glaubwürdigkeit verliert. Dazu passt, dass Kritiker lediglich in einem kleinen Abschnitt erwähnt werden:

"Besonders Pädagogen, Sozialarbeiter aber auch viele Psychotherapeuten verteufeln Stimulanzien als Suchtmacher und Anpassungsdroge. (...) Eine Überlegung, die niemand, der persönlich mit ADS-Kindern lebt und arbeitet, nachvollziehen kann."

Ein charakteristisches Zitat, das zeigt: Hier wurde im ADS-Glaubenskrieg mal wieder von der Medikations-Befürworterseite ein Buch geschrieben, das eigentlich nichts wirklich Neues bietet. Dabei ist der kleine, handliche Band gut leserlich und kommt ohne viel Fachvokabular aus.

Zur Erläuterung des Phänomens ADS greift die Autorin gerne zu Naturbildern wie der eines Wildpferdes, das noch nicht gelernt hat, seine überschüssige Energie zu zügeln, und beschreibt ADS als ein Erbe aus der Steinzeit. Ein Bild, das seit längerem in einschlägigen Sachbüchern kursiert und seinen Ursprung in einem von der Pharmaindustrie gesponserten Sonderheft der Zeitschrift Kinderärztliche Praxis hat. Auch im Aufbau erinnert das Buch an die bereits existierenden Schriften zum Thema.

Am Ende fragt sich der Leser beklommen: Haben Kinder, die unruhig, unkonzentriert und hyperaktiv sind, bei ihrem stets zensierten Verhalten noch Spaß am Leben oder steht alles unter dem unheilvollen Stern ihres Andersseins? Das ist schade, denn von ihrem persönlichen Hintergrund her hätte man von der Autorin mehr erwarten können: Schließlich sagt sie selbst, dass drei ihrer Kinder mit der Diagnose ADS leben. Wäre es da nicht nahe liegend gewesen, die Kritiker mehr zu Wort kommen zu lassen und beide Sichtweisen des Problems aufzuzeigen und so die Eltern, deren Kinder möglicherweise auch betroffen sind, dort abzuholen, wo sie stehen, nämlich in einer Zwickmühle aus Angst, Ohnmacht und Verzweiflung?

Leider hat Astrid Neuy-Bartmann diese Chance vertan. Ihr Buch ist damit eines von vielen unter den über 60 Sachbüchern zum Thema, die in den letzten Jahren sintflutartig auf den deutschen Büchermarkt geschwemmt worden sind.