Glück im Unglück

Von Georg Gruber · 25.10.2010
Melody Gardot, eine junge Jazzsängerin aus Philadelphia, schickt sich gerade an, die Bühnen der Welt zu erobern. In diesem Jahr hat die 25-Jährige den erstmals verliehenen Jazz-Echo bekommen. So seltsam es klingen mag: Ein schwerer Autounfall hat einen nicht unerheblichen Anteil an dieser Erfolgsgeschichte.
"Meine Seele ist müde und niedergeschlagen von all meinem Unglück, wer tröstet mich?","

singt Melody Gardot und es gäbe sicherlich einige im Publikum, die dazu bereit wären: Jung und schön wie sie ist, im eng anliegenden Kleid, mit Leopardenmuster, eine Diva, die etwas geheimnisvolles umgibt. Die langen blonden Haare verdecken einen Teil ihres Gesichts, die Augen sind hinter einer dunklen Brille verborgen.

Unglück hat sie gehabt in ihrem Leben, soweit stimmt der Text. Zum Gehen braucht sie einen Stock, auch wenn er auf der Bühne wie ein modisches Accessoire wirkt.

""You want some Champaign?"

Auch nach dem Konzert, Backstage, in ihrer Gardarobe hat sie den Stock griffbereit in ihrer Nähe, und auch die Brille behält sie auf. Sie muss sie tragen, ihre Augen sind lichtempfindlich, seit dem Unglück, dem Unfall, der für sie aber nicht nur ein Unglück war, sondern:

"It's like a turning point."

Ein Wendepunkt. Als sie 19 Jahre alt war, wurde sie in Philadelphia, als sie mit dem Rad auf dem Weg vom College war, von einem Jeep überfahren. Für ein Jahr war sie im Krankenhaus, mit gebrochener Hüfte und schweren Kopf- und Wirbelsäulenverletzungen.

"Stell Dir vor, Du kannst nicht gehen, nicht sprechen, Du kannst kaum hören, Du kannst nicht lesen, die Erinnerung an Dein Leben vor dem Unfall ist verdampft, das war der Punkt, an dem ich mich befand. Alles, was mich interessierte war, aus dem Bett aufstehen zu können und mir die Zähne putzen zu können – und nicht zu vergessen, das Wasser wieder auszuspucken."

Musik hatte schon immer eine Rolle in ihrem Leben gespielt. Der Sound ihrer Kindheit waren Polkas:

"My mother sang to me a lot, I always listened to records and I grew up a lot with polkas actually, polkas where the things: umta, umta, umta, roll up."

Klavier lernte sie von ihrer Großmutter, die aus Polen stammte und bei der sie viel Zeit verbrachte, weil die alleinerziehende Mutter Arbeiten gehen musste. Schon vor dem Unfall spielte Melody in Bars Piano, eine bunte Mischung von Duke Ellington bis zu den "The Mamas and the Papas". Erst im Krankenhaus fand sie zu ihrer eigenen musikalischen Sprache.

"Ein wichtiger Bestandteil meiner Genesung war Musiktherapie, und in dieser Zeit habe ich begonnen zu singen, obwohl ich das vorher nie gemacht hatte, genauso wenig wie Gitarre spielen. Gitarre lernte ich, während ich im Bett auf dem Rücken liegen musste, Klavierspielen war deshalb nicht möglich – und so entdeckte ich die Gitarre."

Und Melody Gardot beginnt zu komponieren, auch dieses Talent entdeckt sie erst im Krankenhaus. Ihre ersten eigenen Songs brennt sie auf CD, die findet den Weg ins Radio. Inzwischen hat die 25-Jährige einen Plattenvertrag bei Verve, einem der Jazz-Label überhaupt. Aus kommerzieller Sicht logisch: Schöne junge blonde Frau, die singen kann, das wird sich schon verkaufen – noch dazu mit dieser tragischen Geschichte. Was sie von den Pop-Pin-ups der aktuellen Superstarshows unterscheidet ist, dass sie ihre Stücke immer noch selbst schreibt – und dass ihre Songs doch ein wenig mehr Tiefe haben.

Nach drei Jahren, die sie aus dem Koffer gelebt hat, wohnt sie nun seit dem Sommer in Lissabon, im ältesten Teil der Stadt. Am Flügel komponiert sie neue Stücke, nimmt dabei alles auf, was um sie herum geschieht: die Klänge des Fado, die Stimmen von draußen, sogar den Flug der Vögel:

"The sound of Fado, the sound of children playing soccer, the sound of music, that drives across from the square, the birds, the motion of the birds, you see three birds cross the sky from the left and another from the left, these are the motion of the hands of the piano.""

Miles Davis, Nina Simone, Elis Regina, Charles Mingus, sie schätzt Musiker, die etwas gewagt und sich nicht verbogen hätten, sondern integer geblieben seien. Heute gebe es zu viel Ängstlichkeit, zu viele Showeffekte, die keinen Sinn machen.
"But the dignity of music needs to be maintained."

Die Würde der Musik sollte bewahrt bleiben, sagt sie, doch manche Elemente ihre eigenen Bühnenauftritte, ihre Inszenierung als Diva – all das könnte man auch unter der von ihr kritisierten Rubrik unnötige Showeffekte ablegen. Melody Gardot ist noch auf dem Weg, das ist zu spüren.

"Ich weiß nicht, wo ich heute ohne diesen Unfall wäre. Aber ich bin dankbar dafür, obwohl es sehr schwer für mich war, er hat mich verändert. Ich wurde zu einer alten und jungen Frau in einer Person. Es gibt Tage, die sind unglaublich hart und andere, die sind voller Leichtigkeit. Durch den Unfall habe ich sehr viele Lektionen gelernt, die ich sonst vielleicht erst mit 80 gelernt hätte."