Glück, Geschick und Diplomatenkunst

11.04.2013
Die Neue Ostpolitik ist der Schwerpunkt dieses Buchs. Egon Bahr plaudert sehr unterhaltsam über die Begegnungen, in denen sich entschied, ob die Entspannungsvision Realität wurde. Willy Brandt spielt aber nicht die große Rolle, die der Untertitel behauptet.
Es ist ein eigenartiges Buch, bei dessen Lektüre man immer wieder verwundert nachschlägt: Wie war noch der Titel? "Das musst du erzählen" – okay, das passt, wenn es um die praktische Ebene der Ostpolitik in den 1960er/70er-Jahren geht. Aber "Erinnerungen an Willy Brandt", wie der Untertitel verheißt? Der, an den erinnert werden soll, spielt über weite Strecken nur am Rande eine Rolle.

Ein Beispiel: das Kapitel "In Moskau", Auftakt zu Teil drei des Buches, "Triumph und Tragik", das vom Durchbruch der Neuen Ostpolitik, vom SPD-Wahlsieg 1972 und vom bitteren Ende der Kanzlerschaft Brandts handelt. Da ist Brandt 15 Seiten lang fast komplett verschwunden. Er taucht erst wieder auf, als Bahrs Verhandlungen in Moskau erfolgreich abgeschlossen sind. Dann erfahren wir, wie Brandt bei einem Washington-Besuch über US-Präsident Nixon lästert, wie er abgehört wird und dass Nixon Brandt für einen unsympathischen Trinker hält.

"Erinnerungen an Willy Brandt"? Man darf von diesem Untertitel nicht zu viel erwarten. Eher muss man ernst nehmen, was Egon Bahr in seiner "Vorbemerkung" schreibt: "Nähe erlaubt Einblicke in Persönlichstes, das nur so weit berührt werden darf, um eine Freundschaft zu illustrieren. Das verlangt der Respekt vor Lebenden und Toten." Bahr, einer der fähigsten Diplomaten der bundesrepublikanischen Geschichte, tritt Brandt auch Jahrzehnte nach seinem Tod nicht zu nahe. Private Geheimnisse bleiben privat. Das hat Stil. Aber die Irritation bleibt, dass Bahr so viel über sich und so wenig über Brandt schreibt.

Zu diesem Buch hätte eher ein Untertitel gepasst wie: "Meine Zeit mit Willy Brandt". Denn darum geht es: wie er Willy Brandt kennenlernt; wie Brandt sich in West-Berlin durchsetzt; ihn, den RIAS-Journalisten, zu sich ins Rathaus Schöneberg holt; wie der Mauerbau zum großen Umdenken der beiden Kalten Krieger führt; wie die Neue Ostpolitik durchgesetzt wird; wie Brandt stürzt und danach zu einer allseits respektierten politischen Persönlichkeit wird.

Bahrs großes Thema, die Neue Ostpolitik, ist der Schwerpunkt auch dieses Buchs. In seiner umfangreichen Autobiografie hat er detailliert darüber geschrieben. Dieses Buch könnte man, ein weiterer möglicher Untertitel, als "Bahr für Eilige" bezeichnen. Er plaudert sehr unterhaltsam über die Begegnungen, in denen sich entschied, ob Brandts und Bahrs Entspannungsvision politische Realität wurde. Man bekommt einen Eindruck davon, wie viel Glück und Geschick immer wieder nötig waren, um zum Gewaltverzicht mit Moskau, zum Berlin-Abkommen und zu den vertraglichen Regelungen mit der DDR zu kommen. Welche diplomatische Kunst darin steckte, den scheinbar unüberbrückbaren deutsch-sowjetischen Gegensatz bei den Nachkriegsgrenzen aufzulösen, indem das Wort "Unverletzlichkeit der Grenzen" gewissermaßen erfunden wurde. Nichts war selbstverständlich, was heute reale Geschichte ist.

Schwerer Burnout durch persönliche Überforderung
Beide, Brandt und Bahr, hatten genau im Kopf, dass sie als westdeutsche Politiker aus einer vergleichsweise schwachen Position heraus die Supermächte dazu bringen mussten, ihren Vorstellungen von Entspannungspolitik auf deutschem Boden zu folgen. So gelang es ihnen, die Bundesrepublik wieder zu einem handlungsfähigen politischen Akteur auf der Weltbühne zu machen. Aber die persönliche Überforderung war bei beiden derart groß, dass beide danach einen schweren Burnout erlebten.

Wie nahe mögen sie sich persönlich gekommen sein? Zum "Auftakt" lesen wir, dass Brandt auf dem Sterbebett bei der Frage nach seinen Freunden geantwortet habe: "Egon". Wer sich in dieses Buch vertieft, bekommt einen Eindruck davon, was damit gemeint ist: eine perfekte politische Freundschaft. Brandt blieb für Bahr in jedem Augenblick der Zusammenarbeit der Chef. Beide vertrauten sich vollständig, hatten höchsten Respekt voreinander, weil sie einander in ihren Fähigkeiten perfekt ergänzten. Verrat war undenkbar. Nicht die Spur von Neid wird erkennbar, dass Willy den Ruhm erntete. Umgekehrt sorgte sich Brandt, dass Bahrs Leistung nicht genügend gewürdigt werde.

Bei aller Verbundenheit blieb eine Distanz, die sich auch in der Sprache niederschlägt: "der Freund" lesen wir immer wieder; nicht "mein Freund". Als Bahr gegen Ende seines Buches dann doch noch Brandt ins Zentrum seiner Darstellung rückt, beschreibt er als genauer Beobachter dessen politischen Charakter. Seine Verletzlichkeit und sein Durchhaltevermögen, seine Selbstsicherheit und sein Machtbewusstsein, das viel ausgeprägter gewesen ist als gemeinhin angenommen. Hier erfährt man, warum Brandt eine außergewöhnliche Gestalt gewesen ist – und zugleich, welche kaum ausgesprochenen Lasten nicht nur er aus der NS-Zeit mit sich schleppte, sondern auch Bahr und Schmidt. Derjenige, der schweigsam die größte Last mit sich trug, ist für Bahr allerdings eine persona non grata: Herbert Wehner, der Brandt hintergangen hat.

Am Ende hat es sich doch gelohnt, dieses Buch zu lesen, auch wenn es den falschen Untertitel hat.

Besprochen von Winfried Sträter

Der frühere Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) im Jahr 1972
Willy Brandt 1972© AP
Egon Bahr: "Das musst du erzählen". Erinnerungen an Willy Brandt
Propyläen Verlag, Berlin 2013
240 Seiten, 19,99 Euro
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