Globalisierung

"Der Lebensstandard im Westen wird nicht zu halten sein"

Der Autor Pankaj Mishra gilt als der "Intellektuelle der Globalisierung".
Der Autor Pankaj Mishra gilt als der "Intellektuelle der Globalisierung". © Deutschlandradio / Oranus Mahmoodi
Pankaj Mishra im Gespräch mit Dieter Kassel · 20.06.2017
Und wenn US-Präsident Donald Trump noch so oft "America First" sagt - die USA werden genauso wenig "great again" werden wie der Rest des Westens, meint Pankaj Mishra, Autor des Buches "Das Zeitalter des Zorns". Die Zeit grenzenlosen Wachstums und Fortschritts sei einfach vorbei.
Wir leben in einem "Zeitalter des Zorns", sagt der indische Schrifsteller Pankaj Mishra – und so hat er auch sein neues Buch genannt.
Ob Brexit-Votum, der Wahlsieg Donald Trumps in den USA oder der islamistische Terror in vielen Regionen der Welt: all das seien "Variationen von politischer Wut", hinter denen oft enttäuschte Erwartungen an die Globalisierung und deren Versprechen stehe, sagte Mishras im Deutschlandfunk Kultur. Dieses Versprechen sei jedoch nicht einzulösen, so der Schriftsteller.
"Wir müssen uns von gewissen Ideen einfach verabschieden, dass endloses Wachstum und Wirtschaftswachstum immer wieder möglich sei. Das ist unhaltbar. Wir müssen neue Wege gehen und diese ganzen alten Ideologien, die uns das immer wieder versucht haben, zu suggerieren, die haben einfach versagt."
Dazu gehört Mishras zufolge auch, dass die Politiker im Westen der eigenen Bevölkerung endlich die Wahrheit sagen sollten.
"Sie müssen ihnen einfach sagen, dass durch die Globalisierung sehr viele Jobs verschwinden werden, dass es neue Player geben wird, und dass auch der Lebensstandard im Westen nicht zu halten sein wird. Und wenn gesagt wird, Amerika soll wieder groß werden, wie Trump das tut, dann muss man dem entgegensetzen, Amerika wird nicht mehr so groß werden, wird nicht mehr so bedeutend werden, wie es einmal war, und wenn es noch einmal bedeutend werden sollte, dann vielleicht in einer ganz anderen Art und Weise, als wir uns das heute vorstellen."
(uko)

Pankaj Mishra: "Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart"
Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff
Verlag S. Fischer
416 Seiten, 24 Euro. Erscheint am 22. Juni.


Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: "Das Zeitalter des Zorns" hat der indische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Pankaj Mishra sein neues Buch genannt, das in dieser Woche auch in Deutschland erscheint, und er beschreibt in diesem Buch, wie die Enttäuschung darüber, dass noch immer bei Weitem nicht alle Menschen auf dieser Welt die gleichen Chancen und die gleichen Möglichkeiten haben, einen Zorn befeuert hat, der laut Mishra für scheinbar ganz unterschiedliche Phänomene verantwortlich ist: Brexit-Votum in Großbritannien, Trump-Wahl in den USA, islamistischer Terror in vielen Regionen.
Ob wirklich hinter all diesen und anderen Phänomenen die gleiche Wut, der gleiche Zorn steckt, das habe ich ihn in unserem Gespräch als Erstes gefragt.
Pankaj Mishra: Es ist natürlich nicht der gleiche Zorn. Es sind Variationen von politischer Wut, und für jeden gibt es ganz spezielle Gründe. Aber ich denke, es gibt eine gewisse Verbindung in diesem Zorn, der zurzeit weltweit zu spüren ist.
Und zwar basiert das einerseits natürlich auf der Globalisierung, es basiert auf Ungleichheit, es basiert auf sozialer Ungerechtigkeit, aber eben auch darauf, wie Politiker damit umgehen, dass sie sich dafür nicht verantwortlich fühlen. Wie Staaten die Verantwortung von sich weisen, und wie auch die Medien letztendlich versagen.
Und all diese Gründe führen eben dazu, dass es überall auf der Welt zurzeit eine Form von Wut gibt, die sich ausdrückt und die man auch fühlen kann.

Nicht die Ärmsten der Armen werden zu Terroristen

Kassel: Interessant ist aber, dass, wenn man sich offizielle Zahlen der Vereinten Nationen anguckt, es doch einige Dinge gibt, bei denen man feststellt, die Welt ist besser geworden, zum Beispiel in den letzten 20 Jahren. Die Anzahl der Menschen, die hungern, hat sich halbiert. Die Anzahl der Menschen, die Zugang zu vernünftigen Jobs haben, Bildung, Frauen, die Bildung haben. All das ist besser geworden. Woher kommt dieser Eindruck, den Sie ja offenbar auch haben, den Sie mit vielen Menschen teilen, dass alles immer nur schlimmer wird?
Mishras: Es gibt natürlich verschiedene Arten, wie man Fortschritt definiert und wie man ihn misst. Es hat auch sehr viel mit einer Erwartungshaltung zu tun. Es ist ja auch nicht so, dass die politischen Aktivisten von heute oder die, die dann zu Terroristen werden, nun wirklich die Ärmsten der Armen sind. Das sind ja sehr oft gut gebildete junge Männer, denen eigentlich der Weg versperrt worden ist, die auch auf Bildung und so was zurückgegriffen haben.
Oder aber in Ländern wie den USA ist es eben das, was man früher Arbeiterklasse genannt hat, die sich abgehängt fühlt und die dann Leute wie Trump wählt.
Bloß, wie gesagt, die Nutznießer von diesem Zorn sind einfach Leute, die in den letzten vier bis fünf Jahrzehnten nicht profitiert haben von diesem sogenannten Fortschritt, oder deren Weg einfach versperrt worden ist. Und davon rede ich jetzt nicht nur in Ländern wie den USA oder wie im Westen, sondern auch Ländern wie Indien oder den Nahen Osten, wo es solche Entwicklungen gibt.

Weltweit möchten Menschen am Wachstum teilhaben

Kassel: Sie haben, finde ich, gerade ein sehr wichtiges Wort benutzt, nämlich das Wort Fühlen. Sie haben gesagt, es geht um Menschen, die sich zurückgelassen, zurückgesetzt fühlen. Geht es tatsächlich um die Realität bei dem, worüber wir hier sprechen, worüber Sie schreiben, oder geht es auch um Bilder, um Medieneindrücke, weil viele Menschen einfach Bilder haben von den wenigen, denen es wirklich gut zu gehen scheint, die wirklich frei sind, die wirklich machen können, was sie wollen, Bilder, die ohnehin nicht der Realität entsprechen?
Mishra: Unsere Vergleichsmöglichkeiten haben sich einfach verändert. Als ich in den 1970er-, 1980er-Jahren in Indien aufwuchs in einer kleinen Stadt, kannte ich nur die Leute, die in meiner Stadt lebten und da fühlte mich relativ wohlhabend, obwohl ich statistisch gesehen aus einer sogenannten armen Familie stammte. Ich war aber definitiv besser dran als andere.
Heute ist das anders. Heute möchten Leute am Wachstum teilhaben, das sie ja weltweit spüren. Und unsere politischen und wirtschaftlichen Institutionen können damit einfach nicht mehr Schritt halten, und sie können diese Erwartungen auch nicht erfüllen.
Kassel: Womit wir natürlich bei der großen Frage wären, wer ist schuld daran? Ist es, wie Sie immer wieder auch in anderen Büchern geschrieben haben, der Westen, der eine Zukunft versprochen hat, die zum einen nicht erreichbar ist und zum anderen vielleicht auch für viele Menschen, die nicht im sogenannten Westen leben, gar nicht die richtige Zukunft wäre?
Mishra: Heute ist es einfach so, dass viele Menschen, die diesen Fortschrittsgedanken ebenfalls teilen, das Gefühl haben, in der Geschichte zurückgeblieben zu sein, und dieses Versprechen der Modernität hat sich zu einem hohlen Versprechen entwickelt, und das führt zu Zorn, das führt zu Wut. Das haben wir in Europa Ende des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts beispielsweise erlebt.

Der Fortschrittsgedanke birgt politische Risiken

Und heute, in der Zeit der Globalisierung, hat sich das noch verstärkt, dieses Gefühl, dass die Modernität einerseits natürlich etwas wie Emanzipation bedeutet, aber andererseits auch mit einer sehr dunklen Seite einhergeht, weil es eben sehr viele Leute gibt, die fühlen sich eben abgehängt, die fühlen sich verletzt, die fühlen sich gedemütigt, und die rufen dann nach dem starken Mann. Und dieser starke Mann hat dann einfach Lösungen parat, und das ist etwas, was es in der Geschichte immer wieder gegeben hat.
Kassel: Und wann immer es in der Geschichte passiert ist, hatte es sehr gefährliche Folgen, kam es zu Gewaltausbrüchen und zu Kriegen. Was uns natürlich zu der zweiten großen Frage führt, nämlich: Was sollen wir jetzt tun, wie können wir mit diesem Zorn, dieser Wut, die wachsen in der Welt, umgehen?
Mishra: Wir müssen einfach auch feststellen, dass dieser Fortschrittsgedanke, wo man uns immer wieder erzählt, die Lebenserwartung sei gestiegen, die Sterberate sei zurückgegangen, das sind alles Statistiken von Technokraten und von Journalisten, die als Beweise des Fortschritts gelten sollen.
Wir müssen uns aber dessen bewusst sein, dass es auch diese dunkle Seite dieser Fortschrittsideen gibt und welches politische Risiko sie eigentlich auch in sich tragen. Und es gibt dann die große Herausforderung durch die Natur: Wie gehen wir mit den Ressourcen um?
Wir müssen uns von gewissen Ideen einfach verabschieden, dass endloses Wachstum und Wirtschaftswachstum immer wieder möglich sei. Das ist unhaltbar. Wir müssen neue Wege gehen und diese ganzen alten Ideologien, die uns das immer wieder versucht haben, zu suggerieren, die haben einfach versagt.

Es wird neue Player geben

Kassel: Aber das würde doch bedeuten, dass der sogenannte Westen, die Menschen in der sogenannten ersten Welt allen anderen sagen müssen, das, was wir erlebt haben, das werdet ihr niemals haben und das könnt ihr nicht haben, dazu seid ihr auch zu viele. Es wird diesen Erfolg, diese Gleichstellung nicht geben, lernt damit zu leben. Glauben Sie, dass die Welt durch diese Erkenntnis friedlicher wird?
Mishra: Ich gebe zu, es wäre natürlich politischer Selbstmord, heute zu sagen, ihr werdet niemals den Lebensstandard erreichen, den wir oder den einige von uns mal gehalten haben. Aber das Problem von Politikern im Westen oder auch in den USA ist, dass sie der eigenen Bevölkerung langsam die Wahrheit sagen müssen.
Sie müssen ihnen einfach sagen, dass durch die Globalisierung sehr viele Jobs verschwinden werden, dass es neue Player geben wird, und dass auch der Lebensstandard im Westen nicht zu halten sein wird. Und wenn gesagt wird, Amerika soll wieder groß werden, wie Trump das tut, dann muss man dem entgegensetzen, Amerika wird nicht mehr so groß werden, wird nicht mehr so bedeutend werden, wie es einmal war, und wenn es noch einmal bedeutend werden sollte, dann vielleicht in einer ganz anderen Art und Weise, als wir uns das heute vorstellen.

"Ich habe ein Recht darauf, wütend zu sein"

Kassel: Ganz zum Schluss – ich wollte eigentlich damit anfangen, jetzt hören wir damit auf: Diese Wut, von der Sie schreiben, diesen Zorn, den Sie in so vielen Ecken der Welt finden, spüren Sie diesen Zorn manchmal selbst?
Mishra: Wenn ich wütend werde, versuche ich das schon irgendwie noch im Zaum zu halten. Aber die Apathie von Politikern, die Apathie, die Blindheit mächtiger Menschen, die regt mich dann schon auf, wenn sie behaupten, sie hätten die richtige Formel gefunden, wenn sie Ideologien verbreiten wie beispielsweise in Großbritannien oder in den USA, von denen sie meinen, die müssten sich weltweit ausbreiten, dieser neoliberale Kapitalismus, dass der weltweit sozusagen die Rettung bringt, das geschieht in Indien auf einem anderen Level jeden Tag.
Wenn sich der Staat zurückzieht, wenn der Staat keine Verantwortung mehr übernimmt und Spekulanten und den Kräften des Marktes freie Hand lässt. Und das macht mich wütend, und ich glaube aber, ich habe auch ein Recht darauf, wütend zu sein.
Kassel: Pankaj Mishra, indischer Literaturwissenschaftler und Schriftsteller. Das Gespräch hat Jörg Taszman übersetzt, und das neue Buch von Pankaj Mishra, "Zeitalter des Zorns", erscheint offiziell übermorgen in der deutschen Übersetzung im S.-Fischer-Verlag.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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