Gleichstellung

Jeder soll am Leben teilhaben

Die Nominierte für das Amt der stellvertretenden Bundestagspräsidentin, Ulla Schmidt, aufgenommen am 21.10.2013 zu Beginn der SPD-Fraktionssitzung im Reichstagsgebäude in Berlin.
Ulla Schmidt, stellvertretenden Bundestagspräsidentin und Vorsitzende der "Lebenshilfe“ © picture alliance / dpa / Foto: Wolfgang Kumm
Ulla Schmidt im Gespräch mit Marietta Schwarz · 05.05.2014
Der 5. Mai ist der europäische Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. So fordert Ulla Schmidt, Vorsitzende der "Lebenshilfe", die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes. Jeder habe das Recht auf eine Teilhabe an allen Lebensbereichen.
Marietta Schwarz: Der 5. Mai ist seit 20 Jahren der europäische Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Die Diskussion hierzulande kreist momentan vor allem um Inklusion an Schulen, doch über den ganz normalen Alltag oder die Situation für Menschen mit Behinderung im Erwerbsleben wird ziemlich wenig gesprochen. Und die hat häufig mit der geforderten Teilhabe wenig zu tun. Ein neues Gesetz soll das ändern, und dafür macht sich die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt stark, Vorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe. Guten Morgen, Frau Schmidt!
Ulla Schmidt: Guten Morgen, Frau Schwarz!
Schwarz: Beispiele für Nichtteilhabe von Behinderten gibt es ja tausendfach, eines konnte man kürzlich in der "Zeit" lesen: Journalistin mit ALS-Diagnose bewirbt sich bei einem öffentlich-rechtlichen Sender für eine Redakteursstelle und bekommt eine Absage mit den Worten: Ihre Bewerbung war gut aber wir müssen auch an die Zukunft denken! Das ist, Frau Schmidt, trotz Behindertenquote möglich. Warum?
Schmidt: Ja, das ist die gute Frage, warum. Weil immer noch von vielen gedacht wird, Menschen, die eine Beeinträchtigung oder Behinderung haben, hätten vorwiegend Defizite und würden eigentlich das ganz normale Leben vielleicht stören. Und anstatt zu sehen, welche Fähigkeiten gerade auch Menschen, die eine ALS-Erkrankung haben, mitbringen und was sie einbringen können… Die Frage der Zukunft stellt sich nie, wenn ich mich dann bewerbe, weil, ich kann auch morgen erkranken. Die meisten Behinderungen und Beeinträchtigungen werden im Laufe des Lebens erworben und deshalb ist das eine wirklich diskriminierende Absage und dürfte bei einem öffentlich-rechtlichen Sender überhaupt nicht gegeben werden. Und ich wäre sehr froh, wenn die Dame mit ALS mich anschreiben würde, dass man auch da entsprechend weiter vorgehen könnte.
Schwarz: Ein Viertel aller Unternehmen, Frau Schmidt, kaufen sich von dieser Behindertenquote mit Ausgleichsabgaben frei. Würden Sie sagen, es ist ein Akzeptanzproblem?
"Jeder Mensch, der hier lebt, hat das Recht auf Teilhabe"
Schmidt: Viele Barrieren sind ja real da, die haben wir bei den Mobilitätseingeschränkten, bei Menschen mit Sinneseinschränkungen, dass Menschen, die blind sind, sehbehindert sind, gehörlos oder hörgeschädigt, oft sich gar nicht zurechtfinden können, weil die Umwelt nicht darauf eingeht. Viele Barrieren sind in den Köpfen und vielfach hat es in Deutschland eine Haltung gegeben, die gesagt hat, die Menschen haben Beeinträchtigungen, wir müssen etwas für die tun, die tun uns ja so leid, aber nie hat es die Diskussion wirklich intensiv als eine große gesellschaftliche Diskussion gegeben, wie wir sie jetzt, wie ich feststelle, doch breiter nach der Behindertenrechtskonvention auch führen, zu sagen, jeder Mensch, der hier lebt, hat das Recht auf Teilhabe, und wir wollen eine Gesellschaft haben, in der jeder uneingeschränkt und selbstverständlich Bestandteil in einer Gesellschaft der Vielfalt ist.
Wir haben ältere Menschen, wir haben jüngere Menschen, wir haben Menschen mit Sinnesbeeinträchtigung oder ohne, wir haben Menschen, die aus dem Ausland zu uns kommen, die Sprachprobleme haben, andere, die hier geboren sind; wir haben so viele Vielfältigkeiten und auch Menschen mit Beeinträchtigungen, die oft im Laufe des Lebens erworben werden durch Krankheit oder Unfälle, dass wir sagen müssen: Wir müssen uns alle verändern und wir müssen Arbeitsplätze so verändern, Gesellschaft verändern, Schule verändern – da ist es ja derzeit eine große Diskussion, Schule für alle –, dass wirklich jeder mitmachen kann und wir uns alle ein Stück bewegen müssen. Und das ist das, was manchmal auch ganz schwer fällt, dass die Menschen lernen müssen, jeder von uns muss sich verändern, damit alle das Recht auf Teilhabe haben, und jeder muss wissen, es ist gut, wenn ich mich da engagiere, weil, ich kann morgen auch zu denen gehören, die eine schwerwiegende Beeinträchtigung meines Lebens haben, eine schwerwiegende Beeinträchtigung haben, die mir eine selbstverständliche Teilhabe an der Gesellschaft nicht mehr so möglich macht ohne Unterstützung. Und …
Schwarz: Würden Sie sagen, das ist auch ein politisches Versagen, dass wir Deutschen doch sehr verkrampft mit Behinderung umgehen?
Schmidt: Na ja, es ist auf jeden Fall so, dass wir schneller die gesetzlichen Rahmenbedingungen machen müssen, dass in den Köpfen ist, dass Barrierefreiheit ein Grundrecht ist, was wir im … Wir haben das ja im Grundgesetz geändert, wir haben das 2001, das Sozialgesetzbuch IX, wir haben die Behindertenrechtskonvention unterschrieben, Antidiskriminierungsgesetz, aber wir müssen stärker darauf drängen, dass es jetzt wirklich nach vorne geht. Einer der Lackmusteste, wie das auch gehen wird, wird die Frage der Diskussion eines Bundesteilhabegesetzes werden.
Schwarz: Was genau soll dieses Gesetz bewirken?
"Es ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen"
Schmidt: Das soll bewirken, dass wirklich Nachteilsausgleich für Menschen, die eine Beeinträchtigung haben, wie selbstverständlich auch vom Staat geleistet wird, und dass wir dahin kommen und sagen: Der Mensch ist ja nicht an sich behindert, sondern die Umwelt behindert, dass er mit seiner Beeinträchtigung mitmachen kann. Und ein Bundesteilhabegesetz stellt die Teilhabe in den Mittelpunkt. Es geht nicht um Fürsorge, wir müssen nicht anderen karitativ helfen, damit sie auch ein bisschen zu uns gehören, sondern der große Grundanspruch ist: Jeder soll teilhaben können am Leben, an der Schule, an Bildung, an Beruf, an Gesellschaft im Alter oder in der Jugend. Und das Wichtigste eines Bundesteilhabegesetzes ist, dass eine Anerkennung… Es ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen.
Das Zweite ist, dass wir sagen: Das, was ein Mensch braucht mit einer schwerwiegenden Beeinträchtigung, damit er teilhaben kann, ist nicht seine individuelle Aufgabe, sondern Aufgabe des Staates. Und deshalb ist das Dritte, dass man sagt: Diese Leistungen dürfen nicht weiter in der Sozialhilfe angesiedelt sein, in der Grundsicherung. Denn heute ist es so, dass Menschen zwar Ansprüche haben, aber viele der Ansprüche gesagt wird, erst mal bist du selbst dafür verantwortlich, du hast es zu zahlen, du hast dein ganzes Vermögen aufzubrauchen, und nur wenn du nichts mehr hast, dann ist der Staat da. Dieses Denken – du bist selbst verantwortlich – trägt ja viel mit dazu bei, dass sich die Gesellschaft nicht verantwortlich fühlt oder die anderen, diese Teilhabe für alle zu ermöglichen.
Schwarz: Bislang werden 90 Prozent der Eingliederungshilfe in stationäre Maßnahmen gesteckt, also die sogenannten Sonderschulen – das nennt man ja heute auch kaum noch so –, Behindertenschulen …
Schmidt: Förderschulen, ja.
Schwarz: Förderschulen, genau. Wird es künftig, soll es dann auch eine Umverteilung geben?
"Die Gesellschaft wird profitieren"
Schmidt: Es muss. Die Schule für alle muss geschaffen werden und das ist ein Prozess, das wissen wir auch. Wir können nicht heute ein Gesetz machen, jetzt ist die Schule für alle da, sondern das muss sich entwickeln, wir brauchen eine Umstellung der Pädagogik. Nicht nur die Schulen müssen anders baulich im Grunde genommen ausgerüstet sein oder auch für Menschen mit Sehbehinderung oder für Menschen mit schwerwiegenden intellektuellen Beeinträchtigungen verändert werden, sondern wir brauchen eine Pädagogik, die vom einzelnen Kind ausgeht und den Förderbedarf vom einzelnen Kind her entwickelt. Und das ist jetzt ein Prozess, wo es eine große Diskussion gibt. Aber auch da muss klar sein: Es ist kein Sparmodell! Eine Schule für alle kostet zunächst einmal Geld, wir müssen investieren. Die Gesellschaft wird profitieren. Denn unsere Gesellschaft kann sich auch nicht erlauben, dass 50.000 Schüler pro Jahr ohne Abschluss die Schule verlassen.
Schwarz: Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende des Vereins Lebenshilfe. Danke Ihnen, Frau Schmidt, für das Gespräch!
Schmidt: Bitte, Frau Schwarz!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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