Glanz und Illusion der zwanziger Jahre

Rezensiert von Rainer Moritz · 28.06.2006
F. Scott Fitzgeralds "Der große Gatsby" ist ein Spiegel der "roaring twenties". Genusssucht und Langeweile sind das Signum dieser Epoche. Nirgends wird die müde Leere der mondänen High Society-Welt brillanter geschildert als in Fitzgeralds großartigem Roman, der jetzt in einer Neuedition im Diogenes-Verlag erschienen ist.
Francis Scott Fitzgerald (1896-1940) steht wie kein anderer amerikanischer Autor für den künstlich gesteigerten Reichtum, der sich in den 1920er Jahren an der Ostküste der Vereinigten Staaten ausbreitete, für die "roaring twenties", die bis zu ihrem grausamen wirtschaftlichen Niedergang zahllose Sumpfblüten der dekadenten Eleganz hervortrieb.

Fitzgeralds Image als reicher, "unvollendet" gestorbener Snob stand der Rezeption seines Werkes oft entgegen. Um so erfreulicher ist es, dass der Diogenes Verlag die fünf Romane nun in Neuübersetzungen vorlegt, erhältlich als Einzelbände oder - für den, der es nobler haben möchte - als Kassette mit edler Leinenausstattung und versehen mit kundigen Nachworten von Heinrich Detering, Manfred Papst oder Paul Ingendaay. Darin finden sich unter anderen Zärtlich ist die Nacht, der Fragment gebliebene Roman Die Liebe des letzten Tycoon und nicht zuletzt Der große Gatsby, 1925 zuerst erschienen und von Bettina Abarbanell vorzüglich übersetzt.

Was macht dessen Einmaligkeit aus? Auf den ersten Blick will es scheinen, als ginge es um die Schilderung mondäner Jazz-Ära-Partys, die ein obskurer Neureicher auf Long Island zur Belustigung sich chic fühlender New Yorker gibt. Man fährt in eleganten Limousinen vor, blickt auf den Strand, schüttet Champagner in sich hinein oder den Saft frisch gepresster Orangen, die in Wagenladungen angekarrt werden, um den Bedürfnissen der saturierten Schönen gerecht zu werden.

Erzählt wird das Ganze aus der Perspektive eines eher unscheinbaren jungen Mannes, Nick Carraway, der im Begriff ist, sich im Börsengeschehen New Yorks durchzusetzen. Sein Nachbar auf Long Island ist der 30-jährige Jay Gatsby, dessen Einkünfte so bedeutend wie unerklärlich sind.

Genusssucht und Langeweile sind untrennbar miteinander verbunden und strahlen eine müde Leere aus, die zum Signum der Epoche wird. Mit meisterlich eingesetzter Kargheit umreißt Fitzgerald die Szenerie, in deren Mitte dieser rätselhafte, in rosafarbenen Anzügen auftretende Gatsby thront. Woher dieser Mann kommt, weshalb er seinen Namen änderte, welchen (dubiosen) Geschäften er seinen unermesslichen Reichtum verdankt, was er damit bezweckt, "alle diese Leute" zu bewirten - das bleibt im Dunkeln.

Nach und nach stellt sich heraus, warum sich Gatsby hier niedergelassen hat: Er will seine Jugendfreundin Daisy, Nicks Cousine, wiedersehen, die inzwischen den reichen und reichlich ungehobelten Tom Buchanan geheiratet hat. Dieser hält sich, ohne ein Geheimnis daraus zu machen, eine Geliebte, Myrtle Wilson, die Frau eines Tankwarts und Autohändlers, und kann dem Getue um Gatsby wenig abgewinnen. Schritt für Schritt steuert der Roman auf die Katastrophe zu.

Der Machtkampf zwischen Buchanan und Gatsby mündet in eine Katastrophe: Daisy entscheidet sich für das sichere Geld ihres Mannes, und nach einem Aufenthalt in New York fährt Daisy, am Steuer von Gatsbys gelbem Wagen sitzend, die Geliebte ihres Mannes zu Tode. Deren Mann hält Gatsby für den Schuldigen und erschießt ihn und sich. Am Ende treibt Gatsbys Leiche - ein grandioses Bild - auf der Luftmatratze im Pool, den er den ganzen Sommer über nicht genutzt hatte.

Ja, Der große Gatsby lässt sich als Spiegel einer kurzen Ära verstehen, die sich im schillernden Reichtum obskurer Herkunft gefiel. "Leichtfertige Menschen" bewegen sich durch diese Scheinwelt und lassen "andere das Chaos beseitigen", das sie anrichten. Doch vor allem ist Der große Gatsby ein Arsenal der verschlüsselten Botschaften, der rührenden Momente voller ungezähmter Leidenschaften. Manche Bilder dieses Romans vergisst man nie wieder: das sorgsame geschnittene Gras vor Nicks Haus, das Küchenstillleben mit Daisy und Tom vor einem Teller mit kaltem Huhn und zwei Flaschen Bier:

"Sie waren nicht glücklich, und keiner von beiden hatte das Huhn oder das Ale auch nur angerührt - aber unglücklich waren sie auch nicht."

F. Scott Fitzgerald: Der große Gatsby
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
Diogenes Verlag , 19 € 90
Die fünfbändige Gesamtausgabe: 95 €