Giovanni di Lorenzo über Schmähgedicht-Debatte

"Böhmermann hat sichtbar gemacht, was für ein Mensch Erdogan ist"

Der Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit", Giovanni di Lorenzo, hält am 02.04.2014 im Schauspielhaus in Hamburg eine "Zeit"-Ausgabe mit einem Lokalteil für Hamburg. Die "Zeit" erscheint am 3. April erstmals mit einem Lokalteil für Hamburg.
Wie "Die Zeit" mit dem Fall Böhmermann umgehen wird, erklärt Giovanni di Lorenzo in "Studio 9". © picture alliance / dpa
Giovanni di Lorenzo im Gespräch mit Liane von Billerbeck und Hans-Joachim-Wiese  · 12.04.2016
Der Journalist Giovanni di Lorenzo von der Wochenzeitung "Die Zeit" hat sich im Deutschlandradio Kultur hinter den Satiriker Jan Böhmermann gestellt. Dessen so genanntes Schmähgedicht sei hinreichend als Satire gekennzeichnet gewesen.
Jan Böhmermann hat inmitten der Kontroverse um sein Schmähgedicht über den türkischen Präsidenten Erdogan seine nächste Sendung im ZDF abgesagt.
Auf der Facebook-Seite des Neo Magazins Royale heißt es, wegen der massiven Berichterstattung und dem damit verbundenen Fokus auf die Sendung und den Moderator Jan Böhmermann werde die nächste Ausgabe nicht produziert. Die Entscheidung sei in Abstimmung mit dem ZDF erfolgt. Die Sendung war für Donnerstag geplant.
Durch dieses so genannte Schmähgedicht hatte sich der türkische Präsident Erdogan beleidigt gefühlt und auf Grundlage des Paragraphen 103 Strafgesetzbuch ("Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten") von der deutschen Bundesregierung eine Strafverfolgung des Satirikers verlangt.

Überbleibsel aus Zeiten, in denen es Majestätsbeleidigung gab

Kommentatoren hatten zuletzt festgestellt, dass der Paragraph 103, der einen juristischen Unterschied in der Behandlung von Staatsmännern und –frauen und normalen Menschen macht, nicht mehr in die Zeit passe.
Dieser Meinung schloss sich im Deutschlandradio Kultur auch Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit", an. Er sagte:
"Ich glaube auch, dass man über kurz oder lang dazu kommen wird und muss, diesen Paragraphen wieder abzuschaffen, der ja ein Überbleibsel ist jener Zeiten, in denen es noch Majestätsbeleidigung gab."
Zu der hochgeschäumten Debatte um Böhmermann und sein Schmähgedicht meinte di Lorenzo:
"Der Fehler ist gemacht worden, als bekannt geworden ist, dass die Kanzlerin sich gegenüber dem türkischen Ministerpräsident quasi entschuldigt und die Äußerungen verurteilt hat. Das ist etwas, das, glaube ich, inzwischen auch im Kanzleramt so gesehen wird. Damit ist es zum Politikum und somit ist es eine riesige Geschichte geworden."

Auch die Juristen sind gespalten in der Sache

Die Bundesregierung sei nun in einem Dilemma. Mit einer Strafverfolgung Böhmermanns setze sie sich dem Verdacht aus, vor dem türkischen Despoten zu kuschen. Entscheide sie sich gegen diese, müsse sie die Rache Erdogans fürchten, in dessen Hände sie sich ja mit dem Flüchtlingsdeal begeben hat.
Di Lorenzo meinte dazu: "Richter sollen darüber entscheiden – und nicht Politiker, ob das Beleidigung ist oder nicht." Tatsächlich seien aber auch die Juristen, "was mich wirklich verwundert", so der Journalist, gespalten – "fifty-fifty in etwa".
Er selbst kam im Interview mit Deutschlandradio Kultur hingegen zu einem klaren Urteil:
"Meines Erachtens war das keine besonders glückliche Satire, aber sie war hinreichend als solche gekennzeichnet. Und, man muss auch sagen, Böhmermann ist etwas gelungen, was in vielen Leitartikeln, Interviews und Reportagen nicht gelungen ist – nämlich überall sichtbar zu machen, was für ein Mensch Erdogan ist."
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