Giftige "Wundermittel"

Warum von Aprikosenkernen Gefahr droht

Ein Eimer voll Aprikosen mit Kernen daneben
Wie gefährlich sind Aprikosenkerne? Sie werden von Heilern empfohlen. © picture alliance / dpa / ITAR-TASS / Vladimir Smirnov
Von Udo Pollmer · 22.09.2017
Ein "Vitamin B17" wird aktuell von Heilern empfohlen: Beim eigentlich gemeinten Amygdalin sei aber Vorsicht geboten, warnt unser Lebensmittelchemiker Udo Pollmer. Es werde etwa in Form von Aprikosenkernen verabreicht - von denen jedoch akute Gefahr ausgehe.
Mögen Sie Agatha Christie? In ihren Krimis ließ sie die Mordopfer vor allem durch Zyankali oder Strychnin aus dem Leben scheiden. Nun, die Zeiten sind vorbei. Stöbert man jedoch im hochmodernen Internet, dann könnte der Eindruck entstehen, es handele sich bei den besagten Giften eher um verkannte Heilmittel.
Wenn alles, was "gesund" sein soll, bitter schmecken muss, was wäre da geeigneter als das gallebittere Strychnin? Deshalb gaben es früher sparsame Brauer als Hopfenersatz ins Bier. Ärzte verordneten Strychnin als Universalmedizin und empfahlen es sogar jungen Sportsfreunden zur Steigerung der Leistung.
Medizinstudenten schluckten es zur Förderung der Konzentration. Wir wissen nicht, wie viele Menschen die Idee vom gesunden, weil bitterem Strychnin mit ihrem Leben bezahlt haben. In manchen Ländern ist das Rattengift bis heute Bestandteil traditioneller Heilmethoden.

Amygdalin als Gesundbrunnen?

Zu den aktuell als Gesundbrunnen beworbenen Giften gehört das Lieblingsgift von Agatha Christie: Zyankali. Natürlich sprechen unsere Heiler lieber von "Vitamin B17". Gemeint ist Amygdalin, aus dem Blausäure freigesetzt wird – der verbleibende Rest ist Traubenzucker und Benzaldehyd, ein Aromastoff, der nach Mandellikör riecht. Blausäure ist auch der giftige Teil von Zyankali. Im Zeitalter des Internets wird sie in Form von Aprikosenkernen empfohlen, das darin enthaltene Amygdalin soll nämlich dem Krebs vorbeugen.
Amygdalin als Molekülmodell: Das Glycosid kommt unter anderem in Aprikosenkernen vor.
Amygdalin als Molekülmodell: Das Glycosid kommt unter anderem in Aprikosenkernen vor.© imago / Science Photo Library
Immer wieder wird von den Behörden vor blausäurehaltigen Speisen gewarnt, unlängst vor "Süßen Aprikosenkernen". Die Warnung stammt vom Europäischen Schnellwarnsystem, dort waren ein paar Wochen vorher die Fipronil-belasteten Eier publik gemacht worden. Im Unterschied zu den Eiern, die ohne jedes Risiko verzehrt werden können, geht von den Aprikosenkernen eine akute Gefahr aus.
In Schweden warnten die Behörden unlängst vor Leinsamenschrot, denn auch Leinsamen versuchen, sich mit diesem Gift ihrer Fraßfeinde zu erwehren. Kürzlich landete ein vorwitziger Brite mit einer Blausäurevergiftung im Krankenhaus. Er hatte drei Kirschkerne geknackt und den Inhalt verspeist.

Vorsicht bei Steinobstkernen

Es hat schon seine Gründe, warum wir die Kerne von Steinobst gewöhnlich nicht essen, sondern ausspucken. Lediglich die Mandeln machen eine Ausnahme, weil es gelungen ist, blausäurefreie Mandelkerne zu züchten. Nun obliegt es den Landwirten, die Schädlinge von den Mandelbäumen fernzuhalten.
Etwas anderes gilt für bittere Mandeln, sie dürfen nur in Kleinstmengen gehandelt werden, um Blausäure-Vergiftungen durch naschhafte Kinder zu verhindern. Auch ist zu bedenken, dass nicht jeder Mensch das Bittermandelaroma erriechen kann. Das erhöht die Vergiftungsgefahr.
Mit der Zahl der Exoten in unserer Küche steigt auch das Risiko. Ein Beispiel ist die Süßkartoffel. Ihr Gehalt an Blausäure ist jedoch kein Problem, solange sie wie unsere Kartoffel gekocht wird und das Kochwasser auch im Ausguss landet. Unsere Speisekartoffeln enthalten keine Blausäure dafür aber a-Chaconin und Solanin. Die gehören zur gleichen Stoffklasse wie Strychnin – hochgiftige natürliche Pestizide.

Korrekte Knollen-Zubereitung beachten

Ein wichtiges Grundnahrungsmittel in Lateinamerika, Asien und Afrika sind die Cassavaknollen, auch als Maniok bekannt. Wenn Pflanzenschutzmittel fehlen oder zu teuer sind, werden Nutzpflanzen mit hohen Gehalten an natürlichen Pestiziden angebaut, um Schädlingsfraß zu vermeiden.
Die Cassava schützt sich mit Linamarin, das gerade so wie das Amygdalin in Mandeln und Aprikosenkernen Blausäure freisetzt. Leider wird bei der ziemlich aufwendigen, oft mehrere Tage dauernden Zubereitung von Cassava immer wieder geschlampt.
Das ist die Ursache zahlreicher Ausbrüche einer schweren neurologischen Erkrankung namens Konzo. Bei regelmäßigem Verzehr greift das Gift das Rückenmark an und verursacht Lähmungen. Betroffen sind vor allem Frauen und Kinder.
Für die Gesundheit ist es sekundär, wo welcher vermeintliche Vitalstoff drin sein soll, viel wichtiger ist die Kenntnis einer korrekten Zubereitung. Mahlzeit!

Literatur
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McGarry RC et al: Please pass the strychnine: the art of Victorian pharmacy. Journal of the Canadian Medical Association 1999; 161: 1556-1558
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Anon: Bittere Aprikosenkerne in der Krebstherapie. Zentrum der Gesundheit, blog vom 17. Feb. 2017
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Pollmer U: Auf den Geschmack gekommen. Warum Kinder Kürbis-Süppchen und Zucchinigemüse nicht mögen. Deutschlandfunk Kultur, Mahlzeit, Beitrag vom 18.10.2009

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