Giftgas in der Kriegsführung

Der unsichtbare Feind

Ein deutscher Soldat in einem Schützengraben vor Ypern am 24. April 1915.
Ein deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg in einem Schützengraben vor Ypern (Belgien) am 24. April 1915. © picture alliance / dpa
Von Ralf Bei der Kellen und Susanne von Schenck · 22.04.2015
Erster Weltkrieg, Anfang 1915: Von der Kanalküste bis in die Vogesen ist die Westfront erstarrt. Es muss Bewegung in den Krieg - um jeden Preis. Am 22. April setzen die Deutschen erstmals Giftgas ein und öffnen die Büchse der Pandora.
//Bent double, like old beggars under sacks,
Knock-kneed, coughing like hags, we cursed through sludge,
Till on the haunting flares we turned our backs
And towards our distant rest began to trudge.
Men marched asleep. Many had lost their boots
But limped on, blood-shod. All went lame;
all blind; Drunk with fatigue; deaf even to the hoots
Of tired, outstripped Five-Nines that dropped behind.//
//Gas! Gas! Schnell Jungs! - Die Raserei von Fingern,
Die plumpen Masken grad noch aufzuschnallen;
Nur einer schrie noch laut im Schlingern,
Wie einer, der in Feuer oder Kalk brennt, im Fallen.
Verschwommen durchs beschlagne Glas, Licht so grün und dick
Wie unter einem grünen Meer: so sah ich ihn ertrinkend.//
Ende 1917 verfasst der Brite Wilfred Owen das vielleicht berühmteste Gedicht des Ersten Weltkriegs. Es beschreibt den Tod eines namenlosen Soldaten bei einem Giftgasangriff. Owen selbst stirbt eine Woche vor Kriegsende auf den Schlachtfeldern Frankreichs im Alter von 25 Jahren. Der Titel seines Gedichtes: "Dulce et decorum est" - Süß und ehrenvoll ist's".
//Wenn du nur einmal in würgendem Traum
Hinter dem Karren gingst, auf den wir ihn geworfen,//
Britische Soldatennamen werden verlesen (Friedhof Tyne Cot)
//Und hörtest du, wie ihm das Blut bei jedem Stoß
Gurgelnd aus schaumverstopften Lungen quillt,//
//Nie würdest du, Freund, Kindern eine Story
Von Krieg und Ruhm servieren und den Rest
Des alten Lügenworts: Dulce et decorum est
Pro patria mori.//
"Süß und ehrenvoll ist's für's Vaterland zu sterben."
Die Ära der Massenvernichtungswaffen beginnt
Erster Weltkrieg, Anfang 1915. Von der Kanalküste bis in die Vogesen ist die Westfront erstarrt. Deutsche auf der einen Seite, Franzosen, Briten, Belgier und Kanadier auf der anderen Seite haben sich in einem erbitterten Stellungskrieg eingegraben. Keiner hat damit gerechnet. Die Munition wird knapp. Es muss Bewegung in den Krieg - um jeden Preis. Am 22. April gibt es Bewegung - etwas Rätselhaftes in der Luft. Französische Soldaten in ihren Schützengräben nahe der Stadt Ypern in Flandern nehmen es zuerst wahr.
Arthur Conan Doyle: "Sie sahen eine Erscheinung, die vielleicht eher auf den Seiten eines Ritterromans ihren Platz hätte als in den Aufzeichnungen eines Historikers. Aus den deutschen Schützengräben stiegen Strahlen eines weißlichen Dampfes auf, die herumwirbelten, sich sammelten und sich schließlich zu einer Wolkenfront zusammenschlossen - grünlich-braun am Boden und, wo sie die Strahlen der versinkenden Sonne reflektierte, gelblich. Vom Nordwind getrieben driftete diese unheilvolle Nebelbank rasch über das Land zwischen den Linien."
Meier: "In den französischen Stellungen war es so, dass sofort der kommandierende Offizier beim Generalstab nachgefragt hat, wie man sich jetzt verhalten sollte, da hat man ihm gesagt, das sei nicht wahr, der muss verrückt geworden sein, der Mann, was der da durch gibt, dass stimmt gar nicht, obwohl man vorher schon einen Überläufer deutscherseits hatte, der davor gewarnt hat, .. und als dann der zweite General auf seinem Abschnitt anrief, gegenüber lagen ja französische Kolonialtruppen und kanadische Einheiten, hat man gesagt: doch, jetzt tatsächlich, wir müssen die Leute rausnehmen, aber da war es im Prinzip für viele schon zu spät."
Was der britische Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle in seiner Geschichte der britischen Truppen im Ersten Weltkrieg beschreibt und der Militärhistoriker Martin Meier erklärt, ist das Öffnen der Büchse der Pandora, das Aufschlagen eines neuen Kapitels in der Kriegsführung: Mit dem ersten großangelegten Einsatz von Giftgas beginnt die Ära der Massenvernichtungswaffen.
Chilens: "Und plötzlich wird daraus diese Chemiewaffe, die es seitdem in der Welt ist. Es hat sich im Syrienkrieg wiederholt, im Iran-Irakkrieg, in Japan, im schrecklichen Vietnamkrieg usw."
Für Piet Chilens, Direktor des Flanders Fields Museum im belgischen Ypern, ist der Angriff vom 22. April 1915 ein folgenschwerer historischer Augenblick.
Chilens: "Es ist ein sehr, sehr starker Moment in der Geschichte."
Der britische Friedhof bei Ypern (Belgien) 
Auf dem Friedhof bei Ypern (Belgien) liegen die Gebeine von mehr als 600 Soldaten, die im Ersten Weltkrieg ums Leben gekommen sind.© picture alliance / dpa / Foto: Frank Schumann
1000 Soldaten sind sofort tot
An diesem Tag gegen 18 Uhr öffnen auf deutscher Seite Gaspioniere auf einem Frontabschnitt von sechs bis Kilometern Länge 5730 Stahlflaschen, aus denen flüssiges Chlor abgeblasen wird. Gut tausend Soldaten finden bei dem ersten Giftgasangriff mit einem Schlag den Tod, 2000 bis 3000 werden schwer verletzt - auf genaue Zahlen können sich Historiker nicht einigen. Die Deutschen selbst sind überrascht ob der Wirkung ihres Angriffs - so überrascht, dass es ihnen nicht gelingt, die Situation zu ihrem Vorteil ausnutzen. (hier evtl. kürzen:) Arthur Conan Doyle notiert:
"Sie hatten ihre Seele verkauft, aber der Preis, den ihnen der Teufel dafür gab, war armselig. Hätten sie ein Kavalleriecorps zur Stelle gehabt und es durch die entstandene Lücke geführt, dann wäre dies der gefährlichste Moment dieses Krieges gewesen."
Als an diesem Tag im April endlich der Wind aus der richtigen Richtung bläst, ist der Moment gekommen, auf den Fritz Haber gewartet hat. Der Direktor des Kaiser Wilhelm Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie ist der Mann der Stunde.
Fritz Haber wird 1868 in Breslau als Sohn eines jüdischen Farben- und Chemikalienhändlers geboren. Früh zeigt sich seine naturwissenschaftliche Begabung. Ab 1886 studiert er Chemie bei Robert Carl Bunsen in Heidelberg. Zwei Jahre später leistet er seinen Militärdienst. In diese Zeit fällt, so Wolfram Thiemann, emeritierter Professor für Chemie, ein Schlüsselerlebnis.
Thiemann: "Haber wurde begeistert in den Militärdienst einberufen (dabei), und hatte die Hoffnung, dass er es dort zum Reserveoffizier schaffen könnte. Aber es war absolut undenkbar, dass jemand aus einer jüdischen Familie in den Offiziersstand in Preußen ernannt werden konnte, das war eine ganz herbe Enttäuschung für ihn. Was sicherlich einen Schatten auf sein ganzes späteres Leben geworfen hat. Da bin ich ganz sicher, das war eine demütigende Erfahrung, die er also überhaupt nicht mehr in seinem Leben wegstecken konnte, dabei. Und das erklärt, warum er vielleicht später durch zivile Leistungen eben in der Chemie, in der Wissenschaft besonderes dem Vaterland dienen wollte."
Ammoniaksynthese als Schlüsseltechnologie
1893 konvertiert Fritz Haber zum protestantischen Glauben, um dem immer noch weit verbreiteten Antisemitismus zu entgehen. Als Chemiker macht er Karriere - und bald eine Erfindung, für die er später den Nobelpreis erhalten wird: die Ammoniaksynthese.
1908 von Fritz Haber und Carl Bosch entwickelt, wie Florian Schmaltz, Historiker am Berliner Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte erklärt.
Schmaltz: "Das heißt, die Gewinnung von Stickstoff aus der Luft mit einem chemischen Verfahren, was es ermöglichte, in großen Mengen Stickstoff zu produzieren. Das war entscheidend, weil Stickstoff nicht nur ein Element war, was in der chemischen Produktion für Düngemittel von großer Bedeutung gewesen ist, sondern auch für die Munitionsproduktion."
Denn - als der Erste Weltkrieg ausbricht, blockieren die Briten den Seeweg nach Südamerika, was Deutschland vom chilenischen Salpeter abschneidet - und den braucht man als Düngemittel für die Landwirtschaft, und zum anderen für die Munitionsherstellung. Fritz Haber wird in der von Walter Rathenau gegründeten Kriegsrohstoffabteilung mit der großtechnischen Durchführung des Verfahrens zur Ammoniaksynthese betraut.
Schmaltz: "Das führte dazu, dass im Frühjahr 1915 wieder genug Sprengstoff produziert werden konnte. Sonst wäre der Erste Weltkrieg von der deutschen Seite nicht weiterzuführen gewesen. Das hat Haber zu einer einflussreichen Figur gemacht, in diesen Kreisen wurde auch die Diskussion geführt, ob man chemische Waffen einsetzen könnte, um den festgefahrenen Stellungskrieg, der im Herbst sich entwickelt hatte an der Front, einbringen zu können."
Zunächst überwiegt aber die Ablehnung des Giftgases, wie Professor Gerhard Ertl, Nobelpreisträger für Chemie 2007, erklärt.
Ertl: "Selbst die Militärs waren nicht so besonders davon angetan, weil in deren Augen das nicht ritterlich war, stellen Sie sich das mal vor, ja?"
Fritz Haber aber war vom Nutzen eines Gaseinsatzes zutiefst überzeugt und setzte alles daran, auch andere davon zu überzeugen, er setzte sogar sein eigenes Leben ein.
"Wahrscheinlich um der skeptischen Generalität die Wirksamkeit des neuen Kampfstoffs zu beweisen, unternahm er am 2. April gar einen Eigenversuch, indem er mit Oberst Bauer in eine probeweise abgeblasene Chlorwolke hineinritt - beide erkrankten schwer."
"In Haber fand die Oberste Heeresleitung einen dynamischen, tatkräftigen Organisator. Er war entschlossen und womöglich auch skrupellos."
Lutz F. Haber - ehrgeizig, patriotisch, tragisch
Das schreiben die Haber-Biografin Margit Szöllösi-Janze und Lutz F. Haber, der Sohn des Chemikers aus zweiter Ehe.
"Der Gelehrte gehört im Kriege wie jedermann seinem Vaterland, im Frieden gehört er der Menschheit."
Thiemann: "Er hatte tatsächlich geglaubt - und ich bin der Meinung, er war fest davon überzeugt - dass der Einsatz von Giftgas an der Front, dass das eine so momentane Schreckenswirkung beim Feind auslösen würde, dass der Krieg dadurch schneller zu Ende kommen würde dabei."
Sagt der emeritierte Chemieprofessor Wolfram Thiemann.
Thiemann: "Und ich vergleich das immer mit der Schockwirkung viele Jahre später: der Atombombe."
Aber: die Wirkung des Gases verpufft buchstäblich; stattdessen setzt ein Rennen in der Entwicklung immer neuer Chemiewaffen ein.
Der Physiker und Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie (1911-33) erhielt für die Darstellung von Ammoniak aus Stickstoff und Wasserstoff unter hohem Druck 1918 den Nobelpreis für Chemie.
Der Physiker und Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie (1911-33) erhielt 1918 den Nobelpreis für Chemie.© picture alliance / dpa
Tragödie des Ersten Weltkriegs
Chilens: "Das ist die große Tragödie des Ersten Weltkriegs: obwohl es strategisch nicht bedeutsam ist, wird das Gas immer wieder eingesetzt."
Den Einsatz von Giftgas und giftiger Kampfstoffe hatte die Haager Landkriegsordnung 1899 verboten. Doch die deutsche Seite findet zwei Schlupflöcher, mit denen sich der Gaseinsatz ihrer Ansicht nach legitimieren lässt. Zum einen hatten die Franzosen schon im Herbst 1914 Tränengas eingesetzt. In die deutschen Schützengräben geschossen, sollte es den Gegner aus seinen Stellungen treiben. Zum anderen war im Haager Abkommen vom "Abschuss" die Rede - über das Abblasen der giftigen Substanzen aber wurde kein Wort verloren.
"Ist das jetzt ein Verstoß gegen die Haager Landkriegsordnung?", fragt der Militärhistoriker Martin Meier. "Das war es formalrechtlich nicht, weil ja keine Granaten verschossen wurden, die giftige Stoffe enthielten."
Clara Immerwahr, erste promovierte Chemikerin und Ehefrau von Fritz Haber, schien mit dem Kriegsengagement ihres Mannes nicht einverstanden zu sein. In der Ehe kriselte es, auch weil der Chemiker alles seiner Karriere unterordnete.
"Fritz ist so zerstreut, wenn ich ihm nicht ab und zu seinen Sohn brächte, er wüsste gar nicht, dass er Vater wäre."
Als Fritz Haber nach dem ersten Chemiewaffeneinsatz bei Ypern nach Berlin zurückkommt, wird er zum Hauptmann ernannt und feiert das Ereignis mit Freunden und Kollegen am 1. Mai in seiner Villa. In der Nacht nimmt sich Clara Immerwahr das Leben - im Garten erschießt sie sich mit der Dienstpistole ihres Mannes. Die genauen Motive ihres Selbstmords liegen im Dunkeln. Fritz Haber reist am nächsten Tag an die Ostfront - und lässt den 13-jährigen Sohn zurück, in dessen Armen die Mutter gestorben war.
In einer bis dahin beispiellosen Verflechtung arbeiten Militär, Industrie und Wissenschaft bereits vor dem Ersten Weltkrieg zusammen - im Zweiten Weltkrieg wird sich das noch verstärken. Das Kaiser Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin, das Fritz Haber leitet und das seit 1953 seinen Namen trägt, wird vollständig dem Militär unterstellt.
Franzosen und Briten schlagen zurück
Die Vergeltungsmaßnahmen seitens der Alliierten lassen nicht lange auf sich warten. Im September 1915 schlagen die Briten zurück, im Februar 1916 die Franzosen. Zugleich wird auf allen Seiten fieberhaft am Schutz gegen die Gasangriffe gearbeitet. Anfangs halten sich die Soldaten bei Gasalarm feuchte Tücher oder Watte vors Gesicht - das hilft wenig. Dann entwickeln die Deutschen gummierte Gasmasken, mit einem Filter, den man auf unterschiedliche Gasarten einstellen kann. Mit den Rüsseln und großen Augengläsern sehen die Soldaten aus wie Wesen von einem anderen Stern. Sie werden zum Symbol für die Entmenschlichung und Technisierung des Krieges. Auch bei der Gasmaskenentwicklung sind die deutschen Wissenschaftler führend, so Florian Schmaltz vom Berliner Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte.
Schmaltz: "In der Größe und Dimension, in der in Deutschland geforscht worden ist, am KWI, dessen Direktor Fritz Haber war - in den anderen Staaten ist so was nicht beobachtbar. Hier waren am Schluss über 2000 Mitarbeiter allein in der Überwachung der Gasmaskenfilterproduktion tätig und 150 Wissenschaftler. Man kann hier schon sprechen von Ansätzen von Großforschung, arbeitsteilig mit der chemischen Industrie. Es sind nicht die deutschen Wissenschaftler allein gewesen, aber sie waren sicher die treibenden Kräfte in diesem Rüstungswettlauf."
Aber auch gegen die Gasmasken findet sich bald ein perfides Gegenmittel: Kampfstoffe, die nur als sogenannte Maskenbrecher dienten, erklärt der Militärhistoriker Martin Meier:
"Das heißt, wenn der Soldat ein, zwei, drei Minuten diese Stoffe eingeatmet hat, dann hat ihm begonnen, die Nase zu triefen, dann hat er starke Schmerzen im Unterkieferbereich bekommen, ihm wurde schwindlig, er hat Kopf- und Stirnhöhlenschmerzen, die unerträglich gewesen sein müssen, bekommen und hat sich dann die Maske heruntergerissen. Die wurden gemeinsam verschossen, also dieses Blaukreuz, mit Grünkreuz."
Eine Taktik, die verharmlosend auch "Buntschießen" genannt wurde.
Meier: " ...dass der Soldat also gezwungen wurde, die Maske herunterzureißen durch den Blaukreuzkampfstoff und sich in dem Moment der tödlichen Wirkung der Grünkreuzkampfstoffe auszusetzen."
100.000 Gastote und 900.000 Gasverletzte
(...) Über der Lunge verbreitet hört man das feinblasige, kochende Ödemrasseln, (...) die Kranken ringen ächzend und stöhnend nach Luft. In diesem Zustande bietet der Kranke für die Umgebung ein schaudervolles Bild des Jammers. Man sieht förmlich, wie der Kranke in der eigenen Flüssigkeit ertrinkt, die sich in die Lungen ergossen hat. Man hat seit dem Weltkriege manches Wort über die Humanität des Gaskrieges gehört: Wer jemals einen Gaskranken in dem beschriebenen Stadium des Höhepunktes des Lungenödems gesehen hat, der muss, wenn er noch einen Funken von Menschlichkeit besitzt, verstummen."
Heißt es in einem "Leitfaden der Pathologie und Therapie der Kampfstofferkrankungen" aus dem Jahr 1932.
1917, wiederum bei Ypern, wird der letzte neue Kampfstoff des Ersten Weltkriegs eingesetzt. Lost, das wegen seines Geruches auch "Senfgas" genannt wird.
100.000 Gastote und 900.000 Gasverletzte - das ist die Bilanz des Ersten Weltkriegs, neben all den anderen Millionen Kriegsopfern.
Trotz Verbot wird weiter geforscht
Der Vertrag von Versailles untersagt den Deutschen jede Art von Chemiewaffenforschung auf deutschem Boden. Aber es wird trotzdem weitergeforscht - in der Sowjetunion, sagt Martin Meier:
"Es reisen führende Vertreter der deutschen chemischen Industrie, des Militärs nach Russland, um in Folge des Abkommens von 1922 in Rapallo, da hat man sich auf eine Zusammenarbeit in militärischer Hinsicht geeinigt, um dort ein großes Zentrum bei Samara aufzubauen für die Entwicklung und den Einsatz von chemischen Kampfstoffe. Und erst 1933 ist diese Zusammenarbeit endgültig beendet worden."
Herman Göring: "Ich wende mich in erster Linie um restlose Mitarbeit: an alle Erfinder, an die Männer der Wissenschaft, denkt nach, laboriert, experimentiert, gebt uns neue Anregungen, neue Erfindungen und neue Möglichkeiten. Und ihr habt Großes für Deutschland getan."
So ermuntert Reichsminister Hermann Göring 1936 im Berliner Sportpalast die Forscher. Im gleichen Jahr entdeckt der Chemiker Gerhard Schrader, damals bei den IG Farben tätig, einen neuen Giftstoff: Tabun, zwei Jahre später das noch giftigere Sarin. Von Kriegsbeginn bis Ende 1941 beläuft sich die produzierte Menge herkömmlicher Chemiewaffen auf 41.000 Tonnen - das ist mehr als die Hälfte der deutschen Gesamtproduktion während des Ersten Weltkriegs. Dennoch kommen im Zweiten Weltkrieg in Europa keine chemischen Kampfstoffe zum Einsatz. Warum - das ist, so Militärhistoriker Martin Meier, in der historischen Forschung umstritten:
"Man hat immer spekuliert mit Hitler, weil er selbst diese Lost-Vergiftung hatte, ist natürlich Blödsinn. Der hatte ja auch keine Skrupel, Millionen von Menschen in den Konzentrationslagern umzubringen. Genau das ist der Punkt. Chemische Kampfstoffe eignen sich nicht besonders gut für den Bewegungskrieg, sondern sind mehr geeignet für den Stellungskrieg. Auch dann, muss man noch dazu sagen, dass man Angst hatte vor einem Gegenschlag. Man war hier von deutscher Seite fehlinformiert und ist davon ausgegangen, dass auch die Alliierten ausreichend Phopsphonsäureester, DFP vor allem, zur Verfügung gehabt hätten, um deutsche Städte anzugreifen."
Der Gastod im Zweiten Weltkrieg - das ist nicht der Tod an der Front, sondern der Tod in der Gaskammer. Auschwitz. Was Fritz Haber für den Stellungskrieg entwickelt hat, setzt Rudolf Höß ein, um den Massenmord an den Juden effizient durchzuführen.
Einsatz verboten, Produktion und Besitz erlaubt
Gegen den Gas-Einsatz als Massenvernichtungsmittel helfen keine Abkommen. Immer wieder ist versucht worden, dem Einsatz von Chemiewaffen durch internationale Verordnungen einen Riegel vorzuschieben. Unter dem Eindruck der grauenvollen Folgen des Krieges hat sich der Völkerbund 1925 auf ein Verbot der Anwendung von chemischen Kampfstoffen geeinigt. Deren Produktion und Besitz aber weiterhin erlaubt.
Erst das Chemiewaffenübereinkommen von 1997, das 190 Staaten unterzeichnet haben, sieht konkrete Abrüstungsschritte vor. Es untersagt nicht nur Entwicklung, Herstellung, Besitz, Weitergabe und Einsatz chemischer Waffen - es verlangt auch deren Vernichtung unter internationaler Aufsicht.
Im Hintergrund sind Trümmer eines zerstörten Hauses zu sehen, durch die ein Mann mit dem Rücken zur Kamera klettert. Im Vordergrund schaut ein etwa zehnjähriger Junge mit einem Kopfverband Richtung Kamera.
Auch die syrische Regierung soll im Bürgerkrieg Giftgas gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt haben.© dpa / picture-alliance / Bruno Gallardo
Giftgaseinsatz in Vietnam, Italien, Iran
Seit dem ersten Giftgasangriff vom 22. April 1915 sind Gase, so der Chemiker Wolfram Thiemann, immer wieder zum Einsatz gekommen:
"Die US-Amerikaner in Vietnam, die haben Giftgas eingesetzt offiziell zur 'Entlaubung' des Dschungels, aber es ist ganz klar, dass auch die toxischen, die giftigen Auswirkungen auf den Menschen in Kauf genommen wurden und vielleicht sogar auch beabsichtigt waren. Die Italiener haben Giftgas in Abessinien eingesetzt, im Zweiten Weltkrieg und davor schon; es gibt starke Beweise dafür, dass die türkische Regierung zum Teil Giftgas gegen Kurden eingesetzt hat und so was; und es gab also extreme Belege dafür, dass zum Beispiel Saddam Hussein in dem berühmten langen Krieg gegen Iran mehrfach Giftgas zur Ausrottung von Oppositionellen eingesetzt hatte."
Zu den schrecklichsten und berüchtigtsten Chemiewaffeneinsätzen zählt der der irakischen Armee im kurdischen Halabscha. Auch Deutschland hatte die Chemiewaffenproduktion im Irak durch Rüstungsexporte unterstützt.
Halabscha lag während des Iran-Irakkriegs unmittelbar an der Frontlinie. Am Mittag des 16. März 1988 werfen Hubschrauber Metallkanister mit Sarin, Senfgas und dem Nervenkampstoff VX über dem Ort ab. Zwischen 3500 und 5.000 Zivilisten sterben. Der türkische Fotograf Ramazan Öztürk war der erste Journalist, der Halabdscha erreichte:
"Wir kamen 24 Stunden nach dem Angriff in die Stadt. Es war geradezu lautlos. Keine Vögel, keine Tiere. Nichts Lebendiges war zu sehen. Die Straßen waren mit Leichen bedeckt. Ich sah Säuglinge, die in den Armen ihrer toten Mutter lagen. Ich sah Kinder, die im Todeskampf ihren Vater umarmt hatten. Während des Fotografierens habe ich die ganze Zeit geweint und zu Gott gebetet, dass es ein Traum sei und ich gleich aufwache. Ich erinnerte mich an Berichte aus dem jüdischen Holocaust, wie die Opfer in den deutschen Gaskammern übereinander nach oben geklettert wären, um voller Verzweiflung dem Gas zu entkommen."
Assad / Fox-Reporter: "First of all, the Sarin gas [is] called ‚kitchen gas'. Do you know why? Because anyone can make Sarin in his house." "They said it's very high quality, higher quality than even used in Irak by your neighbour Saddam Hussein at the time."
Als im syrischen Bürgerkrieg 2013 Giftgas in der Nähe von Damaskus eingesetzt wird, behauptet der syrische Staatschef Assad im US-Fernsehsender Fox, jeder könne Sarin in seiner Küche herstellen. Dem widerspricht Jan van Aken, von 2004 bis 2006 Biowaffeninspekteur bei den vereinten Nationen und heute für die Partei Die Linke im Bundestag:
"Ich halte das für ein Gerücht, dass jeder zu Hause Nervengas wie Sarin herstellen kann - das ist immer noch extrem kompliziert. Auch ein Land wie Syrien hat viele Jahre gebraucht, die Herstellung zu meistern. Und bei den Chemiewaffen ist es ja so, dass es nur dann eine Massenvernichtungswaffe ist, wenn es in Massen eingesetzt wird. Es gibt dieses Beispiel der Aum-Sekte in Japan, die unendlich viel Geld zur Verfügung hatte, Wissenschaftler zur Verfügung hatte, die haben es geschafft, eine kleine Menge Sarin herzustellen, sie haben es in der U-Bahn eingesetzt und es gab einige wenige Tote. Zum Vergleich: wenige Jahre später hat jemand einen Liter Benzin in der U-Bahn eingesetzt - und es gab gleich zehnmal so viel Tote. Insofern ist es für Terroristen eigentlich keine effektive Waffe. Es ist eine Angstwaffe. Aber effektiv Menschen umbringen kann ich mit Benzin viel einfacher."
Giftgas ist heute so stark geächtet, dass es nur selten zum Einsatz kommt - trotzdem beginnt mit seinem Einsatz vor 100 Jahren die Zeit, in der Chemie, Biologie und Atomphysik die Arsenale des Schreckens erweitern: Der Erste Weltkrieg ist die Urkatastrophe, nicht nur des Jahrhunderts. Fritz Haber, der mit seiner Erfindung des Chlorgases die Büchse der Pandora geöffnet hat, erhielt 1920 trotz internationaler Kritik den Chemie-Nobelpreis - für die Ammoniaksynthese. Und er versuchte - vergeblich - nach dem Krieg aus dem Meer Gold zu gewinnen, um die deutschen Reparationen zu bezahlen. Der Antisemitismus der Nationalsozialisten traf allerdings auch ihn. 1933 ging er in den Ruhestand, verließ Deutschland und folgte einem Ruf der Universität von Cambridge. Der Chemie Nobelpreisträger Gerhard Ertl:
"Ja, stellen Sie sich vor, sie stellen ihre ganze Kraft in den Dienst des Vaterlands - und das Vaterland wirft Sie dann hinterher raus. Das ist schon bitter, so was, ja. Das zeigt eben auch die Tragik eines solchen Menschen."
Eine tragische Figur
Am 29. Januar 1934 ist Fritz Haber in einem Hotel in Basel gestorben. An Herzversagen. Oder an gebrochenem Herzen. Als nach 1918 das Gerücht umging, die Alliierten suchten ihn als Kriegsverbrecher, kommentierte Albert Einstein:
"Haber ein Kriegsverbrecher ... Haber ist vielmehr eine tragische Figur. Man hat seine patriotische Gesinnung missbraucht. Er ist ein Jude, der sich einem Vaterland verpflichtet fühlt, das ihn gar nicht haben will."
In den Jahren der Weimarer Republik arbeitete Haber in seinem Institut an Schädlingsbekämpfungsmitteln. Unter seiner Ägide wurde auch ein Mittel mit dem Namen "Zyklon A" entwickelt. Als Zyklon B wurde dann in den Vernichtungslagern eingesetzt - auch Mitglieder von Habers eigener Familie wurden damit umgebracht.
Ertl: "Eine sehr zerrissene Persönlichkeit, zweifellos."
Thiemann: "extrem angetrieben von Ehrgeiz und Leistung, um als Patriot eben definitiv anerkannt zu werden, was man ihm auf anderem Wege versagte."
Im Jahr 2010 rief der emeritierte Chemieprofessor Wolfram Thiemann mit seinem Kollegen Dieter Wöhrle eine Webseite ins Leben, auf der die beiden anregen, das Fritz Haber-Institut umzubenennen.
Thiemann: "Fritz Haber, in dem Aushängeschild des renommiertesten Forschungsinstitutes, naturwissenschaftlichen Institutes in Deutschland, sollte nicht als Vorbild für junge Leute genommen werden, sondern man sollte also praktisch den Namen schon auf jeden Fall ändern."
Der Nobelpreisträger Gerhard Ertl sieht das anders:
"Die Diskussion wurde lange geführt, auch hier im Institut - wir sind alle der Meinung, das wäre nicht gerechtfertigt, weil die Leistung(en) Fritz Habers sind so groß, an denen man nicht vorbeikommen kann ... und ... die Benennung nach Fritz Haber wurde ja in den 50er-Jahren von Max von Laue durchgeführt -bestimmt auch kein Kriegstreiber - das war damals sozusagen der Wunsch der Institutsleitung und auch der Max Planck-Gesellschaft, dieses Institut nach dem Mann zu benennen, der am meisten sozusagen für die Wissenschaft getan hat. Und das war eben die Haber-Bosch-Synthese."
Den beiden Chemikern, Fritz Haber und Carl Bosch, war die Synthese von Ammoniak aus Stickstoff und Wasserstoff gelungen - ein Verfahren, das sowohl die Herstellung von Kunstdünger als auch die von Sprengstoff ohne natürlichen Salpeter erlaubte. Giftgas indes - die Büchse der Pandora: 100 Jahre, nachdem sie geöffnet wurde, beurteilen Florian Schmaltz, Wolfram Thiemann und Jan van Aken die Lage so:
Schmaltz: "Das Bild der Büchse der Pandora ist insofern zutreffend, als alles Böse aus dieser Büchse herausgekommen ist, nur die Hoffnung bleibt. Man kann diesen Prozess nicht umkehren."
Thiemann: "Aber: das ist so'ne Sache mit der Entropie, nicht, als Chemiker - den Geist rauszulassen ist wesentlich leichter als den wieder rein zu bekommen in die Flasche ... und ich bin schon extrem skeptisch dabei, ob wir das schaffen werden, dass wir diese Sache jemals wieder werden verbannen können aus der Welt."
van Aken: "An dem Punkt bin ich echt optimistisch. Das entscheidende ist ja nicht der Vertrag, das entscheidende ist die Ächtung, die Norm, die gesetzt worden ist. Und Chemiewaffen sind so was von geächtet (weltweit, dass jeder Staat sich das lange, lange, lange überlegt das einzusetzen, denn danach kriegen die weltweit nie wieder einen Fuß auf den Boden.) Und ich glaube, diese Ächtung, die ja fast noch stärker oder genauso stark ist wie bei den Atomwaffen, ich glaube, das ist ein Stück weit Sicherheit, das wir haben. Das wird sich so schnell nicht wieder wegkriegen lassen."
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