Giacomo Meyerbeer

Gottes Segen und Teufels Schatz

Die Sopranistin Patrizia Ciofi in der Titelpartie der konzertant aufgeführten Oper "Dinorah" von Giacomo Meyerbeer an der Deutschen Oper Berlin.
Die Sopranistin Patrizia Ciofi in der Titelpartie der konzertant aufgeführten Oper "Dinorah" an der Deutschen Oper Berlin. © Deutsche Oper Berlin/Bettina Stöß
Von Dieter David Scholz · 01.10.2014
1859 hatte die romantisch-komische Oper "Dinorah" Premiere in Paris. Die Komposition von Giacomo Meyerbeer wird in Berlin an der Deutschen Oper eindrucksvoll zu Gehör gebracht − leider ohne szenische Realisierung der wunderlichen Geschichte eines bretonischen Brautpaares.
Die Deutsche Oper Berlin hat im Meyerbeer-Gedenkjahr (150. Todestag) mit der konzertanten Aufführung der Oper "Dinorah oder Die Wallfahrt nach Ploërmel" in der Berliner Philharmonie ein Großprojekt gestartet: In den nächsten vier Jahren sollen Giacomo Meyerbeers "Vasco de Gama", "Die Hugenotten" und "Der Prophet" als Neuinszenierungen auf die Bühne kommen. Das einstige Erfolgsstück "Dinorah", das 1859 an der Pariser Opéra comique uraufgeführt wurde, ist heute fast ganz von den Spielplänen verschwunden. Man hört allenfalls in Konzerten die Wahnsinnsarie der Titelheldin, die "Schattenarie". Sie gehörte zum Repertoire aller großen Primadonnen, von Adelina Patti bis zu Maria Callas.
Dass die Oper heute kaum mehr auf den Bühnen anzutreffen ist, hängt allerdings nicht nur mit der schwierigen Besetzung der Titelpartie zusammen. Auch die Handlung (Libretto von Jules Barbier und Michel Carré, frei nach der Erzählung "La chasse aux trésors" von Émile Souvestre) ist schwer zu vermitteln. Sie spielt in einer Welt der Fabelwesen, der Geister und Zwerge, in der Mensch und Natur, Übersinnliches und Irdisches noch eng miteinander verknüpft sind.
Der heilsame Sturz der Braut
Im Zentrum die Geschichte eines bretonischen Brautpaares: Dinorah und Hoël. Die beiden wallfahren nach Ploërmel, um den Segen Gottes für ihre Ehe zu erbitten. Nachdem ein Blitz die Meierei des Brautvaters zerstört hat, folgt Hoël einem verführerischen Bösewicht, um als Aussteuer für die Heirat einen geheimnisvollen Schatz zu heben. Darüber vergeht ein Jahr, in dem er sich bei seiner Braut nicht sehen lässt. Darüber verliert Dinorah den Verstand, später gewinnt sie ihn dank eines heilsamen Schocks bzw. Sturzes zurück. Alles Erlebte kommt ihr wie ein Traum vor. Den Schatz hat ihr Geliebter zwar nicht gehoben, aber die Liebe siegt. Dem Happy End steht nichts im Wege.
Eine besondere Rolle spielt in dieser Handlung eine weiße Ziege mit einem unüberhörbaren Glöckchen, das schon in der Ouvertüre erklingt und sich durch die ganze Oper zieht. Die Ziege ist Symbol der Berührung von Übersinnlichem und Sinnlichem und löst mehrfach entscheidende Handlungswendungen aus. Der Plot des Stücks ist höchst unwahrscheinlich, fantastisch, magisch, und hochsymbolisch. Meyerbeer knüpft mit "Dinorah" an die Gattung der romantisch-komischen Oper à la Bellini ("Die Nachtwandlerin") an. Seine einzige Opéra comique ist ein poetisches Stück über den magischen Zusammenhang von Naturereignissen, Tieren und menschlichen Schicksalen. Es geht um den Sieg des Guten über das Böse, ein französischer "Freischütz" gewissermaßen. Meyerbeer hat mit "Dinorah" ein heiter-ironisches Werk musikalischen Ideen-, erbaulichen Zauber- bzw. Wunderheaters geschrieben. Kein Stück, das den heutigen Zeitgeist trifft oder leicht im Hier und Heute zu erzählen wäre auf der Bühne.
Nicht ohne Grund haben schon Zeitgenossen Meyerbeers (etwa Wilhelm Busch) "Dinorah" wegen ihrer unwahrscheinlichen Handlung parodiert und satirisch aufs Korn genommen. Heutige Regisseure hätten ihre liebe Not mit der Realisierung dieser Oper. Insofern geht man mit einer konzertanten Aufführung kein Risiko ein. Doch wenn man bedenkt, mit welcher Akribie Meyerbeer sich um die szenische Realisierung kümmerte, um das Stück so realistisch wie möglich auf die Bühne zu bringen, er engagierte Techniker und Spezialisten für spektakuläre bühnentechnische Effekte und ließ eigens von einem Zircusclown, der berühmt war für seine Tierdressuren, eine Ziege abrichten, bedauert man den Verlust des Szenischen.
Mit Elan, Verve und Präzision
Andererseits haben konzertante Aufführungen den Vorteil, dass sich Zuhörer wie Musiker und Sänger ganz auf die Musik konzentrieren können. Der italienische Dirigent Enrique Mazzola – er ist seit Beginn der Saison neuer Musikdirektor des Orchestre National d'Ile de France – ist der Mann der Wahl für dieses Stück. Dass er ein Händchen für die Musik zwischen Weber, Berlioz, Offenbach und Wagner hat, bewies er zuletzt in Berlin mit einer aufregenden konzertanten Aufführung des "Geisterschiffs" von Pierre-Louis Dietsch, der Wagners Libretto des "Fliegenden Holländers" vertonte. Auch für Meyerbeers "Dinorah" hätte man sich keinen besseren Dirigenten wünschen können. Mit Elan, Verve, wacher Intelligenz und geschärfter rhythmischer Präzision hat er viel Sinn für die ständig ihre Richtung wechselnde Musik Meyerbeers und ihre subtile Klangsinnlichkeit bewiesen.
Ob dörflich-folkloristische Idyllen, religiös-rituelle Szenen, Trinklieder, Choräle, Ballett- und Gewittermusiken, zu schweigen von Naturimitationen und exquisiten Arien und Ensembles − der Einfallsreichtum Meyerbeers kannte auch in "Dinorah" keine Grenzen.
Dass man die Erstaufführung der kritischen Neuausgabe spielte, war ein Glücksfall. Sieben Fassungen der Oper existieren, auch in deutschen und italienischen Übertragungen. Jetzt hat man erstmals das wunderbar filigrane und effektvoll mitreißende Stück voller melodischer und instrumentationstechnischer Einfälle erstmals so erleben können wie bei der Uraufführung. Es war das zu Meyerbeers Lebzeiten letzte noch unter seiner Anleitung uraufgeführte Werk, in dem er alle Register seines kompositorischen Könnens zog. Die Urfassung ist in französischer Sprache geschrieben, enthält gesprochene Dialoge und aparte Melodramen. Enrique Mazzola hat mit seiner so sorgfältigen wie mitreißenden Einstudierung "Dinorah" und dem nach wie vor verkannten Giacomo Meyerbeer einen großen Dienst erwiesen. Das Orchester der Deutschen Oper Berlin spielte tadellos und klang prächtig. Auch der unter William Spaulding einstudierte Chor der Deutschen Oper Berlin ließ nichts zu wünschen übrig.
Verlegenheitslösung ohne Durchschlagskraft
Für die Titelpartie der Dinorah hatte man die Sopranistin Patrizia Ciofi engagiert, die in Italien als gefragte Belcanto-Diva gilt. Nun war die Partie der Dinorah in den letzten 150 Jahren eine Paraderolle aller großen Koloratursoprane. Wenn man die historischen Aufnahmen von Adelina Patti, Amelita Galli-Curci, Maria Callas oder auch Joan Sutherland kennt, sie alle bewiesen ihre Virtuosität mit dem Bravourstück der Schattenarie, muss man Patrici Ciofi leider eine Verlegenheitslösung nennen. Nicht nur, dass sie über ihren sängerischen Zenit hinaus ist, ihr heller Sopran hat kaum Farben, klingt matt und verfügt weder über die Brillanz des Tons noch über die vokalartistische Durchschlagskraft, die die somnambule Partie mit ihren anspruchsvollen Koloraturenketten benötigt. Immerhin hat sie sich auf ihre Weise die Partie klug zurechtgelegt und sich raffiniert gestaltend in das insgesamt leichtgewichtige, aber überzeugende Solistenensemble eingefügt, in dem der Spieltenor Philippe Talbot als Dorftrottel Corentin allen die Show stahl und Etienne Dupuis der männlichen Hauptpartie des Hoël seinen balsamischen Bariton lieh.
Trotz genannter Einschränkungen, was die Titelpartie angeht, ein musikalisch eindrucksvoller Abend. Ein Plädoyer für ein vergessenes großartiges Stück und ein fulminanter Auftakt des großen Meyerbeer-Projekts der Deutschen Oper Berlin.
Programmhinweis: Deutschlandradio Kultur sendet am Samstag, 4. Oktober ab 19.05 Uhr eine Aufzeichnung der Premiere von "Dinorah" an der Deutschen Oper vom 1.10.14
Informationen der Deutsche Oper zur Produktion "Dinorah oder Die Wallfahrt nach Ploërmel"
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