Geweckt wird mit Eisenstangen

Von Christian Berndt · 25.10.2012
Noch vor rund 40 Jahren herrschte in der Schweiz ein System brutaler Kinderausbeutung: Familien oder Müttern, die man als problematisch ansah, wurden die Kinder weggenommen und Bauernfamilien zur Pflege übergeben. Das nannte man verdingen. Markus Imbodens "Der Verdingbub" widmet sich dem Schicksal dieser Kinder.
Morgens im Waisenhaus. Geweckt wird mit Eisenstangen, die an die Metallbetten der Kinder geschlagen werden. Für Waisenjunge Max wird es der letzte Tag sein:

Mit einer Ohrfeige entlassen. Es kann eigentlich nur besser werden für Max, der vom Pfarrer persönlich zu seiner neuen Pflegefamilie gebracht wird:

"- Grüß Gott, Herr Pfarrer.
- Grüß Gott Frau Bösiger. Das ist er.
- Grüß Gott Frau Bösiger.
- Sag Mutti.
- Ihr bekommt das Kostgeld künftig jeweils auf den letzten. Gebt acht auf den Buben, die aus dem Heim können zwar arbeiten, sind aber manchmal bockig.
- Hauptsache er ist kein Bettnässer wie der letzte.
- Ihr achtet aber schon darauf, dass er länger durchhält?"


Der letzte Pflegejunge war nach sechs Wochen tot. Warum weiß man nicht, der Pfarrer fragt auch nicht nach. Schließlich bekommt er Würstchen von der Bäuerin, gespielt von Katja Riemann. Max aber kann sich schon bald denken, warum sein Vorgänger nicht lange überlebt hat. Als Max die Latrine reinigen muss, fällt ein Kalb in die offene Grube. Obwohl unschuldig, wird er windelweich geprügelt:

Das Leben auf dem Hof ist die Hölle. Den ganzen Tag schuften, Fleisch gibt es nur für die Familie. Aber Max, eindrucksvoll gespielt vom europäischen Shootingstar der diesjährigen Berlinale, Max Hubacher, hält durch: Seine Hoffnung ist die Musik - er kann meisterhaft Akkordeon spielen. Und er freundet sich mit dem anderen Verdingkind auf dem Hof, der 15-jährigen Bertili, an. Sie trifft es noch schlimmer, sie wird vom Sohn des Bauern vergewaltigt. Als Max davon erfährt, fleht er die Lehrerin um Hilfe an:

"- Sie wollen Bertili also nicht helfen.
- Max.
- Hab ich nicht recht? Sie sind genau wie alle anderen.
- Max! Ich weiß nicht, wie ich Bertili helfen kann. Ich weiß nicht mehr, wie ich euch helfen kann. Ich habe es wirklich probiert."


Selbst die engagierte Lehrerin hat resigniert. Unsentimental und realistisch erzählt Markus Imboden in "Der Verdingbub" von diesen unglaublichen Verhältnissen. Denkt man in den ersten Minuten noch, der Film spielt im 19. Jahrhundert, wird man erst, als man den ersten Bus durchs Dorf fahren sieht, daran erinnert, dass so etwas noch vor 40 Jahren in der wohlhabenden Schweiz geschehen ist.

Links auf dradio.de:

"Der Verdingbub" - Ein Film über die Zwangsarbeit von Pflegekindern in der Schweiz
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