Gewalt gegen Kinder

Geschlagen, geschüttelt und gequält

Ein kleines Mädchen sitzt weinend auf dem Fußboden in seinem Zimmer.
Auch wenn in den letzten Jahrzehnten ein Umdenken stattgefunden hat: Viele Kinder sind familiärer Gewalt ausgesetzt. © picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Von Dorothea Brummerloh · 28.05.2018
Es sind beschämende Zahlen: 133 Kinder starben 2016 in Deutschland durch Gewalt oder Vernachlässigung. Die Kriminalitätsstatistik zeigt, Gewalt gegen Kinder ist alltäglich und sie nimmt zu. Ein Blick hinter die Zahlen.
"Hallo meine kleine Maus! Hast Du Hunger oder bist Du müde? Wollen wir Dich gleich mal anlegen? Da geht schon der Mund auf."
Eine junge Frau sitzt in einem bequemen Ohrensessel. Im Schein der Sonne, die durch das Fenster strahlt, stillt sie ihr Baby. Die Kleine in weiß-blau gestreifter Hose und gelben Shirt saugt und saugt - bis sie satt und zufrieden schmatzt. Dann ist Schlafenszeit. Anna* legt die kleine Flora* ins Bett, stellt die Spieluhr an. Das Mädchen strampelt, versucht nach der Spieluhr über dem Bett zu greifen. Ihre Mutter streichelt ihr über den Kopf.
"Meine Tochter- die macht mich so wahnsinnig glücklich und ich kann das alles gar nicht fassen. Natürlich ist es auch anstrengend, wenn sie herum quengelt, dann bin ich auch genervt von ihr. Mein Freund hat gesagt, dass er das wahnsinnig beeindruckend findet, total schön zu sehen, dass ich meiner Tochter so viel Liebe geben kann und so viel zu ihrem Urvertrauen beitrage, dass ich das alles kann, obwohl ich das selber so nicht erlebt habe."

Frühe Kindheitserfahrungen haben Annas Urvertrauen zerstört

Anna erinnert sich an ihre Kindheit, erzählt vom Leben mit der Mutter und der zwei Jahre jüngeren Schwester. Immer wieder stockt sie, schluckt, manchmal versagt die Stimme.
"Es gab keinen regelmäßigen Tagesablauf und wir wurden auch manchmal von unserer Mama geschlagen. Sie hat uns jetzt nie grün und blau geschlagen oder so etwas. Das Schlimmste war diese Unberechenbarkeit, also dass ich mit dem Kleiderbügel verprügelt wurde und danach hat sie mich in den Arm genommen und mir gesagt, dass sie mich liebhat."
"Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell missbraucht wurden."
Schreibt der Sozialwissenschaftler Lloyd deMause 1974 in seinem Essay "Evolution der Kindheit". Über Jahrhunderte hinweg galten Kinder als Besitz ihrer Eltern. Wie sie sie behandelten, war ihre Sache und ging Außenstehende nichts an. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kind entwickle sich mit jeder Generation, sagt Lloyd deMause.
"Bei uns hat es dann auch an Essen gemangelt. Ich kann mich daran erinnern, dass wir einmal zu Nachbarn gekommen sind und da gab es eine Birne und ich wusste einfach nicht, was eine Birne ist, weil es bei uns zu Hause immer nur Toastbrot mit Nutella gab. Und weil wir einfach das gegessen haben, was da war und das war immer das Billigste."
Anna ist zwei, da beginnt ihre Mutter Drogen zu nehmen. Mit der Erziehung ihrer beiden kleinen Mädchen ist sie zunehmend überfordert. Anna kümmert sich um ihre jüngere Schwester, schmiert Brote, holt sie aus der Kindertagesstätte ab. Dabei ist sie immer "auf der Hut" vor der Mutter und ihren Launen, aber auch vor anderen Erwachsenen und Mitschülern:
"Ich habe immer darauf geachtet, dass es keiner mitbekommt, dass bei uns zu Hause komische Verhältnisse sind. Ich hatte dieses Gefühl, irgendetwas stimmt nicht. Aber ich hatte irgendwie so eine Angst, vielleicht von Mama wegzukommen, dass das so dominierend war, dass ich mich nicht getraut habe, mit irgendjemanden da drüber zu sprechen."

UN-Kinderrechtskonvention leitet ein Umdenken ein

Anna wird 1987 in der Bundesrepublik geboren. Helmut Kohl ist Kanzler. Die Mauer steht noch. Die bundesdeutsche Kriminalstatistik verzeichnet 11.200 Fälle von Gewalt gegen Kinder, 19 Kindestötungen sind aufgelistet. Über das Ausmaß von Gewalt und Vernachlässigung Ende der 80er-Jahre geben die Zahlen unzureichend Aufschluss. Die Kriterien der Erfassung sind andere als heute. Aussagekräftige Dunkelfeldstudien gibt es noch nicht. Vom Ideal der gewaltfreien Erziehung ist die Gesellschaft aber weit entfernt. Bis in die Neunziger galt "schwarze Pädagogik"- Schläge, Arrest und Züchtigungen – als probates Erziehungsmittel. In einer Befragung von 1992 geben noch rund 41 Prozent der 12- bis 18-Jährigen an, mit einem Stock versohlt worden zu sein. Kriminalhauptkommissarin Gina Graichen:
"Es war so festgelegt in der Gesellschaft: Wenn ein Kind Scheiße baut, dann kriegt es eben eine Tracht. Und wenn dann eben einer auf der Straße, weil er vorlaut war, von Papa eine ins Gesicht gekriegt hat, dann haben die anderen zugestimmt unter dem Motto: Naja, das war jetzt aber auch mal nötig."

Das Umdenken in Deutschland aber hatte begonnen. Gewissheiten wie: Erwachsene dürfen alles, werden in Frage gestellt. Erste Bündnisse, die sich gegen sexuelle Gewalt gegen Kinder engagieren, entstehen in dieser Zeit. Langsam verändert sich das Verhältnis der Gesellschaft zur körperlichen Gewalt, die sich gegen Kinder richtet. Dazu trägt auch die UN-Kinderrechtskonvention bei, die 1989 verabschiedet wird. Im Bürgerlichen Gesetzbuch ist das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung seit 2000 festgeschrieben. Doch wird dieses Recht immer wieder gebrochen.
Am Institut für Rechtsmedizin der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf leitet Professor Dragana Seifert die Kinderschutzambulanz, die 2005 gegründet wurde. Dieses Zentrum ist einzigartig in Deutschland: Die Mitarbeiter des Hamburger Jugendamts müssen jeden Verdachtsfall hier vorstellen. Jeden. So eine Regelung gibt es in keinem anderen Bundesland.
"Die häufigsten Verletzungen, die wir sehen, sind die Verletzungen von körperlicher Gewalt. Also ein Kind wird geschlagen und man sieht den Abdruck einer flachen Hand im Gesicht oder am Po. Sehr häufig leider kommt es vor, dass wir Kinder sehen, die mit Verlängerungskabel oder einem Besen oder einen anderen Gegenstand geschlagen werden - also diese stumpfe Gewalteinwirkung. Wir sehen aber auch Kinder, die gewürgt worden sind oder die mit einem Gegenstand gedrosselt wurden oder Kinder, die verbrüht worden sind mit heißem Wasser."
Das Gebäude des Kindernotdienstes Berlin in Kreuzberg
Der Kindernotdienst bietet Hilfe rund um die Uhr.© picture alliance / dpa / Steffen Kugler

Eine beschämende Statistik der Gewalt

2016 wurden laut Kriminalstatistik 4204 Kinder in Deutschland schwer misshandelt. 133 Kinder überlebten dieses Martyrium nicht. Hinzu kommen bundesweit bis zu 200 Babys, die sterben oder chronisch geschädigt sind, weil sie geschüttelt werden.
"Der Kopf eines Kindes ist viel schwerer, als die Nackenmuskulatur es halten kann und das Gehirn eines Kindes ist empfindlich. Wenn ein Kind geschüttelt wird, kann es zu Blutungen im Gehirninneren kommen, Hirngewebe als solches wird zerstört und das wird sich nicht erholen. Jedes Schütteln ist lebensgefährlich, auch wenn die Kinder ein Schütteltrauma überleben, bleiben sie in der Regel Pflegefälle ein Leben lang."
In einer Befragung des Zentrums "Frühe Hilfen" gab jede vierte Person an, nicht zu wissen, dass Schütteln dem Baby schade.
Gina Graichen: "Man muss sich ein Schütteln eines Kindes so vorstellen, dass da ein Ausnahmezustand ist. Man ist so genervt, dass man gar nicht mehr weiß, dass man das nicht tun darf. Da will man Ruhe haben, weil man den ganzen Tag von dem Baby geärgert wurde. Es hat genörgelt. Das wollte mich ärgern - das sind so Äußerungen, die dann kommen."
Kriminalhauptkommissarin Gina Graichen leitete bis zu ihrer Pensionierung das Berliner Kommissariat zur "Aufklärung von Delikten an Schutzbefohlenen".
"Es fängt viel, viel früher an, ohne dass man etwas sieht. Eigentlich fängt es schon an, wenn man Kinder erziehen will und es irgendwo für sich nicht auf die Reihe kriegt. Das geht also los mit dem Anschreien, mit dem Anmachen und jetzt nicht ´Räum dein Zimmer auf´, sondern ´Ich hab dich nicht mehr lieb, geh mir aus den Augen. Ich hätte dich lieber abtreiben sollen. Warum bist du nicht bei der Geburt gestorben´- mit solchen Sprüchen trifft man Kinder. Dem Kind auch zu vermitteln, es ist einfach blöd: `Alle anderen schaffen es, nur du nicht`. Dieses Kind ständig in Angst halten, dass wieder etwas passieren könnte- das macht Kinder fertig und da fängt die Misshandlung an."

Gewalt gegen Kinder betrifft alle Bevölkerungsschichten

Rückblickend auf 33 Berufsjahre sagt die Kriminalistin: Gewalt ist nicht an Bildung, an soziale oder kulturelle Herkunft gebunden.
"Es ist in allen Schichten vorhanden. Natürlich eher in dem Bereich der mittleren und unteren Schicht, weil da eben auch häufig so die Möglichkeit über ein Problem zu reden einfach mal nicht gegeben ist. Man hat keine Worte und dann wird eben eher mal zugeschlagen. Dennoch gibt es auch Misshandlung im Bereich der oberen Schicht, die nur leider kaum angezeigt wird. Wir hatten Anzeigen gegen Eltern, die Rechtsanwalte, Polizeibeamte, Lehrer waren, also alles angesehene, hochgestellte Persönlichkeiten, die über Intelligenz verfügen, die über Geld verfügen und das spielt eben dann eine ganz große Rolle. Wenn ich Geld habe, dann muss ich nicht im Plattenbau wohnen, sondern dann habe ich ein Einfamilienhaus. Und damit sind schon sehr gute Voraussetzungen dafür gegeben, dass andere gar nichts davon mitbekommen.
2016 wurden im Hamburger Kinderkompetenzzentrum 859 Kinder untersucht, 859 Verdachtsfälle.
Dragana Seifert: "Die klassischen Fälle, die wir erleben, sind sehr junge Eltern mit Kindern, die im Abstand von einem Jahr kommen. Großer Risikofaktor sind auch junge Frauen, die mehrere Kinder haben mit unterschiedlichen Männern. Alkoholkonsum, Drogenkonsum ist sicher auch ein Risikofaktor. Risikofaktor ist auch massiver Medienkonsum und Mediensucht der Eltern. Risikofaktor ist auch eine gewisse Isolation, also Menschen, die hier in Deutschland nicht ankommen, die keine Familie haben, die komplett isoliert sind und unter Umständen auch unsere Sprache nicht kennen. Und natürlich die chronisch kranken Kinder oder Schreibabys, weil sie anstrengend für die Eltern sind."
Bei der rechtsmedizinischen Untersuchung ist die Forensikerin Seifert nicht allein, sie wird unterstützt von einem Kinderarzt. Denn bei Kindeswohlgefährdung geht es auch um eine altersgerechte emotionale, physische, motorische Entwicklung. Schwere Defizite können Hinweis darauf sein, dass ein Kind misshandelt oder vernachlässigt wird. Für die Rechtsmedizinerin steht fest: Gewalt gegen Kinder muss man früh erkennen und konsequent unterbinden.
"Es fängt in Anführungszeichen mit nur einer Ohrfeige und steigert sich immer weiter. Die Abstände zwischen den Gewalttaten werden immer kürzer. Das nennen wir Spirale der Gewalt. Wir haben das in einer wissenschaftlichen Arbeit auch nachgewiesen, dass diese Gewaltausbrüche sich steigern."

Der Fall Kevin wird zum Wendepunkt

Es sind diese Fälle, die seit Anfang der 2000er-Jahre eine breite öffentliche und fachliche Diskussion über den Kinderschutz in Deutschland auslösen. Mit der Gründung des Zentrums "Frühe Hilfen", zwei Kinderschutzgipfeln und einem neuen Kinderschutzgesetz setzt die Politik Zeichen. Die Forschung zum Thema Kinderschutz wird gesichtet, sie steckt in den Kinderschuhen. Wissenschaftliche Projekte werden in Auftrag gegeben. Und nach und nach werden strukturelle und fachliche Veränderungen eingeführt. Kevin aus Bremen und Yagmur aus Hamburg - ihre Namen stehen stellvertretend für Kinder, die unter den Augen der Behörden und Nachbarn gequält wurden und starben.

"Yagmur war ja eigentlich der ganz große letzte Fall, der deutlich gezeigt hat, dass untereinander nicht gesprochen wird, nichts abgesprochen wird und Kinder dann durch diesen in Anführungsstrichen dummen Zufall- dass man nicht geredet hat – zu Tode kommen."
Grabstein mit der Aufschrift "Kevin 2006"
Der "Fall Kevin" in Bremen zeigt die Schwachstellen im Kinderschutz auf und wird zum Wendepunkt.© picture-alliance / dpa / Ingo Wagner

Appell an die Bevölkerung: Bitte nicht wegschauen!

Gina Graichen hat im Laufe ihres Berufslebens in über 600 Fällen von Kindestötungen ermittelt, dabei auch immer wieder Nachbarn, Lehrer, Erzieher und Ärzte befragt.
"Wenn man dann feststellt, von fünf befragten Personen, sagen mindestens drei: Das ist aber schon lange so. Wundert mich, dass sie jetzt erst kommen. Da ging es mir nicht gut, weil ich dann dachte, was ist hier verkehrt? Warum reden die alle nicht miteinander?"

Die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Behörden, der Austausch von Informationen funktionierte nicht. Keiner ließ den anderen in die Karten schauen. Hinweise aus der Bevölkerung liefen ins Leere. Ratsuchende fanden keine Ansprechpartner. Bei der Berliner Kriminalpolizei war der Fall Marie ein Wendepunkt in Kinderschutzfragen. Ein Nachbar hört die Schreie des Mädchens, will ihr helfen und ruft das Jugendamt an.
"Und wird da von Pontius zu Pilatus verbunden: Bin nicht zuständig, verbinde sie weiter. Bin nicht zuständig, verbinde sie weiter- eine halbe Stunde. Und dann hat er noch den AB bequatscht. Ja, und einen Rückruf gab es nicht. Das Kind wäre wahrscheinlich irgendwann gestorben."
Marie hat Glück im Unglück. Zwei Wochen später eskaliert die Gewalt zwischen den Eltern. Dieses Mal informiert der Nachbar gleich die Polizei und bittet die Beamten nach Marie zu schauen. Das misshandelte Mädchen wird in Obhut genommen. Danach startet die Berliner Kriminalpolizei eine Plakataktion: "Bitte zögern Sie nicht, denn der Anruf kann entscheidend für das Leben eines Kindes sein." Darunter unübersehbar die erste Kindernotruf- Hotline der Berliner Kripo.
"Diese Rufnummer ist bis heute frequentiert. Also wir hatten in den ersten zwei Jahren 3000 Anrufe, die auch tatsächlich in 80 Prozent zu Strafanzeigen geführt haben. Dieses Hinweistelefon, das ist keine Denunziation. Es geht um Kinder, die sich alleine nicht helfen können."

In den Jugendämtern hat sich viel getan

Die Berliner Senatsverwaltung führt nach dem Fall von Marie neue Arbeitsabläufe in den Jugendämtern ein. Informationen sollten künftig nicht mehr verloren gehen. Vor allem aber geht es um Prävention, erklärt Gina Graichen.
"Daraus entstanden ist das Netzwerk Kinderschutz, wo wirklich festgelegt ist, wie zu verfahren ist, wenn sich jemand meldet. Das ist die Hotline Kinderschutz, die beim Kindernotdienst angesiedelt ist - inzwischen auch dreisprachig -, die rund um die Uhr erreichbar sind. Das sind Kinderschutzkoordinatoren bei den Jugendämtern, die, wenn jetzt wirklich mal irgendetwas nicht läuft, die dann da sind. Das ist die verlängerte Erreichbarkeit der Krisendienste der Jugendämter, die von acht bis 18 Uhr tatsächlich auf dem Handy zu erreichen sind und auch gleich kommen können, wenn etwas passiert."

Das Kinder-Notruf-Telefon, wo Kinder sich melden können, wo man ihnen konkrete Hilfe anbietet, gibt es mittlerweile bundesweit. Ratsuchende können den Deutschen Kinderschutzbund anrufen, es gibt Sorgentelefone und vieles mehr.
"Unser Eindruck war, dass das für viele gedankliches Neuland war."
Stefan Trapp ist niedergelassener Kinderarzt in Bremen.
"Dass ‚das sich drum kümmern, dass es den Kindern gut geht` nicht Freitagmittag endet und Montag früh wieder weitergeht. Oder auch nachts tatsächlich eine Amtsperson erreichbar sein muss. Und das klingt so banal. Es ist aber wirklich bahnbrechend gewesen."
Trapp arbeitet - wie er selbst sagt – in einem sozial eher schwachen Stadtteil der Hansestadt. Knochenbrüche, Hämatome, Striemen seien der sichtbare Teil der Gewalt. Aber:
"Gerade bei Säuglingen und jungen Kindern da entstehen eigentlich die Muster der stabilen Bindung. Da erlernen die, was es bedeutet, sich 100 Prozent verlassen zu können. Da erlernen sie, wie nehme ich Blickkontakt auf. Wie verstehe ich den anderen, wie versteht der mich und wie entsteht Empathie? Wie entsteht Nähe? Das ist eine Phase, die ist ganz verletzlich."
"Jugendamt" ist am 14.09.2017 auf einem Schild in Dresden (Sachsen) zu lesen. 
In den Jugendämtern hat sich in den vergangen Jahren viel getan, um Kinder besser zu schützen.© picture-alliance / dpa / Arno Burgi

Vernachlässigung: Erfahrung, die sich nicht löschen lässt

Anna: "Es gab eine Situation, da war meine Mama drei Tage weg. Das war natürlich für meine Schwester und für mich ganz schlimm, weil wir überhaupt nicht wussten, was ist jetzt los? Sie hat sich nicht verabschiedet und gar nichts. Sie war halt einfach weg. Das ist schon ein Thema, was mich bis heute begleitet- dass ich das Gefühl habe, dass ich eigentlich auf mich alleine gestellt bin."
Anna, die von ihrer Mutter vernachlässigt und geschlagen wurde, kam mit acht Jahren in eine Pflegefamilie, die sie liebevoll aufnahm und ihr Geborgenheit gab. Anna studierte, 2017 promovierte sie. Sie verliebte sich. Wurde Mutter. Die guten Erfahrungen ihres Lebens aber können die frühen Erlebnisse der 31-Jährigen nicht löschen.
"Und das ist eigentlich auch so das Schlimmste für mich, die schlimmste Auswirkung auf mein jetziges Leben, dass dieses Urvertrauen einfach so nachhaltig gestört ist. Dass es mir wahnsinnig schwerfällt, mich auch jetzt in der Beziehung zu meinem Partner komplett fallen zu lassen."
Prof. Katja Nowacki: Nur 30 Prozent der Menschen, die selber Gewalt in der Kindheit erfahren haben, wenden auch aktiv wieder Gewalt an. Das heißt, dass es 70 Prozent gibt, die das erst einmal nicht so tun."
Anna: "Ich habe schon gemerkt, es gab zwei, drei Situationen, da hat sie so geschrien, da bin ich dann selber so aggressiv geworden. Und da habe ich dann einfach das Zimmer verlassen. Ich hatte dann kurzzeitig das Bedürfnis, ihr eine zu hauen, weil ich dann so verzweifelt und so wütend war. Ich möchte das auf gar keinen Fall weitergeben und ich möchte meiner eigenen Tochter alles das bieten, was ich nicht hatte. Ich weiß, dass es mir nicht passieren wird in diese Spirale reinzukommen. Aber weil ich doch innerlich ein bisschen Angst davor habe, thematisiere ich das ganz bewusst."
Prof. Katja Nowacki: "Es gibt Trainings für Eltern im Umgang mit ihren Kindern und auch Möglichkeiten, Eltern dabei zu unterstützen, zu lernen anders auf die Kinder einzugehen und Ding umzusetzen oder durchzusetzen."

Neue Angebote sollen gute Elternschaft ermöglichen

Psychologieprofessorin Katja Nowacki hat untersucht, was passieren muss, damit Väter, die Gewalt in ihrer Kindheit erfahren haben, diese nicht an ihre eigenen Kinder weitergeben und wie sie gute Väter werden können - Sie brauchen Begleitung.
"Es gibt eine hohe Motivation, etwas anders zu tun. Und wir glauben sehr stark, dass Intervention oder auch andere Settings, wo Eltern lernen können mit ihren Kindern anders umzugehen als sie es vielleicht selber erlebt haben, da schon eine Chance haben, Dinge zu verändern."
Unterwegs mit Babylotsin Tina Wilson im "Amalie Sieveking" -Krankenhaus im Hamburger Stadtteil Volksdorf. Jeden Tag geht die 42-jährige Sozialpädagogin auf die Geburtenstation, schaut nach den Müttern und Kindern, fragt bei Hebammen und Krankenschwestern nach, ob jemand ihre Hilfe benötigt.
"Wir unterstützen die Eltern rund um den Zeitpunkt von Schwangerschaft und Geburt in allen nicht medizinischen Fragen und dabei geht es vor allem um psychosozial belastete Familien."
"Babylotse" ist ein bundesweites Programm zum vorbeugenden Kinderschutz und zur frühen Gesundheitsförderung von Kindern. Ob finanzielle Unterstützung, Hilfe bei Anträgen, bei der Verbesserung der Wohnsituation oder bei Partnerschaftskonflikten - aus 400 Angeboten der frühen Hilfen kann für die Familie, für Mutter und Kind Passendes ausgewählt werden.
"Wir machen uns erst einmal einen Überblick über die Situation in der Familie, d.h. in welchem Kontext lebt die Familie? Wie ist die Familie finanziell aufgestellt? Arbeiten die Elternteile oder beziehen sie Leistungen über das Jobcenter oder, oder, oder und wir vernetzen einfach in bestehende Angebote."

Babylotsen sollen Risiken früh erkennen

Babylotsinnen gehen in Frauenarztpraxen, sie arbeiten mit Hebammen, Krankenschwestern, Stadtteilhelfern zusammen. Möglichst früh Belastungsfaktoren herausfiltern und noch vor der Geburt abschaffen - das sei das Ziel. Damit die Eltern gute Eltern für ihr Kind sein können.
"Also eine konkrete Situation, die ich hatte, war, dass ein Vater im Kreißsaal seine Frau unter der Geburt geschlagen hat und ich durch das Personal informiert worden bin. Wenn dieser Mann unter der Geburt sich nicht so weit unter Kontrolle hat, dann frage ich mich, was passiert, wenn das Kind zu Hause schreit und sich vielleicht nicht so leicht beruhigen lässt? Es war eine fremdsprachige Familie. Der Vater war für die Übersetzung unter der Geburt zuständig und fühlte sich absolut überfordert mit der Situation, weil seine Frau eben die Anweisung nicht befolgt hat und dann war das so eine Handlung im Affekt, die ihm aber nicht mit dem Säugling passieren darf."
In diesem Fall hat Tina Wilson nicht gezögert und das Jugendamt informiert, damit man die Familie unterstützen, aber auch beobachten kann.

Wer einmal Unterstützung erfährt, nimmt Angebote besser an

Im Regelfall fragt sie die Mütter, die Eltern, ob sie diese Behörde, die bei vielen als Schreckgespenst gilt, informieren darf.
"In der Regel wird die Unterstützung angenommen. Also viele sagen, wie gut, dass ich sie kennengelernt habe oder gut, dass ich das noch regeln konnte. Manchmal stellen wir fest, dass Eltern das, was wir vorschlagen, nicht gut umsetzen können. Und das sind Dinge, die wir eben auch im Blick haben und dann müssen wir immer auch abwägen, gibt es Momente, in denen wir das Kindeswohl gefährdet sehen. Wir schauen immer aus dem Blickwinkel des Kindes."

Tina Wilson hat festgestellt, "dass Familien, wenn schon einmal Unterstützung angenommen wurde, dass sie auch eher bereit sind, diese wieder anzunehmen, wenn sie in eine problematische Situation kommen."
Anna: "Ein vierjähriges Kind kommt nicht auf die Idee, andere Leute anzusprechen und zu sagen, meine Mama nimmt Drogen und ich glaube, es wäre besser, wenn ich wegkomme. Und deswegen ist es die Verantwortung von Außenstehenden, da auch mit darauf zu achten und genauer hinzuschauen. Das Jugendamt war immer wieder da und hat im Sinne von meiner Mama gehandelt, nämlich, dass sie immer noch und noch eine Chance gegeben wurde und sie hat die einfach nicht wahrgenommen und ist zu den Treffen nicht gekommen. Und dann gab es noch mal eine Einladung, noch mal eine Einladung bekommen und noch mal. Man hätte uns eigentlich Leid erspart, wenn man uns früher rausgenommen hätte."
Babylotsin Anne Mellinger (r) unterhält sich am 10.12.2015 im Klinikum Frankfurt Höchst in Frankfurt am Main mit einer Mutter.
Babylotsen bieten schon früh Hilfe an.© picture alliance / dpa / Alexander Heinl

Vom Recht der Eltern hin zum Recht der Kinder

In den letzten Jahren hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen: vom Recht der Eltern hin zum Recht der Kinder. Auslöser für diesen Sichtwechsel war nicht zuletzt "Kevin aus Bremen", meint Professor Katja Nowacki. Der Zweijährige wurde von seinem drogensüchtigen Stiefvater totgeprügelt, obwohl Kevin unter dem Schutz des Jugendamtes stand.
Prof. Katja Nowacki: "Deswegen gibt es jetzt viel stärkere Vernetzung, verankert im Bundeskinderschutzgesetz. Aber hier brauche ich natürlich auch wieder in der Praxis Menschen. Ein Gesetz alleine bringt ja noch gar nix, sondern es braucht gut funktionierende Strukturen, was Personalressourcen, was Wissen und Vernetzung unter den Fachkräften angeht- sprich Jugendamt, Polizei, aber auch Kindertagesstätten, Schulen, Ärzte, Ärztinnen – also alle, die da sozusagen involviert sind. Das ist ganz wichtig."

Heute arbeitet nicht nur in Bremen das Jugendamt nach dem Vier-Augen-Prinzip. Es gibt Fallkonferenzen, einen offenen Austausch zwischen den Beteiligten.
Rolf Diener: "Wir versuchen auch aus Fehlern und aus besonders gut gelungenen Fällen unsere Lehren zu ziehen. Was können wir davon bewahren? Was können wir noch besser machen? Was ist gut gelaufen? Was ist schlecht gelaufen? Wie können wir unsere Kooperation noch weiter verbessern?"
Nach "Kevin", sagt Rolf Diener, Jugendamtsleiter in Bremen, hat sich bundesweit auch beim Betreuungsschlüssel für Amtsvormünder etwas getan: Eine Person darf heute nur noch 50 Kinder betreuen. Auch gelten jetzt strenge Regeln, wenn drogen-substituierte Eltern ihre Kinder bei sich haben. Dazu gehören regelmäßige Haaranalysen und Urinproben.
"Wir haben in Bremen als erste oder als mit einer der ersten Kommunen flächendeckend eingeführt, dass wir sowohl bei den Eltern, als auch bei den Kindern Drogenscreenings durchführen. Und für das einzelne Kind gibt es immer eine ganz präzise und enge Bewertung und Prüfung: Wie können wir sicherstellen, wenn das Kind substituierte Eltern hat, dass das Kind dort gut versorgt ist und dass es sich gut entwickeln kann?"

Es fehlt an Personal, um die Aufgaben zu bewältigen

Es hat sich vieles geändert: an Gesetzen, an der Zusammenarbeit. Umfangreiche Maßnahmen sind zum Schutze der Kinder eingeführt worden. Doch in zu vielen Jugendämtern fehlt es an Personal, um diese Maßnahmen professionell umzusetzen. Das zeigte jüngst eine Studie von Wissenschaftlerinnen der Hochschule Koblenz. Im Auftrag der Deutschen Kinderhilfe haben sie die Arbeitsbedingungen des Allgemeinen Sozialen Dienstes in Jugendämtern untersucht. Dafür wurden rund fünf Prozent der Sozialdienst-Mitarbeiter befragt. Eines der Ergebnisse:
Während Experten empfehlen, dass sich ein Mitarbeiter um höchstens 35 Fälle gleichzeitig kümmern soll, halten nur gut zwei Drittel der Ämter diese Obergrenze ein. Immer wieder wird berichtet, dass Mitarbeiter 60 Familien oder mehr betreuen. Inwieweit die aktuelle Überforderung der Mitarbeiter am Aufgabenzuwachs durch die Arbeit mit minderjährigen Flüchtlingen und Flüchtlingsfamilien liegt, geht aus den Zahlen nicht hervor.
Ein zweites Ergebnis: 63 Prozent ihrer Arbeitszeit verbringen die befragten Sozialarbeiter mit der Dokumentation ihrer Arbeit. Sie wünschen sich mehr Zeit für die praktische Arbeit.
Auch Rechtsmedizinerin Dragana Seifert hat einen Wunsch. Wenn es um eine Entscheidung bei Kindeswohlgefährdung geht, sind in Deutschland die Hürden hoch. Und das sei auch gut so, aber:
"Was ich mir wünschen würde, dass die Familiengerichte viel schneller und viel konsequenter die Familie zur Mitarbeit mit Jugendamt und Familienhelfer und uns verpflichten. Ich glaube, dass es die Lösung nicht ist, die Kinder aus der Familie zu nehmen. Ich glaube, dass die Lösung ist, dass die Eltern kontrolliert werden und verpflichtet sind, mit Jugendamt und Familienhelfern und Kita zu arbeiten."

Die Jugendämter schauen genauer hin

Noch nie haben Jugendämter häufiger das Kindeswohl geprüft als gegenwärtig. Fast 137.000 Mal sind sie 2017 einem Verdacht auf Gefährdung nachgegangen. Dabei sahen die Behörden in rund 46.000 Fällen die Kinder akut oder latent gefährdet. Es werden mehr Kinder in Obhut genommen als in den vergangenen Jahren. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als seien die Zahlen Beleg für mehr Gewalt und Vernachlässigung. Wahrscheinlicher ist, dass alle genauer hinschauen und die Zusammenarbeit aller am Kindeswohl Beteiligten besser klappt als noch vor Jahren. Ein Erfolg, auch für die pensionierte Kriminalhauptkommissarin Gina Graichen, die nicht nur über 30 Jahre gegen Täter und Täterinnen ermittelte, sondern auch öffentlich Aufklärungsarbeit geleistet hat.
"Man muss immer wieder dranbleiben und darf sich nicht darauf ausruhen zu sagen, wir haben das so toll hingekriegt. Wir müssen jetzt gar nichts mehr machen. Das ist wie im Garten: Da muss man auch ständig Unkraut zupfen, neu gucken, pflanzen und wenn man wieder hinguckt, ist es wieder da. Also muss man wieder etwas machen."
Anmerkung der Redaktion: Anna und Flora sind Pseudonyme.
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