Getrennte Zwillinge

Von Andrea Rehmsmeier · 21.11.2011
Sie sind nur durch einen Fluss getrennt, doch könnte die Stimmung in beiden Orten unterschiedlicher nicht sein. Narva auf estnischer Seite geht es schlecht, Ivangórod auf russischer Seite boomt.
Es ist immer der gleiche Anblick, zu jeder Tageszeit und manchmal auch des Nachts: In zähem Stop and Go quält sich eine Autoschlange Richtung Schlagbaum, direkt vor dem Rathaus von Narva, entlang des offenen Fensters des stellvertretenden Bürgermeisters. Jedes Mal, wenn Aleksandr Ljudvig seinen Blick schweifen lässt, sieht er, wie Bewohner ihre Stadt verlassen – Richtung Russland. Denn die Straße, die über den zentralen Peetri-Platz führt, endet unvermittelt vor einer Autobrücke.

Rechts und links stehen Passkontrollhäuschen und Zollstationen, dahinter rauscht die Narva, der Fluss, der der 66.000-Einwohner-Stadt auf estnischer Seite ihren Namen gab. Am anderen Ufer – dort, wo das Territorium der Russischen Föderation beginnt – liegt das Städtchen Ivangórod, das die Menschen Leute von Narva als ihre Zwillingsstadt bezeichnen. Dort, in Ivangórod ist alles billig, was Menschen in prekären Lebensverhältnissen zu kleinen Geschäften inspiriert: Zigaretten, Wodka und vor allem Benzin. Mit seinem Finger weist Ljudvig aus seinem offenen Fenster auf die Autoschlange:

"Meistens kommen sie mit deutschen Autos. VW Passat, zum Beispiel: Die haben den größten Benzintank. Hier in Narva leeren sie das Benzin aus, dann fahren sie von neuem los. Auf diese Weise verdienen sie nicht schlecht."

Ljudvig ist ein Regionalpolitiker der jungen Generation: Die hochgewachsene Gestalt des 31-Jährigen ist in ein sportliches Sakko gekleidet. Auf dem Schreibtisch stehen Kinderfotos. Ljudvig ist estnischer Staatsbürger. Doch wie fast alle Einwohner der Stadt stammt er aus einer russischen Familie. Auch sonst ist Narva, wo die russische Minderheit wohnt, alles andere als eine typische estnische Stadt. Die kluge Wirtschaftpolitik der Regierung Tallinn, die das kleine Estland zum Vorzeigestaat unter den EU-Beitrittsländern gemacht hat, hat hier noch keine Wirkung gezeigt, ganz im Gegenteil. Die Arbeitslosenquote in Narva ist mit 16 Prozent die höchste in ganz Estland, doch staatliche Subventionen fließen nur spärlich:

"Ja, hier verfällt alles, weil in diese Peripherie kein Geld fließt – und das nur, weil Russen und Esten das Zusammenleben immer noch schwer fällt. Wir müssen ja keine Freunde sein. Aber wir müssen diplomatisch vorgehen. Das Letzte, was wir jetzt brauchen können, ist ein ernster Konflikt."

Die Außengrenze zwischen der EU und Russland, die nun zwischen Narva und Ivangórod verläuft, hat Familien getrennt, Geschäfts- und Arbeitsbeziehungen zerschnitten. Die Lebensverhältnisse in den Zwillingsstädten diesseits und jenseits des Flusses sind längst auseinandergedriftet. Lange war nicht klar, ob die Europäische Union oder die Russische Föderation die besseren Voraussetzungen für Wohlstand und Wirtschaftswachstum bieten würde. Seit Anfang des Jahres jedoch zeichnet sich ein Trend ab: Im russischen Ivangórod eröffnete der Autohersteller Hyundaj ein neues Werk. Im estnischen Narva dagegen schloss der größte Arbeitgeber für immer seine Werkstore: die Textilfabrik Kreenholm, die zu Sowjetzeiten über 10.000 Näherinnen beschäftigt hatte. Seitdem ist die Stimmung in der Stadt schlecht.

Verwandtenbesuch – das ist hier das Zauberwort für den Grenzübertritt. Ein Abkommen zwischen Russland und Estland gibt den Bewohnern von Narva und Ivangórod das Recht auf ein Langzeitvisum für das Nachbarland – denen jedenfalls, die am anderen Flussufer Familie haben. Wer kein Verwandtschaftsvisum besitzt, verfügt über die doppelte Staatsbürgerschaft oder er besitzt den grauen Pass der Staatenlosen – und kann ebenfalls frei passieren. Ein älteres Ehepaar verkürzt sich das nervenaufreibende Schlangestehen mit einem Picknick aus Butterbrot und Äpfeln.

Sie stellen sich als Aleksandr und Elena vor. Auch sie fahren wegen des billigen Sprits nach Russland und um "Geschäfte" zu machen, wie sie sich ausdrücken. Beim stundenlangen Schlangestehen hat sich das Ehepaar in Rage geredet über die verworrenen Verhältnisse in diesem seltsamen neuen Europa. Aleksandr ist russischer Staatsbürger. Elena hat ihren alten sowjetischen Pass gegen den estnischen eingetauscht und so ihre Chancen auf eine Festanstellung in Narva verbessert. Dennoch fühlt sie sich drangsaliert:

"Zur Sowjetzeit waren wir alle Russen. Jetzt haben sie uns gezwungen, die estnische Staatsbürgerschaft anzunehmen. In dem staatlichen Krankenhaus, in dem ich als Krankenschwester arbeite, haben sie uns mit Entlassung gedroht, wenn wir nicht Sprachprüfungen im Estnischen ablegen. Zuerst waren es Prüfungen in den so genannten Kategorien A-B-C. Aber dann haben sie neue Kategorien eingeführt und danach schon wieder neue: Ich musste die Prüfungen mehrfach wiederholen. Und das in meinem Alter, wo man einfach nur in Ruhe leben will. Aber mit estnischer Staatsbürgerschaft hat man wenigstens eine Chance auf günstigen Wohnraum und halbwegs gut bezahlte Arbeit. Man hat, nun ja, Privilegien."

Das Stadtgebiet endet abrupt am Steilufer. Dahinter windet sich die Narva durch eine malerische Flusslandschaft. Der Blick herab von der 750 Jahre alten Wallanlage, die das Steilufer befestigt, ist grandios und eigentümlich zugleich. Am westlichen Ufer ragt wie schwerelos die Hermannsfeste auf. In der Flussmitte patrouillieren die Boote der Grenzbeamten. Am gegenüberliegenden Ufer zeigt sich Russland von seiner imposantesten Seite. Denn auch Ivangórod hat eine Festung: ein monumentales Bauwerk von der Größe einer Mittelalterstadt, das die Hermannsfeste geradezu zierlich erscheinen lässt. Seine Außenmauer versperrt jeden Blick auf die dahinterliegende Stadt. Für EU-Bürger ist an dieser Stelle die Reise zu Ende: Wer zu diesem Ufer herüber will, braucht ein Visum für Russland.

Das 10.000-Einwohner-Städtchen Ivangórod, gelegen an der anderen Flussseite, ist ein sowjetisch geprägtes Provinznest. Die Manufakturhallen und Bürgerhäuser aus der Zarenzeit sind dem Verfall preisgegeben. Das örtliche Jugendzentrum trägt wie zu Sowjetzeiten den Namen Dom Kultúry, Kulturhaus. Auf der kleinen Theaterbühne proben an diesem Nachmittag Teenager für eine Jazztanzvorführung. Im Verwaltungstrakt bewirten Damen von der Verwaltung wartende Mütter mit Tee und Keksen.
Heute sitzen sie zu sechst um den kleinen Holztisch herum und diskutieren ein Thema, das Eltern in dieser Stadt bewegt wie kein zweites: Wer bietet ihren Kindern die besseren Berufschancen, Russland oder die Europäische Union? Alle sechs haben in den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion das Leben an beiden Flussufern kennengelernt. Und an diesem Tag fällt die Antwort überraschend eindeutig aus: Die Zukunft ihrer Kinder sehen sie in Russland:

"Ich habe dort gearbeitet und hier gelebt, dann habe ich hier gelebt und dort gearbeitet. Und, ach, früher wollte ich sehr gerne in Europa leben, in Estland. Die Esten haben eine so wunderbare Kultur. Heute ist das anders. Drüben ist die Stimmung schlecht geworden. Jetzt lebe ich mit Überzeugung in Russland und ich möchte, dass auch mein Sohn in Russland lebt. Er ist jetzt zwölf, und eigentlich ist er gerne drüben in Narva. Dort geht er auf Konzerte, in Museen, zum Schlitten fahren, zu Freunden. Doch wie wir alle fährt er meistens nur herüber, um Freunde und Verwandte zu besuchen – und nicht, weil er den Staat Estland so schön findet."

Ja, Patriotismus für ihr Heimatland Russland haben diese Frauen durchaus. Ihre Wahl zwischen der russischen und estnischen Staatsbürgerschaft haben sie trotzdem noch nicht endgültig getroffen. Denn ein estnischer Pass, das ist für sie eine strategische Option, die das Tor in die Europäische Union öffnen würde und ihren Kindern den Weg freimacht in die Arbeitsmärkte der 27 Mitgliedsstaaten:

"Heute gibt es auch hier in Russland gute Berufschancen – besonders für junge Leute. Sie können reisen, im Ausland studieren und überall Arbeit finden. Ich selbst würde Russland nie verlassen – und das, obwohl ich durchaus schon gute Angebote für eine Arbeitsstelle hatte. Meine Tochter sieht das genauso: Sie liebt es zu reisen, aber leben möchte sie in Russland."

Spätestens seit Anfang dieses Jahres, als im estnischen Narva die Textilfabrik Kreenholm ihre verbliebenen Mitarbeiter in die Arbeitslosigkeit entließ, hat sich die einstige Anziehungskraft der Europäischen Union endgültig aufgebraucht. Die Bürger von nebenan, von Ivangórod beobachten, wie sich ihre Freunde und Verwandten am anderen Flussufer durch wirtschaftlich harte Zeiten kämpfen:

"Letztes Jahr, am Vorabend des 9. Mai, als Russland gerade in den Vorbereitungen für den traditionellen 'Tag des Sieges' steckte, da habe ich meine Freundinnen in Narva besucht. Ich habe ihnen von unserem Feiertag erzählt, und davon, wie sehr wir alle uns darauf freuen. Sie haben mich staunend angeschaut, und sich über meinen Patriotismus gewundert."
Ivangórod und Narva, die Zwillingsstädte, die auseinander gehen. Heute bestimmt der Flussverlauf über das Lebensgefühl der Menschen an beiden Uferseiten. In Ivangórod gibt es im Moment nur wenige, die sich nicht selbst als Patrioten bezeichnen würden. In Narva dagegen findet man bislang noch keine überzeugten Europäer. Wer in Narva Aufbruchsstimmung und Unternehmergeist sucht, der muss den Stadtkern verlassen und ins Gewerbegebiet fahren.
Zu Sowjetzeiten stand hier einmal ein riesiges Textilkombinat. Heute nennt sich das 6000 Quadratkilometer großes Gelände "Industriepark Intech-Nakro". Die meisten der riesigen Werkshallen sind frisch renoviert, und innen in überschaubare Arbeitsnischen parzelliert. Wo früher hunderte Arbeiter an haushohen Maschinen Schwerstarbeit leisteten, ziehen heute Frauen Stoffbahnen aus blitzsauberen Plättmaschinen, kontrollieren Farbtöne oder fertigen Arbeitskleidung in der Nähwerkstatt. Wer hier eine feste Stelle hat, der trauert den alten Zeiten nicht mehr hinterher:

"Früher habe ich in der Textilfabrik Kreenholm gearbeitet, seit drei Jahren bin ich hier. Hier ist es besser, sauberer und interessanter. Aber mit dieser Meinung stehe ich in Narva ziemlich allein da. In der Stadt ist die Stimmung schlecht. Die Leute vertrauen nicht auf die Wirtschaft."

Angestellt ist die Mitarbeiterin heute bei einem skandinavischen Textilfabrikanten. Sie ist sozial abgesichert, und bekommt für hiesige Verhältnisse ein überdurchschnittliches Gehalt. Umgekehrt profitiert ihr Arbeitgeber von den niedrigen Arbeitslöhnen des EU-Randgebiets. Nur darum kann er es sich leisten, die hier produzierte Spezialbekleidung von Hand fertigen zu lassen – von den berufserfahrenen Mitarbeiterinnen der alten Textilfabrik Kreenholm. Nach Russland wird heute nur noch ein winziger Teil der Produktion exportiert, die meisten Bestellungen kommen aus Europa, Singapur, Taiwan und China.
Außer dem Textilfabrikanten haben fast 40 weitere Unternehmen aus ganz Europa in den alten Fabrikhallen ihre Produktionsstätten eingerichtet – Bootsbauer, Druckereien, sogar ein wissenschaftliches Institut. In einer Produktionsstätte für Lederwaren arbeiten Frauen an Farbbädern, Trocken- und Zuschneidemaschinen. An den Industrie-Dinosaurier aus der Sowjetzeit erinnern heute nur noch drei haushohe, völlig verrostete Maschinen, die nun etwas verloren am Rande der Werkshalle herumstehen:

"So sieht der Lederbetrieb heute aus. Das da drüben sind die alten Trockenmaschinen. Schauen Sie nur, was für gigantische Dinger! Die modernen Trockenmaschinen da drüben arbeiten viel effektiver. Heute arbeiten hier etwa 100 Mitarbeiter. Zu Sowjetzeiten waren es fünf Mal mehr. Und das dank moderner Technik bei gleichem Produktionsvolumen. In Deutschland, Österreich sind die Produktionsstätten für Lederwaren längst geschlossen. Jetzt gibt es kaum noch welche in Europa."

Wenn Aleksandr Brokk Besucher durch seine Werkshallen führt, dann leuchtet ihm der Stolz aus den Augen: Überall wird renoviert. Der lebhafte Mittfünfziger mit dem Baumwollhemd deutet auf die frisch belegten Hallenböden, präsentiert blitzsaubere Sanitäranlagen und erklärt die Komplexität der neuen Elektrik. Zu Sowjetzeiten hat er hier selbst als Mechaniker gearbeitet. Heute ist er der Eigentümer des Geländes. Zehn Jahre ist es her, seit Brokk sich entschloss, die Herausforderungen des europäischen Marktes anzunehmen. Mit Krediten und Vorschüssen hat er das heruntergekommene Werksgelände gekauft. Er hat renoviert, investiert und geworben. Heute ist das Industriegelände der Stolz der Stadt. Und Aleksandr Brokk, der Mechaniker, hat bewiesen: Auch in Narva kann man als Privatinvestor erfolgreich sein:

"Narva ist eine arme Stadt. Aber gerade darum ist die Produktion hier rentabel. Schweden ist gerade 80 Kilometer entfernt, Finnland nur 60 Kilometer. Aber dort kostet alles das Zehnfache. Diese Hallen habe ich mit modernster Technik ausgestattet. Mit solchen Geräten braucht man nur wenig Fachpersonal. Das ist der neue, der europäische Weg. Ich habe ihn gefunden, weil ich ihn gesucht habe. Ich habe mich von allem getrennt, was ich von früher kannte. Weil ich mir gedacht habe: Da wir der Europäischen Union nun einmal beigetreten sind, will ich mir doch mal anschauen, wie das Leben dort funktioniert."
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