Gesundheitssystem

Revolution im Kinzigtal?

Betreutes Training mit Patrik Bothor, sportlicher Leiter der Gesundheitswelt
Betreutes Training mit Patrik Bothor, sportlicher Leiter der Gesundheitswelt © Gesundes Kinzigtal
Von Anke Petermann · 14.08.2017
Unzufriedene Mediziner gaben vor einem Jahrzehnt den Anstoß für die Initiative "Gesundes Kinzigtal". Ein Erfolg: Menschen werden erst gar nicht chronisch krank - und die Krankenkassen sparen Millionen.
"Knie nach außen, Bauch nach innen, schaut, dass ihr die Pobacken gleichzeitig ganz leicht zusammenkneift".
Patrik Bothor, Leiter der Reha-Sportgruppe Orthopädie in der sogenannten "Gesundheitswelt", gibt seinen Teilnehmern Tipps, wie sie einerseits Körperspannung im Rumpf herstellen, andererseits Schultern und Nacken gegen Verspannung schützen.
Das erleichtert ihnen den Alltag, weiß der Diplom-Sportwissenschaftler, der bei der "Gesundes Kinzigtal GmbH" angestellt ist. Irmgard Winterer richtet sich auf, senkt bewusst die Schultern.
"Es tut mir gut, ja, ich kann es nur weiterempfehlen."
Die 59-Jährige mit dem grauen Kurzhaarschnitt nimmt seit einem Jahr auf ärztliche Verordnung an diesem Kurs teil. Hält sie nicht mit Sport, gezielter Ernährung und spezieller Medikation dagegen, riskiert die Bäuerin wegen abnehmender Knochendichte, sich etwas zu brechen. Doch mit dem Spezialprogramm "Starke Muskeln, feste Knochen" bekommt Winterer ihre Osteoporose-Beschwerden in den Griff.
Schnupperkurs der Gesundheitsinitiative Gesundes Kitzingtal
Schnupperkurs der Gesundheitsinitiative Gesundes Kitzingtal© Gesundes Kinzigtal
"Die Muskeln sind kräftiger, meinem Rücken geht's besser, das ist auch ein wichtiger Punkt. Der Rundrücken, den ich hab' – die Muskeln werden dadurch gestärkt."

Schmerzen lassen nach, konstatiert die Bäuerin. Als Herrin über 50 Milchkühe arbeitet sie schwer auf ihrem Hof. Im Kinzigtal liegt die Quote von Knochenbrüchen als Folge von Osteoporose einige Prozentpunkte unter dem Durchschnitt von Baden-Württemberg. Für Maria Stulz waren Nackenverspannungen und Kopfschmerzen Anlass, den Hausarzt aufzusuchen. Der empfahl der Erzieherin Reha–Sport unter Federführung der "Gesundes Kinzigtal GmbH" mit Sitz in der Schwarzwald-Kleinstadt Hausach.
"Ich bin jetzt ein Jahr dabei, also ich merk' schon was, mach' allerdings diese Übungen - was mir guttut - auch daheim. Denn ich denk', wenn man nur des hier macht, ist das zu wenig."
Ihre Gesundheit aktiv zu gestalten, statt Beschwerden passiv zu erdulden – damit lebt Stulz die Idee hinter dem Netzwerk "Gesundes Kinzigtal".

Aufräumen mit dem Krankheits-Reparaturbetrieb

"Das ist weg von diesem klassischen patriarchalen Modell 'ich sorge für dich und ich mache dich gesund'. Was sowieso nicht mehr funktioniert oder nur in absoluten Ausnahmefällen",
so beschreibt der Hamburger Gesundheitsmanager Helmut Hildebrandt die Philosophie seiner GmbH, Tochterfirma der Hamburger OptiMedis AG. Seit Jahrzehnten schon berät der OptiMedis-Vorstandschef Bundes- und Landesregierungen, heckte mit der grünen Gesundheitsministerin Andrea Fischer einst das System der "integrierten Versorgung" aus. In der Schwarzwälder Variante hat er das mit Hilfe einer elektronischen Patientenakte digital vernetzt und aufs Südbadische zugeschnitten.
Die lang ersehnte Gelegenheit, seine Reform-Ideen umzusetzen, gaben ihm unzufriedene Mediziner der Region. Vor mehr als einem Jahrzehnt hatten sie sich zusammengetan, um mit dem schlecht funktionierenden Krankheits-Reparaturbetrieb aufzuräumen. Und baten Hildebrandt als Experten um dessen Meinung. Der nahm kein Blatt vor den Mund, bezog die Ärzte in seine Grundsatz-Kritik mit ein.

Neu Probleme, alte Problemlösungen

"Wir sind viel zu stark geprägt von den Gedanken des letzten und vorletzten Jahrhunderts, wo uns gesagt wurde: da gibt es eine Krankheit, und da gibt es eine therapeutische Intervention, und dann ist alles wieder gut. Heute sind aber die wirklichen Kostentreiber im Gesundheitswesen nicht die Akuterkrankungen, sondern die chronischen Erkrankungen."
Die sich einschleichen, fortschreiten, die Patienten mürbe und deren Versorgung immer teurer machen.
"Und bei denen braucht man ein anderes Verständnis. Man muss eigentlich möglichst frühzeitig mit dem Patienten nach seinem Lebenswillen suchen…,"
… nach dem Willen, für sich selbst und die eigenen Gesundheit etwas zu tun.
"Und dann gucken, wie kann ich das unterstützen."

Kein Halbgott in weiß mehr

Der Arzt nicht mehr als verehrter Heiler und Halbgott in Weiß, sondern als medizinisch versierter Gesundheitscoach, der bei seinen Patienten verschüttete Zugänge zur Vitalität freilegt. Klingt kompliziert und mühsam, doch statt Hildebrandts Zumutungen abzuwehren, nickten die versammelten Ärzte des Kinzigtals. Tenor:
"'Ja! Da komme ich wieder an die Ursprünge heran, weshalb ich mal Medizin gemacht habe. Ich habe doch nicht Medizin gemacht, um die administrativen Vorgaben der Krankenkassen bestmöglich zu erfüllen. Ich wollte eigentlich was Gutes tun. Und das darf ich hier eigentlich gar nicht. Oder wenn ich das mache, schade ich mir ökonomisch selber. Was für ein Unfug!'
In der Zustimmung der Ärzte witterte Hildebrandt die Chance, der eigenartigen Kombination von Unter-, Über- und Fehlversorgung im deutschen Gesundheitswesen beizukommen. Exemplarisch im Kinzigtal. Hildebrandt machte sich daran, die Kassen von seiner Idee zu überzeugen, in das Vorbeuge-Netzwerk zu investieren.
"Und wir hatten halt das Glück, dass wir mit der AOK Baden-Württemberg eine sehr mutige Kasse, die bereit war, in das Risiko hinein zu gehen. Und gesagt hat: eigentlich verlieren wir ja nichts. 'Gesundes Kinzigtal', die sind bereit, auf reiner Erfolgsbasis zu arbeiten. Also: sollen sie doch."
"Ich bin in der Landwirtschaftlichen Krankenkasse".
Diese trägt neben der örtlichen AOK das Projekt zur integrierten Versorgung mit. Die beiden Kassen versichern fast die Hälfte der 70.000 Kinzigtal-Bewohner. Die Osteoporose-belastete Bäuerin Irmgard Winterer ist eine von rund 10.000 Versicherten, die mit ihrem behandelnden Haus- oder Facharzt nach einem Gespräch und einem Check-up eine Zielvereinbarung abgeschlossen haben. Bei Winterer gehörte der Muskel-Aufbau durch Reha-Gymnastik und Gerätetraining im Fitnessstudio der Netzwerk-eigenen "Gesundheitswelt" dazu. Chronische Krankheiten wie Diabetes oder Risikofaktoren wie Rauchen oder Übergewicht können Anlass für solche Verordnungen sein. Gesundheitsprogramme? Frage an eine Patientin.

Erstmal eine Zigarette

"Hab ich noch nie drüber nachgedacht",
sagt Karin Rosemann, die nach ihrem Hausarzt-Termin erstmal eine Zigarette braucht.
"Raucherentwöhnung zum Beispiel?"
"Hab' ich nicht nötig!" Lachen. "Ich brauch auch nicht abzunehmen." Husten. "Was habe ich noch für Macken?"
Lachen. "Ich sag jetzt nichts!"
Rosemanns Arzt Martin Volk lacht mit und verweist auf die ärztliche Schweigepflicht. Er ist einer der 65 Mediziner, die beim "Gesunden Kinzigtal" mitmachen. Mit seiner Hausarzt-Praxis ist er vor zwei Jahren in Räumlichkeiten neben der sanierten "Gesundheitswelt" des Verbund-Unternehmens eingezogen. Langfristig wird Volk zumindest versuchen, es seiner Patientin in ihrer Raucher-Nische ein wenig ungemütlich zu machen.

Die Patienten an die Hand nehmen

"Ich habe eine Schulung gemacht, über entsprechende Gesprächsführung und Raucherentwöhn-Training."
Nikotin-Abhängige gezielter und beharrlicher auf den möglichen Abschied von der Zigarette anzusprechen - darum ging es in der Fortbildung, einer von vielen präventions-orientierten, die das Netzwerk anbietet. Innerhalb von einem halben Jahr mit dem Rauchen aufzuhören, kann Bestandteil einer Zielvereinbarung zwischen Arzt und Patient sein.
"Oder etwas an Gewicht abzunehmen oder ein Bewegungstraining anzufangen"
zählt Dr. Volk auf.
"Da haben wir die Möglichkeit, dem Patienten übers 'Gesunde Kinzigtal' etwas an die Hand zu geben. Das heißt, dass er nicht aus der Praxis rausgeht und muss sich selbst was suchen, sondern hat die Möglichkeit zu trainieren. Dann geht das nahtlos ineinander über. Und dann ist auch die Akzeptanz von den Patienten sehr gut, und die bleiben dann eher bei der Stange. Mit den entsprechenden Ergebnissen."
Wie beim Entwöhnungsprogramm in den Räumen nebenan. Patienten nicht einfach zu sagen "beweg‘ dich", sondern ihnen konkrete Tipps zu geben, wo sie trainieren können, um Beschwerden loszuwerden – so funktioniert ärztliche Beratung im Kinzigtaler Modell. Extra-Beratungsaufwand bekommen die Ärzte vergütet. Verbindlichkeit auch im Fitnessstudio der Gesundheitswelt. Nüchtern eingerichtet, mit modernsten Geräten, keine Musik. Patrik Bothor vergibt feste Uhrzeiten.

"Man strahlt irgendwie mehr Freude aus!"

"Ich hab einen Bandscheibenvorfall gehabt, und da ist Bewegung wichtig. Aber es macht auch Spaß, und das ist auch ein wichtiger Faktor. Da braucht man nicht immer den inneren Schweinehund zu überlisten."
Beckers Hausarzt kannte das "Gesunde Kinzigtal" nicht, die 65-Jährige selbst bat ihn, ihr Verordnungen fürs Diabetiker- und fürs Rückenprogramm beim Netzwerk auszustellen. Die Patientin lacht viel und fröhlich - gar nicht der leidende Typ. Sie freut sich über Fortschritte.
"Also erstmal von der Gelenkigkeit her: man geht ohne Schmerzen ran, wenn man hier ist. Und wenn man aussetzt, dann tut 's halt dort zwicke und dort zwicke – man ist freudiger, man strahlt irgendwie mehr Freude aus!"
Im Kinzigtal sinkt die Zahl der Krankenhaus-Einweisungen aus psychischen Gründen gegen den bundesweiten Trend. Durch die enge Vernetzung von Hausärzten, Pflegediensten und Krankenhäusern kommt es seltener vor, dass Hochbetagte wegen Austrocknung ins Krankenhaus müssen. Die Krankenhäuser zahlen bei solchen Einweisungen drauf. Mehr Lebensqualität für Senioren und chronisch Kranke jeden Alters. Mehr Erfolgserlebnisse für Ärzte, weniger Zuschussgeschäft für Krankenhäuser.

Zehn Millionen real gewonnen

Teure Mehrfachuntersuchungen und gefährliche Doppelmedikation - dank elektronischer Patientenakte passé. Insgesamt sinkende Kosten. So ließe sich ein knappes Jahrzehnt Gesundes Kinzigtal zusammenfassen. "Wir haben", so rechnet der Initiator Helmut Hildebrandt mit Blick auf AOK und Landwirtschaftskasse vor …
"… für die beiden Krankenkassen und ihre Versicherten, die hier im Kinzigtal ihren Wohnort haben, insgesamt 35.5 Millionen zusätzlichen Deckungsbeitrag erzeugt. Deckungsbeitrag ist dieses komplizierte Modell zwischen Einnahmen der Krankenkassen und realen Ausgaben. Das sind hier für so eine Region im Schnitt um die 75, 80 Millionen Euro Gesamtausgaben: Pflege, Arzneimittel, Krankenhaus, Arztkosten etc. So, diese 35, 5 Millionen, die wir da eingespart oder verbessert haben im Ergebnis für die Krankenkassen, wurden dann aufgeteilt ungefähr zwei Drittel zu uns und ein Drittel für die Krankenkassen, ungefähr zehn Millionen und etwas haben die Krankenkassen real gewonnen durch unsere Arbeit, über die neun Jahre."
Der Mut der beiden beteiligten Krankenkassen, sich auf das Projekt einzulassen, hat sich ausgezahlt. Jeder Kinzigtaler Versicherte kostet durchschnittlich etwa 166 Euro weniger als im Bundesdurchschnitt.

Expansion nach Norden

In Hamburg entsteht ein großstädtisches Pendant zum "Gesunden Kinzigtal": das Pilotprojekt "Gesundheit für Billstedt/Horn". Hildebrandts OptiMedis hat es gemeinsam mit einer Ärzte-Initiative in den beiden benachteiligten Quartieren gegründet. Frühe und viele chronische Erkrankungen, zu wenige Ärzte und überfüllte Krankenhaus-Ambulanzen - daraus speist sich das Defizit der Krankenassen dort - ihr Anreiz einzusteigen, mit mutmaßlich 100.000 Versicherten.
"Diese relativ wenigen Praxen sind sehr überlastet. Also, die Ärzte, die da mit Schwung, Energie und Dynamik eigentlich Gutes tun wollen, werden sehr ausgelaugt. Und deshalb müssen wir da sehr viel mehr komplementäre Unterstützung anbieten. Deshalb dieser 'Gesundheitskiosk', wie wir das nennen, wo die Patienten vorbreitet werden auf eine Arztbesuch und nachbereitet werden. Also, der Arzt schickt die dahin nach dem Motto, 'guckt mal, was an Programmen, Schulungen, Bewegung mit denen gemacht werden kann, ich kann das nicht in meiner Sprechstunde auch noch mit denen ausarbeiten.' Also, diese Zielvereinbarungsprozesse, die wir im Kinzigtal mit den Ärzten machen, machen wir dort dann in diesem Gesundheitskiosk mit den Mitarbeitern,"
Auch die Metropolregion Rhein-Neckar mit mehr als zwei Millionen Menschen zeigt Interesse an dem Modell. Es könnte also sein, dass das Kinzigtal in die Geschichte eingeht: als Keimzelle für ein Gesundheitswesen, das seinen Namen endlich verdient.
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