Gesundheitsökonom bewertet Reformkompromiss als verfehlt

Moderation: Hanns Ostermann · 25.10.2006
Der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem hat den zwischen SPD und Union erzielten Kompromiss zur Gesundheitsreform kritisiert. Das primäre Ziel, das Gesundheitswesen auf eine breitere Finanzbasis zu stellen, sei nicht erreicht worden, sagte Wasem.
Hanns Ostermann: Hat die Große Koalition die Weichen in die richtige Richtung gestellt oder wurde eine Chance vertan, Herr Wasem?

Jürgen Wasem: Nun, das primäre Ziel der Gesundheitsreform sollte ja eigentlich eine Finanzierungsreform sein. Wir haben seit vielen Jahren, seit der Wiedervereinigung, ein strukturelles Einnahmenproblem der Krankenkassen: Deren Einnahmen wachsen Jahr für Jahr weniger als das normale Wirtschaftswachstum. Und da wollten eigentlich beide Parteien ansetzen: Sowohl die Bürgerversicherung der einen als auch die Kopfprämie der anderen sind - wenn auch auf unterschiedlichem Wege - Versuche, diese Einnahmeschwäche zu lösen. Und der dabei herausgekommene Kompromiss wird dieser Anforderung in der Tat nicht gerecht.

Ostermann: Bleiben wir zunächst bei den Einnahmen, später kommen wir auf die Ausgaben zu sprechen. Wird da künftig jeder Euro effizienter ausgegeben, so wie das die Bundesgesundheitsministerin stets behauptet?

Wasem: Nö. Das effiziente Ausgeben ist ja direkt eine Frage auf der Ausgabenseite. Auf der Einnahmenseite ändert sich im Grunde genommen nichts, was die Finanzbasis angeht. Es bleibt dabei, dass Lohn und Gehalt der Beschäftigten und die Rente der Rentner im Grunde genommen die einzige Finanzquelle für die gesetzliche Krankenversicherung ist. Die Leute, die die Bürgerversicherung wollten, wollten zusätzliche Personenkreise und Kapitaleinkünfte dazuholen. Und die Leute, die die Kopfprämie wollten, dachten sich, die Kopfprämie müssen die Leute dann aus ihrem Gesamteinkommen finanzieren. Beides hätte die Einnahmenbasis verbreitert. Und auch ein beherzter Griff in die Kasse des Steuerzahlers hätte aus Sicht der Krankenversicherung die Finanzbasis verbreitert. Aber faktisch ist auch auf dieser Front Fehlanzeige, denn wir kriegen im nächsten Jahr 2,7 Milliarden Euro weniger Steuermittel als bis jetzt in die Krankenversicherungen rein.

Ostermann: Bei den Strukturreformen, also auch auf der Ausgabenseite, verspricht der Entwurf eine bessere Verzahnung - er verspricht es: eine bessere Verzahnung zwischen niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern. Ist das praxistauglich?

Wasem: Es gibt eine ganze Reihe auf der Ausgabenseite von Schritten, die tendenziell in die richtige Richtung gehen könnten. In der Tat ist unser Gesundheitssystem eins, von dem auch im internationalen Vergleich alle sagen: Ihr verzahnt Krankenhaus und ambulante Praxis relativ schlecht. Dort werden kleine Schritte in die richtige Richtung unternommen. Das würde ich durchaus so sehen. Allerdings fehlt auch da der Mut, weil wenn man richtig beherzt rangehen wollte, müsste man sich natürlich eine unserer wirklich heiligen Kühe mal ansehen: das ist die doppelte Facharztschiene. Damit ist gemeint, dass wir gut ausgerüstete Facharztpraxen haben im niedergelassenen Bereich und wenige hundert Meter daneben genauso gut ausgerüstete Einrichtungen im Krankenhaus. Das leisten sich so die meisten anderen Länder nicht. Und da richtig hinzugucken, hat der Mut dann doch nicht gereicht.

Ostermann: Stimmt denn jetzt der Vorwurf der Ärzte, der gestern immer wieder zu hören war: Wir bewegen uns auf eine zentralistisch gesteuerte Rationierungsmedizin zu? Ist das Agitation oder Propaganda? Oder entdecken Sie da durchaus einen wahren Kern?

Wasem: Also einen wahren Kern hat es aus meiner Sicht durchaus. Es gibt eine ganze Reihe von Regelungen in diesem Gesetzentwurf, die zu einer stärkeren Zentralisierung führen. Das ist ohne Zweifel so. Ich nenne als Paradebeispiel - Sie haben anfangs den Widerspruch der Krankenkassen angesprochen -, dass dort künftig ein zentraler Krankenkassenverband in Berlin errichtet werden soll und der bekommt eine ganze Menge Kompetenzen - der hat auch mehr Kompetenzen als bisher alle getrennten Kassenverbände, die es gab, zusammen. Und die Gefahr besteht natürlich, dass so ein großer Verband, dem dann 250 Krankenkassen als Mitglieder angehören, letztlich gar nicht so handlungsfähig ist, weil die sich nicht intern einigen und dann das Ministerium immer derjenige ist, der die Lösungen durchsetzen muss. Es gibt eine Reihe weiterer Beispiele, so dass insgesamt ich auch sagen würde: Zentralisierung auf jeden Fall - ob das zu Rationierung führen muss, halte ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch für völlig unabsehbar.

Ostermann: Herr Professor Wasem, die Einnahmeseite im Gesundheitswesen soll künftig der Fonds regeln. Ein bürokratisches Monster, meinen viele. Löst er das Problem?

Wasem: Nun, ich glaube nicht, dass der Fonds ein bürokratisches Monster werden muss. Da überzeichnen aus meiner Sicht die Akteure im System. Denn dieser Fonds, der kann sehr schmal gehalten werden, als mehr so eine virtuelle Einrichtung als wie eine wirkliche Behörde. Denn die Krankenkassen ziehen weiter die Beiträge ein und gemanagt wird das Ganze vom Bundesversicherungsamt, das auch schon heute den Risikoausgleich zwischen den Krankenkassen durchführt. Von daher: Es muss keine bürokratische Behörde werden. Der entscheidende Punkt ist nur, der Fonds löst nicht die Einnahmenprobleme. Er führt dazu, dass die Zahlungswege ein bisschen anders gehen, aber dadurch haben wir noch keine breitere Finanzbasis.

Ostermann: Sie haben auch über den Risikostrukturausgleich eben gesprochen, da wird es ja - davon kann man ja ausgehen, wenn sich später der Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag mit dem Gesetzentwurf beschäftigen wird -, da wird es ein heftiges Gezerre geben, weil die reichen Länder natürlich Probleme haben, mehr abzugeben?

Wasem: Ja, das ist richtig. Wir haben heute bereits die Situation - aus verständlichen Gründen, denke ich -, dass die Länder mit den höheren Einkommen der Versicherten in der Krankenversicherung über den Risikostrukturausgleich an die ärmeren Länder zahlen. Ich habe das für Bayern mal kürzlich nachgerechnet und kam auf knapp zwei Milliarden, die da heute fließen. Das wird sich - um je nachdem, wie man rechnet - am Beispiel Bayern zwischen 150 und 250 Millionen erhöhen. Dass die darüber nicht begeistert sind, ist klar.

Ostermann: Unter dem Strich, bei dieser Gesundheitsreform: Der Patient - wenn man die Gesundheitsreform als Patient bezeichnet, - ist nach wie vor - trotz dieses Gesetzentwurfes - ziemlich schwer krank?

Wasem: Ja, in der Tat. Wir haben ja nicht nur dieses strukturelle Einnahmenproblem, sondern wir haben ja auch akut Probleme, dass die Ausgaben stärker steigen als die Einnahmen. Und da löst der Gesetzentwurf relativ wenig. Ich befürchte, dass wir in einem Jahr auf jeden Fall wieder eine Diskussion um kurzfristig wirksame Maßnahmen auf der Ausgabenseite haben werden.

Ostermann: Der Essener Gesundheitsökonom Professor Jürgen Wasem im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur.