Gestörte Körperidentitäten

"Meine Beine gehören nicht zu mir"

Von Dörte Fiedler · 28.01.2016
Manche Menschen fühlen sich krankhaft hässlich. Manche empfinden ihren Arm oder ihr Bein als absoluten Fremdkörper - bis hin zu Amputationsgedanken. Sind das Rechenfehler im Gehirn? Den Forschern geben diese folgenreichen Störungen Rätsel auf.
Autorin: Man sollte denken, ich weiß was meine Hand ist. Ich schaue sie an und ich erkenne sie.
Autorin: Ok. Du musst dir das so vorstellen. Wir haben das zu zweit gemacht sonst geht es nicht. Zuerst hab ich einen Gummihandschuh, so einen Haushaltsgummihandschuh mit Reis gefüllt so dass er aussieht wie ne richtige Hand, aber ne Gummihand eben.
Autorin: ... Es gibt die kleine Narbe da links am Ringfinger, das typische Muster der Adern auf dem Handrücken...
Autorin: Dann habe ich meine Arme auf den Tisch gelegt. So. Meinen linken Arm habe ich hinter eine improvisierte Trennwand gelegt, so dass ich ihn nicht mehr gesehen habe. Und die Gummihand wie an dessen Stelle gelegt, auf die andere Seite der Trennwand.
Autorin: Es ist ganz eindeutig meine Hand. Ich fühle sie auch, sie ist gerade ein bisschen kalt.
Autorin: Ich musste dann während des Versuchs immer auf die Gummihand schauen. Der Versuchsleiter sozusagen, hat dann synchron meine echte linke Hand, die hinter der Trennwand und die Gummihand mit einem Pinsel berührt und so gestreichelt. Was dann passiert ist, war echt ein merkwürdiges Gefühl.
Autorin: Wenn jetzt jemand versuchen würde auf meine Hand zu schlagen, würde ich sie automatisch zurückziehen. Ich beschütze sie, weil sie zu mir gehört.
Autorin: Nach einer Weile hatte ich tatsächlich das Gefühl die Gummihand wäre meine Hand. Ich spürte ganz deutlich das Streicheln des Pinsels auf der Gummihand, als wär’ es meine eigene.
Sprecher: Dieses neurowissenschaftliche Experiment heißt Gummi-Hand Illusion. Und das was dabei passiert, ist dass das Körperschema ausgetrickst wird. Körperschema, meint nicht das fotografische Abbild des Körpers, es entsteht nicht, indem man in den Spiegel schaut, sondern es ist die Vorstellung, die man von seinem Körper hat. Also auch was wir intuitiv als zu ihm zugehörig empfinden.
Autorin: Mir war total klar, dass meine richtige, meine eigene Hand hinter der Wand liegt.
Erich Kasten: "Wir haben in unserem Gehirn ein Abbild dessen, wie wir aussehen, was einfach repräsentiert, wie unsere Arme, Beine, Kopf, Nase, unser Gesicht aussehen."
Autorin: In dem Moment, als der Versuchsleiter dann plötzlich auf die Gummihand geschlagen hat, hab ich die Hand hinter der Wand bewegt. Ich hab die Bedrohung des Schlages gefühlt als sei meine Hand betroffen.
Erich Kasten: "Deswegen erkennen wir uns ja auch wieder ohne Schwierigkeiten wenn wir uns auf Bildern sehen oder im Spiegel.Dieses Körperschema kann halt auch durcheinander kommen."
Autorin: Das ist Erich Kasten, er lehrt Neuropsychologie an der Medical School in Hamburg.
Autorin: Ich hab die Gummihand gefühlt und sie mir für die Dauer dieser Empfindung quasi einverleibt. Ziemlich verwirrend das Ganze.
Autorin: Und genau das ist der Punkt:
Autorin: Unser Körperschema ist keine festliegende Entität sondern ist durchaus verwandelbar durch äußere Erfahrung.
Unser Körperschema ist fragil und dehnbar
Sprecher: Das Körperschema entsteht im Gehirn und wird, so formuliert es der Neurologe Vilayanur Ramachandran, in unseren Körper hineinprojiziert. Im Normalfall stimmt es demnach genau mit unserem Körper überein so dass man nicht zwischen ihm und der Darstellung in unserem Gehirn unterscheiden kann. Das Gummi Hand Experiment zeigt aber deutlich, wie fragil und dehnbar unser Körperschema sein kann. Was alles auf unsere Vorstellung von uns, auf das mentale Abbild unseres Körpers im Gehirn einwirken kann und in welcher Weise, ist jedoch noch ziemlich unklar.
Autorin: Die springende Frage ist, wie entwickelt mein Gehirn ein Abbild meines eigenen Körpers und was kann dabei alles schief gehen.
Autorin: Denn dass dabei so einiges schief gehen kann, dafür gibt es gar nicht so wenige Beispiele.
Sprecher: Was passiert, wenn das Körperschema durcheinander kommt, ist oft nicht so einfach zu beschreiben und zu erfassen, und äußert sich unter Umständen für die Betroffenen hauptsächlich in einem deutlichen aber genauso schwammigen wie unangenehmen Gefühl von:
Sprecher und Autorin: Irgendwas stimmt hier nicht, stimmt mit mir nicht!
Herr P.: "Am Anfang war es für mich einfach – da war eine große Angst da. Was ist mit dir los? – Äh wie soll ich das sagen, es war für mich unheimlich, das Ganze."
Frau S.: "Das war Anfang der Pubertät so mit 12, 13, da hab ich immer mehr Selbstzweifel bekommen, wurde immer unsicherer und – schon als Kind hab ich gemerkt, irgendwas stimmt von innen her nicht und zwar hab ich gemerkt, irgendwas ist mit den Beinen.
Ich hab dann eben in Spiegel geschaut und wollte mir die Nase brechen damit man sie richten muss und sie schöner machen kann.
Das war der Beginn eines ganz großen Geheimnisses – über Jahrzehnte hinüber."
Autorin: Das sind: Herr P. und Frau S. Beide haben, sozusagen am eigenen Leib zu spüren bekommen was es heißt wenn das Körperschema gestört ist.
Autorin: Hallo?
Frau S: "Ja."
Autorin: Ich muss mich mal noch ein bisschen auspegeln. Ich höre jetzt bei mir noch so ein komisches Gefiepse, hören Sie das auch wenn Sie sprechen?
Autorin: Frau S. möchte gern anonym bleiben, deshalb haben wir uns nicht getroffen sondern unser Gespräch per Skype geführt und mitgeschnitten.
Frau S: "Nee, ich höre nichts, bei mir ist alles ganz klar."
Autorin: Sie ist Anfang 20 und seit über vier Jahren wegen körperdysmorpher Störung in Behandlung.
"Es ist mittlerweile hauptsächlich mein Gesicht, was ich einfach nur furchtbar finde – Es gibt insgesamt nichts an meinem Körper, was ich mag, das Einzige was ich akzeptabel finde sind meine Wimpern, aber auch nur wenn sie geschminkt sind, ansonsten hab ich es vor allem oft mit meiner Nase oder meiner Gesichtsform, weil ich die abnormal finde."
Sprecher: Das Phänomen wird auch Dysmorphophobie genannt und wurde bereits 1886 das erste Mal durch den italienischen Neurologen Enrico Morselli beschrieben. In größerem Umfang erforscht wird es allerdings erst seit circa 20 Jahren und in der Öffentlichkeit ist es immer noch relativ unbekannt. Der Begriff kommt aus dem griechischen und bedeutet soviel wie: "die Angst davor schlecht gestaltet zu sein".
Autorin: Also in schwacher Form kennt das jeder, irgendwas gefällt einem nicht am eigenen Körper und man macht so Versuche, es zu vertuschen oder verstecken. Diese Art Körperunzufriedenheit ist ein Kernmerkmal der körperdysmorphen Störung
Alexandra Martin: "… aber da muss man eben weiter explorieren, dass es nicht nur eine Körperunzufriedenheit ist, sag ich mal …"
Fehler in der Verschaltung zwischen Körper und subjektiver Körpervorstellung
Das ist Alexandra Martin, sie lehrt an der Uni Wuppertal klinische Psychologie und Psychotherapie.
"… sondern die Betroffenen beschäftigen sich sehr intensiv mit einem oder mehreren subjektiven Mängeln in ihrer äußeren Erscheinung – subjektive Mängel bedeutet, dass für Außenstehende keine besonderen Auffälligkeiten feststellbar sind, es sogar so sein kann, dass das vielleicht bildhübsche Menschen sind oder hochattraktive Menschen."
Autorin: Und hier liegt sozusagen der Fehler in der Verschaltung zwischen Körper und subjektiver Körpervorstellung:
Sprecher: Das innerliche Bild, das wir von uns haben und auch zu sehen meinen, wenn wir in den Spiegel schauen, entspricht überhaupt nicht dem, was die anderen sehen.
Autorin: Ab wann wird aber diese Diskrepanz zwischen innerer Vorstellung und Außenwelt zu einer psychischen Störung?
"Das ist sicherlich ne fließende Grenze, das ist immer bei eigentlich allen psychischen Störungen ne Herausforderung, dass man jetzt nicht so einen eindeutigen festen Punkt hat, wo man sagt, ja, ab da ist das was hier vorliegt äh so auffällig.Es wird schon zum Krankheitsbild, dann wenn diese Beschäftigung mit dem äußeren Erscheinungsbild und die damit verbundenen Handlungen so stark ausgeprägt sind, dass Alltagsfunktionen anfangen zu leiden."
Autorin: Entscheidend ist der Leidensdruck den die Betroffenen empfinden. Sie geraten häufig in eine Spirale aus zwanghaften Gedanken und Handlungen. Frau S. beschreibt das so:
Frau S:"Ich bin aufgestanden, hab in den Spiegel geschaut dann war mein erster Gedanke, einfach diesen Spiegel kaputt zu schlagen oder mir ins Gesicht zu schlagen."
Autorin: Spiegel haben eine besondere Rolle in ihrem Alltag …
Frau S:"Das ist so ne richtige Hass-Liebe. Auf der einen Seite hab ich immer das Bedürfnis mich zu kontrollieren und, dass das wie ich ausseh’ nicht durch irgendwas noch schlimmer geworden ist. Und gleichzeitig wenn man dann reinschaut bekommt man sofort diese Wut..."
Autorin: Sie verbringt Stunden vor dem Spiegel um die vorteilhafteste Frisur herzustellen -
Frau S:"… bis sie in meinen Augen wirklich perfekt war."
Autorin: Und immer wieder der kontrollierende Blick in den Spiegel.
Frau S:"Mir darf auch niemand in die Haare fassen, wenn ich ne Frisur hab, weil ich dann Angst hab, das was zerstrubbelt wird und die Frisur kaputt geht."
Autorin: Normale Hautreinigung reicht ihr nicht, sie reibt sich Desinfektionsmittel ins Gesicht -
Frau S: "... um reinere Haut zu bekommen und ich hab das gemacht seit ich 14 bin und hab gedacht das machen alle anderen Menschen auch."
Autorin: Oft verpasst sie Termine oder kommt zu spät, weil sie sich morgens mehrfach umziehen muss. Im Kopf ständig die quälende Frage:
Frau S: "… in was seh’ ich noch am besten aus, was kaschiert noch am besten meine Figur."
Autorin: Zehn- bis zwanzigmal umziehen ist die Normalität,
Frau S: "Dass ich dann erst nach fünf mal noch mal ins Haus rein rennen erst losgehen konnte, in die Schule."
Autorin : und immer wieder der kontrollierende Blick in den Spiegel –
Frau S: "Allein schon Straßenbahn fahren ist ne Herausforderung gewesen – ist es immer noch. Oder fremde Leute ansprechen ... Es war einfach so, es wurde immer schlimmer, ich bin nicht mehr aus dem Haus gegangen."
"Bei den Personen die solche Körperbildsorgen haben im Rahmen der körperdysmorphen Störung, die nehmen gar nicht ihr ganzes Gesicht wahr, sondern sehen nur Nase, nur Haut, nur die dünnen Haare nur die Brüchigkeit, nur ganz kleine Stellen nicht mehr das ganze Bild."
Körperdysmorphe Störung können zu Suizidgedanken führen
Autorin: Der dauerhafte Fokus auf ein Detail der eigenen Erscheinung, das ständige zwanghafte Beschäftigen mit dem eigenen Aussehen lässt alles andere zum Stillstand kommen.
Frau S: "Ich wollte so nicht mehr leben. Ich konnte mich nicht mehr ertragen, dieses in den Spiegel schauen und das einfach nur abstoßend und eklig zu finden und sich selber nicht zu ertragen, das Gefühl ist einfach – ich weiß gar nicht wie ich das beschreiben soll, aber es ist unglaublich schmerzhaft, wenn man sich selber einfach nur hasst."
Autorin: Die ganze Tragweite ihrer Situation wurde ihr dann erst richtig klar, nachdem sie das erste Mal stationär in einer Klinik behandelt wurde.
Frau S: "Weil ich davor bei vielen Sachen einfach gedacht hab das ist normal."
Autorin: In der Klinik sollte sie beispielsweise zählen wie oft sie am Tag in den Spiegel schaut …
Frau S: "… oder in spiegelnde Oberflächen."
Autorin: Menschen ohne körperdysmorphe Störung nehmen sich eher global und ganzheitlich war und schauen so im Schnitt 10 bis 20 Mal am Tag in den Spiegel.
Frau S: "Und bei mir war das Höchste 190 Mal – und im Schnitt waren es 130."
Sprecher: Es ist aber bei weitem nicht nur das Zwangsverhalten, unter dem die Betroffenen leiden. Oftmals schämen sie sich sehr für ihre Gedanken und Gefühle, haben Angst davor als eitel abgestempelt zu werden, und sprechen deshalb nicht über ihre Empfindungen. Ihre Entstellung ist für sie ja eine objektiv sichtbare Tatsache.
"Die anderen nehmen das anders wahr und ich kann das nicht glauben, denn ich bin ja überzeugt von meiner Wahrnehmung und das führt zu einer Entfremdung und inneren Vereinsamung, da ich mich nicht verstanden fühle, da die anderen offensichtlich nicht das sehen, was ich sehe."
Autorin: Die einzige Lösung scheint dann häufig in einer plastisch-chirurgischen Korrektur zu liegen.
"Weil die Überzeugung besteht ja der Makel müsste sich verändern und dann wäre alles wieder gut. Und dieser Weg führt aber nicht zur Veränderung. Dann ist ein bestimmter Makel verändert und verringert aber dann ist die grundsätzliche Störung noch nicht aufgelöst."
Sprecher: Das generelle Gefühl hässlich oder missgestaltet zu sein, verlagert sich nach einer Schönheits-Operation oft einfach auf ein anderes Detail des Körpers. Betroffene erleben ihre subjektive Entstellung als gegeben und nicht als Teil einer Symptomatik. Das Bild, das der Spiegel ihnen zeigt, wird logischerweise als real erlebt.
Autorin: Das Körperschema ist ja – gestört, sie können nur das sehen was sie auch fühlen. Sie müssten also lernen ihrem eigenen Blick auf sich zu misstrauen? Lernen den Spiegel anzuzweifeln, und sich auf den Blick der anderen zu verlassen? Klingt ziemlich schwierig.
Die Ursachen, warum und wann sich eine körperdysmorphe Störung ausbildet sind bisher unklar. Ich stelle diese Frage auch dem Psychosomatiker und Psychoanalytiker Goetz Broszeit:
Dr. Goetz Broszeit: "Da muss ich ihnen leider die langweilige Antwort geben die alle Forscher heute geben: Es gibt genetische, epigenetische und Umweltfaktoren."
Autorin: Goetz Broszeit leitet im Asklepios Westklinikum in Hamburg die Abteilung für Psychosomatische Medizin.
"Als Psychoanalytiker könnte man aus der Ecke kommen, dass man sagt, ja es gibt Hinweise auf Kindheitstraumata, auf schwere Störung der frühen Kind-Umwelt-Interaktion, wo zum Beispiel die ständige Spieglung von Ablehnung Ekel oder anderen Dingen dazu führt, dass der Körper nicht angenommen werden kann. Das ist ein Erklärungsmodell, das zu beweisen wäre im Einzelfall. Das andere sind Lernmodelle, das geht auch noch in Richtung Umwelt …"
Autorin: Ein Lernmodell wäre beispielsweise so etwas wie, wenn jemanden immer wieder eingebläut wird, wie wichtig es sei perfekt auszusehen und das man nur mit einem makellosen Erscheinungsbild auch erfolgreich und glücklich im Leben wird oder ähnliches.
"… und andere sind genetisch obwohl es meines Wissens da noch keine Erkenntnisse gibt, aber man kann natürlich unterstellen, dass es vielleicht ein biologisches Phänomen ist."
Sprecher: Neurowissenschaftler versuchen unterdessen mit Hilfe bildgebender Verfahren wie zum Beispiel der Magnetresonanztomographie Erkenntnisse zu den Ursachen zu erhalten. An der University of California, in Los Angeles wurde beispielsweise in verschiedenen Studien nachgewiesen, dass Personen mit körperdysmorpher Störung im Vergleich zu gesunden Testpersonen visuelle und räumliche Eindrücke im Gehirn anders verarbeiten.
Ziel: aus Kreislauf von Zwangsgedanken und -handlungen herauskommen
Autorin: Aber ob diese andersartige Aktivität im Gehirn jetzt ihre Ursache in der körperdysmorphen Störung hat oder durch diese ausgelöst wurde, ist ungewiss. Für die Betroffenen wie Frau S. ist es zunächst am wichtigsten, aus dem Kreislauf von Zwangsgedanken und -handlungen herauszukommen und ihr Leben wieder aufzunehmen.
Frau S.: "Es nicht so, dass ich von den Gedanken über mich, dass sich das viel geändert hat. Ich denk immer noch wenn ich in den Spiegel schau, ich bin hässlich. Und ich hab immer noch Ängste rauszugehen, aber ich geh anders damit um. Ich glaube, dass ich noch nicht übern Berg bin, aber dass ich auf dem besten Weg bin."
Autorin: Der Leidensdruck, der bei einer körperdysmorphen Störung entsteht, lässt sich also über Psychotherapie und teilweise auch Psychopharmaka deutlich mindern.
Bei einer anderen Körperschemastörung ist Hilfe für die Betroffenen ziemlich schwierig zu finden:
"Body Integrity Identity Disorder ist eine der mysteriösesten Störungen die mir im Lauf meines Forscherlebens untergekommen sind."
Autorin: Das ist wieder der Neuropsychologe Erich Kasten.
" Da gibt es Menschen, die das Gefühl haben, dass ein Körperteil nicht zu ihnen gehört."
Herr P.: "Uns wird ja der Vorwurf gemacht: Warum willst du ein gesundes Glied abschneiden, aber ist es denn wirklich so gesund, es stimmt ja etwas in dem Ganzen nicht."
Autorin: Herr P. leidet unter diesem seltenen Phänomen: Body Integrity Identity Disorder.
"Ich hab schon als Kind gespürt, irgendwas stimmt mit meinen Beinen nicht."
"Die Betroffenen können das Körperteil benutzen, sie können es bewegen, wenn es ein Bein ist, sie gehen damit laufen joggen usw."
"Ich hab gemerkt, ich bin dann entspannt, wenn diese Beine, wenn das Gefühl in den Beinen verändert ist. Die Beine selber für mich waren irritierend gewesen."
"Und trotzdem haben sie das Gefühl, dieses Körperteil gehört nicht zu ihnen, es fühlt sich so fremd an, dass viele von ihnen eine Amputation des Körperteils anstreben."
Sprecher: Body Integrity Identity Disorder kurz BIID, auf Deutsch Körper-Integritäts-Identitäts-Störung, hierbei haben die Betroffenen das Empfinden, dass bestimmte Körperteile, meist die Beine oder der gesamte Unterkörper, aber manchmal auch Körperfunktionen wie das Hören oder Sehen nicht zur eigenen Person gehören. Die Deckungsungleichheit zwischen Körperschema, Körperbild und dem realen Körper löst großen Leidensdruck aus, und führt dazu, dass ein Wunsch nach Amputation, Lähmung oder "Ausschalten" der "fremden" Extremität oder Körperfunktion entsteht.
Erich Kasten"Also BIID ist jetzt inzwischen seit etwas mehr als zehn Jahren in den Fokus gerückt und wir haben das Gefühl, wir wissen mehr als vor zehn Jahren, aber wir wissen noch lange nicht, wie es zu erklären ist, die Ursachen sind völlig im Dunkeln. Wir tasten uns langsam mühsam voran."
Sprecher: Wie viele Menschen von BIID betroffen sind, ist unklar. Einer Schätzung des Neuropsychologen Erich Kastens zufolge, dürften es im deutschsprachigen Raum kaum mehr als 200 sein. Anders als bei Dysmorphophobie, wo Frauen wie Männer gleichermaßen betroffen sind, leiden sehr viel mehr Männer unter Body Integrity Identity Disorder als Frauen. Was der Grund dafür ist, ist jedoch unerforscht.
Autorin: Jahrzehntelang lebte Herr P. mit dem unveränderlichen Gefühl, dass etwas ganz grundsätzlich mit seinem Körper nicht stimmt. Er ist bereits Anfang 50, als er das erste Mal über die Bezeichnung Body Integrity Identity Disorder stolpert. In einem Internetforum ist er auf die Beschreibung eines anderen Betroffenen gestoßen.
"Da bin ich in Tränen ausgebrochen, weil ich gesagt hab: Endlich das Kind hat einen Namen."
Autorin: Das war 2009. Bis dahin, hätte er, wenn er sich getraut hätte, darüber zu sprechen, einfach nur sagen können: Meine Beine gehören nicht zu mir.
"Das Leiden besteht darin, dass diese Inkongruenz vorhanden ist. Wenn jemand kongruent spürt, hat er kein Problem."
"Das Innere und das Äußere haben nicht übereingestimmt"
Autorin: Wie dauerhafte Eindringlinge empfindet er seine Beine. Sie funktionieren normal, er kann sie bewegen, er fühlt Kälte, Wärme, Druck. Aber solange er sie spürt, hat er das Gefühl, nicht er selbst sein zu können. Dieses Gefühl von Nichtzugehörigkeit wirkt sich auf seinen gesamten Körper aus, auf sein gesamtes Sein – auf seine Identität.
"Ich konnte zwar laufen mit den Beinen, es war ein Körpergefühl da, aber es war immer irritierend gewesen. Diese Sehnsucht der Körperidentität, das kann ich jetzt heute sagen, dass das der Wunsch gewesen ist. Das Innere und das Äußere haben nicht übereingestimmt."
Sprecher: Eine Übereinstimmung von innerer und äußerer Wahrnehmung des eigenen Körpers ist für die meisten Menschen Normalität.
Autorin: Also, ich stehe morgens auf, ich schwinge ein Bein aus dem Bett. Mein Bein, klar. Das ist mein Fuß, es ist kalt, ich ziehe Socken über, dann Schuhe.
"Das ist aber eine aktive Leistung unseres Gehirns."
Autorin: Ich laufe in die Küche, setze mich, schlage die Beine übereinander, greife nach der heißen Kaffeetasse.
"Dass heißt unser Gehirn muss ja irgendwo die Außengrenzen unseres Körpers ständig berechnen, es muss entscheiden was gehört zu meinem Körper, was gehört nicht zu meinem Körper."
Autorin: Eigentlich läuft das jeden Morgen ähnlich ab. Ich denke nicht darüber nach. Für mich ist intuitiv klar, was zu mir gehört und wo die Grenzen meines Körpers sind.
"Das ist keine automatische Geschichte, sondern da können einfach Rechenfehler im Gehirn entstehen und dann wird ein Körperteil, der an ihnen dran hängt nicht mehr als zu ihnen selbst gehörig empfunden."
Autorin: Diese sogenannten Rechenfehler bestimmen das gesamte Leben von Herrn P. Was genau den Fehler verursacht, ist bisher völlig unklar.
"Wir können mit Sicherheit nicht sagen, dass es eine Gehirnschädigung ist, weil den Ort der Läsion hat man nie gefunden. Wir sind ja weiter am Rätseln, was es genau ist. Also die Leute haben keine großflächige Hirnschädigung, sie haben keine Schlaganfälle erlitten, sie haben keinen Hirntumor oder kein Trauma. Von daher –man ist im Augenblick auf Hypothesen angewiesen."
Sprecher: Es gibt Theorien die BIID als neuronale Dysfunktion also neurologische Störung deklarieren, und es gibt Hinweise das BIID eher als psychische Störung zu verstehen sei. Klar voneinander trennen lässt sich das letztlich nicht.
"So gesehen hat jede psychische Störung ihre neuronale Grundlage oder umgekehrt. Also wir können Psyche und Neurologie und die Hirnanatomie nicht wirklich von einander abgrenzen, das Eine interagiert mit dem Anderen, und wenn sie jetzt sagen das eine ist ne psychische Störung das andere ne neurologische, würde ich immer sagen, nee kann man so nicht sagen ist beides!"
Autorin: Herr P. hat für sich eine Art gefunden mit dem Rechenfehler zu leben. Seit ein paar Jahren trägt er dauerhaft speziell für ihn angefertigte Orthesen.
Sprecher: Orthesen sind medizinische Hilfsmittel in Form von Bandagen oder Schienen, die als Stützapparat außen am Körper getragen werden. Sie dienen eigentlich zur Entlastung Stabilisierung oder Korrektur von Gliedmaßen oder des Rumpfes.
Autorin: Herrn P. dienen sie hauptsächlich zurRuhigstellung. Sie sind ein Hilfsmittel um das Fremdgefühl loszuwerden und in gewisser Weise sind sie seine Rettung.
"Dieser Drang ein Glied entfernen zu lassen ist aufgehoben durch diese Orthesen. Und durch die Orthesen ist das ganze Gefühl in den Beinen weg. Ich hab im Grunde genommen das Gefühl – ich könnte ihnen jetzt gar nicht sagen unterm Tisch wo die Beine genau stehen, die Füße genau stehen. Weil für mich, der Körper ab den Beinen wie ein Fleischklumpen ist. Das ist das Gefühl."
Im Rollstuhl glücklicher als ohne
Autorin: Heute sitzt Herr P. im Rollstuhl. Er ist berufstätig, lebt alleine und vom Terrassenfenster seiner Wohnung aus kann er einem seiner Hobbys nachgehen –Züge beobachten.
Die Muskeln und das Gewebe seiner Beine haben sich durch das Verwenden der Orthesen so stark abgebaut, dass seine Beine ihn nicht mehr alleine tragen würden.
"Ich kann so nicht mehr laufen. Aber das macht mir gar nix aus. Ich versuche selbstständig zu leben, soweit wie möglich, äh ich leide unter der Situation nicht – ich hab früher mehr gelitten darunter. Es ist für mich jetzt, obwohl es komplizierter geworden ist, einfacher geworden im Leben."
Autorin: Jahrelang trägt Herr P. die Orthesen nur heimlich. Er fährt an entfernte Orte, wo ihn niemand erkennen kann und zieht sie an. Viele BIID Betroffene machen das, pretenden nennen sie es. Vorgeben etwas zu sein, was man nicht ist. Das fremdfühlige Bein so hochbinden und mit Krücken herumlaufen als hätte man eine Amputierung...
"Äh. das war der Beginn eines Doppellebens. Das war das große Geheimnis, dass es bloß niemand erfährt."
Autorin: Irgendwann quält ihn sein Doppelleben so sehr, dass er einen Entschluss fasst:
"Als das dann feststand, dass ich BIID hab, hab ich gesagt, ich brauch jetzt ne Befreiung. Ich hab immer mehr suizidale Gedanken, ich muss jetzt im Grund genommen hier mich outen, egal was jetzt ist, und wenn ich am Ende von irgendwelcher Sozialhilfe lebe. Ich möchte mir nicht selber das Leben nehmen, dazu hänge ich viel zu sehr daran, aber ich bin viel zu sehr in der Sackgasse, dass ich so noch leben könnte."
Heute wissen alle in seinem Umfeld Bescheid, Familie, Freunde, Arbeitgeber.
Herr P: "Damit war ein ganz wichtiger Schritt für mich erreicht."
Sprecher: Eine der Hypothesen, die die Neurologen entwickelt haben um BIID zu verstehen, bezieht sich auf das Konzept von Körperlandkarten im Gehirn. Hier vermutet man eine Fehlabbildung, eine Fehlkartierung, die dazu führt, dass das Idealbild eines viergliedrigen Körpers, das als genetische Basis in unseren Körpern abgespeichert ist, bei den Betroffenen so nicht existiert. Das würde dazu führen, dass das entsprechende Körperteil mangelhaft in die Gesamtrepräsentation des Körpers eingebunden ist und dann als störend und fremd empfunden wird.
"Es gibt verschiedenen Theorien, die Amerikaner um die Arbeitsgruppe Ramachandran gehen davon aus, dass es eine parietale Läsion ist. Es gibt hier ein spezielles Areal was sich Gyrus angularis nennt, der Gyrus angularis ist der Haupthirnteil der das innere Abbild unseres Körpers kreiert. Wenn der Gyrus angularis in irgendeiner Form eine Läsion hat, dann bricht das Abbild unseres Körpers zusammen."
Autorin: Wie es allerdings zu dieser Läsion bei BIID Betroffenen gekommen sein soll, ist unklar.
"Also da weiß man schon sehr genau, welcher Hirnteil hier ein inneres Abbild unseres Körpers erschafft und geht davon aus, das hier in irgendeiner Form der Gyrus angularis da, ja, irgendwie einen Fehler macht. Dass da eine Schädigung vorliegt, eine genetisch bedingte Veränderung und das dadurch ein Körperabbild entwickelt wird im eigenen Schädel, was eben dem viergliedrigen Körper nicht entspricht sondern ein Körperteil fehlt in diesem Abbild."
Autorin: Die Frage ob diese Läsion die Ursache für die Störung oder eher die Folge des langjährigen Konfliktes zwischen Körper und Selbst der Betroffenen ist, bleibt unbeantwortet. Defekte im Gehirn, die sich mit Hilfe von bildgebenden Verfahren hätten nachweisen lassen, konnte man bisher jedenfalls nicht finden.
Da strandet man wieder bei der Tatsache die Erich Kasten am Anfang erwähnte:
"Unser Körperschema ist keine festliegende Entität sondern ist durchaus verwandelbar durch äußere Erfahrung."
Erfahrungen in früher Kindheit könnten prägend sein
Autorin: Unser Körperschema wird eben auch durch Lernerfahrungen geprägt. Und das von Anfang an: wir strampeln mit den Beinen, wir nuckeln an der Faust, wir versuchen uns zu drehen... All’ diese Wahrnehmungen, die wir als Babys machen, vermitteln uns eine Idee unseres Körpers und tragen zu einer stabilen Identitätsentwicklung bei.
Der Psychosomatiker Goetz Broszeit dazu:
"Und ganz wichtig dabei ist, dass diese Vorstellungen vom Körper in der Spiegelung mit der Umwelt entstehen. Mit den Menschen, der Mutter, dem Vater und anderen Personen und diese Rückmeldung prägt ganz erheblich das Empfinden vom eigenen Körper."
Autorin: Eine Schlussfolgerung ist also, dass wenn es in dieser frühen Phase Schwierigkeiten gibt, später wahrscheinlich auch Störungen auftreten können.
"Das Problem ist nur, dass wenn Sie mit einem Menschen sprechen, der zum Beispiel eine sogenannte Körperidentitätsstörung hat, der kann ihnen nichts über die ersten zwei Lebensjahre sagen, weil das autobiografische Gedächtnis da noch zu wenig etabliert ist. Es liegen meist zu wenig Informationen vor, um darüber mehr sagen zu können."
Autorin: Die BIID Betroffenen berichten ziemlich einheitlich von einem einschneidenden Initialerlebnis, das oft in der frühen Kindheit stattgefunden hat.
Herr P:"Da war ich sechs Jahre alt.Das war eine Geschäftsfrau auf der anderen Straßenseite, die jeden Morgen ihre Laden aufgeschlossen hat und die eine Beinschiene wegen Kinderlähmung trug. Und irgendwo hab ich diese Frau – hab mir gesagt, wie geht es der? Was mag da sein? Hab aber selber gemerkt, die hat etwas, was irgendwie in meinem Leben ne Rolle spielt. Aber mehr konnte ich auch nicht sagen."
Autorin: Von seinem Kinderzimmer aus beobachtet er diese Frau immer wieder. Er beginnt sich selbst Beinschienen zu basteln, anfangs aus Notenständern. Irgendwie fühlt sich das richtig an und gleichzeitig sehr unheimlich.
Herr P: "Hab mich aber gar nicht getraut irgendwas zu fragen. Das war der Beginn einen ganz großen Geheimnisses über Jahrzehnte hinüber."
Sprecher: Ein funktionierendes Therapieangebot gibt es für BIID Betroffene bisher nicht. Psychotherapie kann helfen, ein wenig besser mit dem Wunsch nach Körperveränderung umzugehen, mehr aber auch nicht. Viele versuchen deshalb, auf zum Teil lebensgefährliche Weise, doch noch zu einer Übereinstimmung von äußerem und innerem Körperbild zu gelangen.
"Also was die alle anstreben, ist die Amputation. Nachdem ich eigentlich jahrelang auch ja sehr vorsichtig war, sehe ich aber inzwischen – wir haben eine Studie gemacht an 20 Personen, die es geschafft haben amputiert zu werden. Die ihren Idealzustand erreicht haben und die waren alle glücklich. Da war keiner der gesagt hat, ich bereue es. Ganz im Gegenteil einige haben gesagt, der einzige Fehler den ich gemacht habe, war es so spät zu machen. Und sie waren zufrieden mit ihrem behinderten Zustand und von daher unterstütze ich inzwischen diesen Weg."
Autorin: Ob eine Amputation als Therapiemaßnahme ethisch vertretbar sei, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Die Tatsache, dass man es mit einer ziemlich kleinen Gruppe von BIID Betroffenen zu tun hat, macht auch die Einschätzung der durchgeführten Studien schwierig. Denn mehr als circa 50 Probanden hatte man bisher für keine finden können. Letztlich bleibt die Frage:
"Wie entwickelt mein Gehirn ein Abbild meines eigenen Körpers und was kann dabei alles schief gehen."
Autorin: Können Sie zusammenfassen, was Sie aus der Gruppe von Betroffenen darüber gelernt haben, wie das Gehirn das Abbild unseres Körpers konstruiert?
E. Kasten: "Nee, kann ich nicht."
Autorin: Ist das zu komplex, oder?
E. Kasten:" Ja, das kann ich nicht in drei Sätze fassen. Wir tappen noch zu sehr im Dunkeln. Die Frage können sie in zehn Jahren noch mal stellen."