Gespinst von Träumen und Albträumen

22.08.2011
Andrzej Barts Roman "Die Fliegenfängerfabrik" ist eine aktuelle polnische Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Sie wurde von der Kritik begeistert aufgenommen und liegt jetzt auf Deutsch vor.
Ihre Aufgabe machte die von den Nazis eingesetzten Ältestenräte in den jüdischen Ghettos des besetzten Polen zu tragischen Helden. Sie wollten die Lebensverhältnisse der Eingesperrten so erträglich wie möglich gestalten, ihren Tod verhindern oder hinausschieben, sie mussten sich aber dem Befehl der deutschen Besatzer fügen. Chaim Rumkowski, der Vorsitzende des Judenrats im Ghetto von Lodz, ist so ein tragischer Held und eine schillernde Figur, um die bis heute gestritten wird. Einem Gerücht zufolge sei Rumkowski nach der Liquidierung des Ghettos 1944 im Salonwagen nach Auschwitz gekommen und dort für seine Taten von anderen Juden im Krematorium lebendig verbrannt worden. Dieses Gerücht hat den 1951 geborenen polnischen Dokumentarfilmer und Schriftsteller Andrzej Bart zu dem Roman "Die Fliegefängerfabrik" inspiriert, der jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt.

Bart inszeniert einen Prozess, eine Art Jüngstes Gericht auf einer Bühne der Stadt Lodz. Hier treten der Warschauer Kinderarzt Janusz Korczak und die in die USA emigrierte Philosophin Hannah Arendt als Zeugen auf. Auch Hans Biebow, Unternehmer aus Bremen und gnadenloser Leiter der Lodzer Ghettoverwaltung gibt Einsichten zu Protokoll. Auf der Anklagebank sitzt Chaim Rumkowski. Bart formt seine Hauptfigur im Einklang mit den Erkenntnissen der Historiker. Rumkowski, Jahrgang 1877, zwischen den Weltkriegen ein mäßig erfolgreicher Textilunternehmer, Versicherungsagent und Leiter eines jüdischen Waisenhauses in Lodz, herrschte im Ghetto wie ein Diktator.

Der Judenälteste begegnete Protesten seiner Untertanen mit Strafaktionen. Er unterschrieb eigenhändig Geldscheine, gab Briefmarken mit seinem Bild heraus, und er bestimmte mit, wer in die Vernichtungslager deportiert wurde. Auf der anderen Seite richtete Rumkowski Schulen und Krankenhäuser ein und gründete Unternehmen wie die "Fliegenfängerfabrik", in denen er Gegenstände für die deutsche Kriegsführung herstellen ließ. Dies erleichterte vielen Juden das Überleben und erzeugte den Anschein von Normalität. Das Lodzer Ghetto wurde im August 1944 liquidiert, später als alle anderen Ghettos auf polnischem Boden. Wäre die Rote Armee nur wenige Monate früher gekommen, hätten viele Menschen überlebt. Dann stünde Rumkowski heute womöglich als mutiger Retter da.

Der Erzähler lotet die Widersprüche seines Protagonisten gründlich aus. Er beleuchtet dessen Persönlichkeit aus vielen Blickwinkeln. Zugleich verwebt dieser Erzähler, ein an sich selbst zweifelnder Schriftsteller unserer Tage, die Geschichte von Rumkowski und dem Ghetto mit einem Gespinst von Träumen und Albträumen vor der Industriestadt Lodz als nahezu zeitloser Kulisse. "Die Fliegenfängerfabrik" ist ein opulent erzähltes Sprachkunstwerk. In der kongenialen Übersetzung von Albrecht Lempp vermittelt sie den Schauder des Holocaust, ohne den Leser mit einer Moral zu überwältigen.

Besprochen von Martin Sander

Andrzej Bart: Die Fliegenfängerfabrik
Aus dem Polnischen von Albrecht Lempp
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2011
264 Seiten, 19,95 Euro
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