Gespenster der Vergangenheit

Von Wolfgang-Martin Hamdorf · 25.10.2010
Regisseur Juan José Campanella leistet mit "El secreto de sus ojos" gefühlsbetonte und auf individuellen Schicksalen aufbauende Vergangenheitsbewältigung. Das spannende, argentinische Politdrama wurde zu Jahresbeginn mit dem Oscar ausgezeichnet.
Anfang des Jahres gewann der argentinische Film "El secreto de sus ojos" (Das Geheimnis ihrer Augen) überraschend den Oscar für den besten nicht englischsprachige Film. Jetzt startet er unter dem deutschen Titel "In ihren Augen" in den deutschen Kinos. Der Film führt zurück in das Jahr 1974, zwei Jahre vor dem Putsch des Militärs und erzählt von einem brutalen Mord und einer Vergewaltigung und wie die Ermittlungen von oberster Stelle behindert werden. Nach 25 Jahren beginnt der mittlerweile pensionierte Ermittlungsbeamte eine Reise in die Vergangenheit.

Ausgerechnet während des Endspiels der beiden wichtigsten argentinischen Fußballklubs jagen die Fahnder im überfüllten Stadion einen brutalen Mörder und Vergewaltiger, fast unbemerkt von den tobenden Fans. Die mehr als fünf Minuten lange Szene beginnt mit einem Hubschrauberflug ins Stadion hinein, geht über die Verfolgung auf den Zuschauertribünen ins Innere des Gebäudes, um dann auf dem Fußballrasen zu enden. Dabei wirkt die ganze Szene wie eine Plansequenz, ohne einen einzigen sichtbaren Schnitt, in drei Tagen gedreht, dauerte die Postproduktion der Szene neun Monate, erzählt Regisseur Juan José Campanella:

"Wir haben die Sequenz so gestaltet, damit sich der Zuschauer mittendrin fühlt, sozusagen mit den Protagonisten durch die Szene hetzt, die Kamera verwandelt sich in die Augen."

Der 51-jährige argentinische Erfolgsregisseur war bisher besonders durch sensible Komödien bekannt geworden, mit starken gefühlsbetonten Elementen, sein größter Erfolg, "El hijo de la novia", der Sohn der Braut lief 2002 auch in deutschen Kinos. Sein sechster Film "El secreto de sus ojos" führt zurück ins Jahr 1974, als sich die argentinische Demokratie langsam auflöste, kurz bevor der Militärputsch die dunkelsten Jahre am Rio de la Plata einleitete.

"Der 21. Juni 1974 war der letzte Tag an dem Ricardo Morales mit Liana Colotto frühstückte. Den Rest seines Lebens würde er sich an jedes Detail erinnern. Er sollte sich für immer an die frische Johannisbeermarmelade erinnern, die er nie wieder essen würde, an das Blütenmuster auf ihrem Nachthemd und vor allem an ihr Lächeln. Ihr Lächeln am frühen Morgen, dass mit einem Sonnenschein verschmolz, das auf ihre linke Wange fiel"

Der pensionierte Justizbeamte Benjamín Espósito will einen Roman über einen nie aufgeklärten Mordfall schreiben und damit die Gespenster der Vergangenheit vertreiben. Der ehemalige Ermittlungsbeamte hat die Bilder noch klar vor Augen: Die vergewaltigte nackte Frau, den Körper mit dem Messer verstümmelt, die Verzweiflung des Ehemannes. Er erinnert sich an die merkwürdige Langsamkeit der Behörden und trifft auch 25 Jahre später auf eine Mauer des Schweigens. Er erinnert sich an den beginnenden Staatsterror in den letzten Regierungsmonaten von Isabel Perón, kurz vor dem Militärputsch 1976. Eine Zeit in der gesuchte Mörder zu Henkern wurden und mithilfe des staatlichen Geheimdienstes weiter mordeten.

25 Jahre danach spürt er die Lüge hinter den Worten und die Angst und die Sehnsucht in den Augen. Juan José Campanello:

"Das Leitmotiv des Films sind die Augen, das, was die Augen ausdrücken. Das ist auch faszinierend, man kann zwei Filme sehen, wenn man nur hört, was die Schauspieler sagen, ist das eine Variante. Wenn man aber den Ausdruck in ihren Augen sieht, ist das ein anderer Film. Das ist der Schlüssel, um den Film zu verstehen und es ist auch sehr schön zu sehen, weil es wunderbare Schauspieler mit ganz ausdrucksstarken Blicken sind."

"El secreto de sus ojos" ist ein politisches Drama mit starken Spannungsaufbau im "Cine Noir" Stil und gleichzeitig eine Liebesgeschichte, die dem Lauf der Zeit trotzen will, die Benjamins zu seiner ehemaligen Kollegin, der attraktiven Untersuchungsrichterin Irene. Diese gefühlsbetonte und auf individuellen Schicksalen aufbauende Vergangenheitsbewältigung hatte dem argentinischen Film 1984 schon einmal einen Oscar gebracht: In "La historia official" (Die offizielle Geschichte) ging es um eine Geschichtslehrerin, die erkennen muss, dass ihre Adoptivtochter eines jener Kinder war, die zur Zeit der Militärdiktatur verfolgten Regimegegnern geraubt wurden. Bis heute ist die Aufarbeitung der Vergangenheit ein beliebtes Thema auch im kommerziellen argentinischen Film. Juan José Campanella:

"Ja, in meinem Film geht es jetzt nicht direkt um die Diktatur, sondern um die Jahre davor, das ist der Kontext, in dem sich die Geschichte entwickelt. Ich wollte diesen Kontext erzählen, weil hier bereits der Staatsterrorismus begann, aber es ist nicht das Wichtigste in der Geschichte. Ich würde das mit dem Zweiten Weltkrieg in 'Casablanca' vergleichen, wer würde schon sagen, dass 'Casablanca' in erster Linie ein Film über den Zweiten Weltkrieg ist, aber das Thema prägt natürlich den Film".

In Rückblenden erzählt Juan José Campanella von Justiz und Gerechtigkeit und stellt die Frage nach der "impunidad", der Straflosigkeit für die Mörder, die die argentinische Gesellschaft seit dem Ende der Diktatur 1982 beschäftigt. Sein Protagonist erkennt, dass sich unter dem Missbrauch der Macht auch die schlimmsten Verbrechen verstecken lassen, und steht vor der Gewissensfrage, ob er das Recht selbst in die eigenen Hände nehmen darf. Aber am Ende hat er sich mit seiner Vergangenheit versöhnt, Licht ins Dunkel der eigenen Erinnerung gebracht und auch die Liebe kann nun ihren Weg gehen.

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