Gespenster am Polarkreis

29.03.2012
Eine junge Frau namens Liv erinnert sich an die Ereignisse eines zehn Jahre zurückliegenden Sommers, an eine Serie düsterer, undurchsichtiger Ereignisse. Die Faszination des Romans von John Burnside liegt in der Unzuverlässigkeit und verwirrenden Zwielichtigkeit der Erzählerin.
Nirgends sei die Welt so mystisch wie in der Nähe des Polarkreises, wenn Tag und Nacht zusammenfallen, weil das Licht der Sonne rund um die Uhr nicht verschwindet. So beschreiben Reisende, die helle Sommernächte in Grönland, Island oder im nördlichsten Norwegen erlebt haben, ihren gewaltigen Eindruck.

Diese Naturkulisse ist die eigentliche Hauptfigur im neuen Roman des schottischen Schriftstellers John Burnside, dessen englischer Titel "A Summer of Drowning" – ein Sommer des Ertrinkens – in der deutschen Übertragung etwas harmloser klingt: "In hellen Sommernächten", was weder das Gespenstische noch das Thrillerhafte der Erzählung erahnen lässt. Denn im Kern ist Burnsides Roman eine psychopathologische Spukgeschichte. Sie spielt auf der schwach besiedelten Insel Kvaloya im äußersten Norden Norwegens und wird von einer jungen Frau namens Liv erzählt. Liv erinnert sich an Ereignisse eines zehn Jahre zurückliegenden Sommers, an eine Serie düsterer, undurchsichtiger Ereignisse.

In diesem Sommer beendet Liv die Schule, sie hat keine Pläne, schaut aus dem Fenster in die immerwährende Helligkeit, wartet, fantasiert, beobachtet. Kurz nacheinander ertrinken unabhängig voneinander zwei Brüder, zwei Klassenkameraden von Liv im Meer, was diese zu dem Verdacht bringt, die Huldra, ein böser Geist, der die Gestalt einer schönen Frau annimmt, stecke hinter den Todesfällen. Auf der Computerfestplatte eines neuen Inselbewohners namens Martin Crosbie findet Liv, als sie heimlich in sein Haus einbricht, Bilder von jungen Mädchen. Sie erhält einen Brief aus Oslo von einer Frau, die sich als Lebensgefährtin von Livs Vater ausgibt und sie dringend bittet, nach Oslo zu kommen, da der Vater im Sterben liege. Schließlich erscheint noch ein amerikanischer Kulturreporter im Haus, der Livs Mutter, eine isoliert und nahezu autistisch lebende berühmte Malerin, interviewen möchte und in den sich die Mutter – so kommt es Liv zumindest vor – verliebt.

Die Faszination des Romans liegt in der Unzuverlässigkeit und verwirrenden Zwielichtigkeit der Erzählerin. Kapitel um Kapitel, Seite um Seite verdichtet sich beim Leser der Verdacht, dass sich die rätselhaften Ereignisse nicht in der Realität, sondern nur in Livs Kopf abspielen. Dass die gesamte Erzählung folglich nichts anderes darstellt als ein riesiges Täuschung- und Ablenkungsmanöver von einer im Romankern unsichtbar verschlossenen Wahrheit. Diese Poetik der raffinierten Täuschung hat in der angelsächsischen Literatur eine durch Schriftsteller wie Vladimir Nabokov und Henry James vertretene Tradition. Bereits mit seinem vorangegangenen, meisterhaften Roman "Glister", der zwei Lesarten anbietet, reihte sich John Burnside in diese Tradition ein. In seinem neuen Roman "In hellen Sommernächten" geht die Mystik der Naturkulisse über in das Zwielicht der erzählerischen Position. Dieser Verschmelzung verdankt der Roman seine ganz besondere Intensität.

Besprochen von Ursula März

John Burnside: In hellen Sommernächten. Roman
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Knaus Verlag, München 2012
284 Seiten, 19,99 Euro
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