Gesellschaft und Politik

Was Marshmallows mit sozialer Gerechtigkeit zu tun haben

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Marshmallows in einem Glas © imago/BE&W
Von Katharina Döbler · 25.04.2017
In einer Gesellschaft, die einseitige Prioritäten setzt, müsse soziale Gerechtigkeit zwangsläufig irgendwann zum Wahlkampfthema werden. Was Marshmallows damit zu tun haben, das erklärt die Journalistin Katharina Döbler.
Gelingendes Leben ist ein Begriff aus der klassischen griechischen Philosophie, den jedes Zeitalter neu für sich zu definieren versucht. Die Vorstellung, die wir uns gegenwärtig davon machen, ist vor allem eine des Erfolgs: ein befriedigender Beruf, mit dem man gut verdient und Erfolg hat; Gesundheit oder zumindest gut gemeisterte Krankheit; Familie, Besitz, Ansehen. Dazu gehört die richtige Work-Life-Balance. Und genug Quality Time. Alles andere gilt als eine Art Versagen.
Für ein Leben nach diesen Maßstäben braucht es allerdings eine ganz bestimmte Persönlichkeitsstruktur.

Belohnt wird, wer sich diszipliniert

Diese Idealpersönlichkeit bildet der Marshmallow-Test ab. Die Versuchsanordnung geht so: In einem leeren Raum steht ein Stuhl und ein Tisch. Auf dem Tisch steht ein Teller, auf dem Teller liegt ein Marshmallow. Ein Kind wird in diesen Raum geführt. Es muss sich auf den Stuhl setzen und es bekommt gesagt: Wenn du wartest, bis ich wiederkomme, ohne dieses Marshmallow zu essen, bekommst du zwei Marshmallows. Bleib auf diesem Stuhl sitzen!
Ein Teil der Kinder schafft es tatsächlich unter inneren Kämpfen (man kann auf YouTube zusehen), seinen Appetit zu bändigen. Diese Kinder, das ist das Ergebnis dieses Langzeitexperiments, sind die Kandidaten für ein gelingendes Leben. Beruflicher Erfolg und private Lebenszufriedenheit sind bei ihnen Jahrzehnte später signifikant größer als bei denen, die das Marshmallow gegessen haben, bevor Verzicht und Disziplinierung belohnt wurden.

Wir brauchen auch andere Werte außer Disziplin

Es gibt vermutlich Kinder, denen der Verzicht leichter fiele, wenn sie am Ende mit einer Freundin oder dem kleinen Bruder teilen könnten. Und Kinder, die das erste Marshmallow aufessen und sich danach für etwas anderes interessieren. Solche, die sich fragen, warum zwei Marshmallows besser sein sollen als eins. Und auch solche, die tapfer warten, um nach dem ersten Bissen festzustellen, dass ihnen das Zeug gar nicht schmeckt.
Menschen sind nun einmal verschieden, und eine Gesellschaft braucht sie alle: die Altruisten, die Künstler, die Rebellen, die Philosophen, die Experimentierer – sogar die Aussteiger.

Ungerechte Bevorzugung der kapitalistischen Ratio

Eine Gesellschaft aber, in der diejenigen Sieger sind, die Vorgaben nicht in Frage stellen und um des langfristigen materiellen Vorteils willen kurzfristig Verzicht üben, unterwirft sich ganz der kapitalistischen Ratio: Getan wird, was sich auszahlt. Wer sich dagegen mehr um andere kümmert als um das eigne Fortkommen, hat keinen Anspruch auf Reichtum und Ansehen. Auch nicht, wer eher dem Glück des Augenblicks als der unsicheren Zukunft zuneigt.
In einer Gesellschaft, die derart einseitige Prioritäten setzt, muss soziale Gerechtigkeit zwangsläufig irgendwann zum Wahlkampfthema werden. Was tun mit den Leuten, die ihr erstes Marshmallow gegessen haben? Ihnen steht ja kein zweites mehr zu! Sollen wir die etwa alimentieren? So sagen die, die auf Erfolg und Reichtum hingearbeitet, das entsprechende Studienfach gewählt, gelernt, sich bemüht, den Aufstieg geplant haben.
Aber eine Gesellschaft ist keine Versuchsanordnung und auch kein Wirtschaftsunternehmen, sondern eine menschliche Gemeinschaft. Und als solche funktioniert sie nur dann, wenn die höchst verschiedenen Individuen, aus denen sie besteht, einander Respekt und Solidarität erweisen.

Katharina Döbler, Journalistin und Autorin in Berlin, Redakteurin bei "Le Monde diplomatique", schreibt für "Die ZEIT" und den Rundfunk.
2010 erschien ihr Roman "Die Stille nach dem Gesang".

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