Geschichtsforschung

Big Data lockt auch Historiker

Lesesaal der Bibliothek Barcelona
Lesesaal der Bibliothek Barcelona © dpa / picture alliance / Robert B. Fishman
Von Stephanie Rohde · 03.02.2016
Einen "Quantitative Turn" erlebt die Geschichtswissenschaft: Historiker analysieren mit Hilfe von Computern alle erhältlichen Daten und Statistiken. Kritiker fürchten eine Geschichtsschreibung, die nur noch aus Zahlen besteht.
Keine jahrhundertealten staubigen Bücher in Bibliotheken mehr. Stattdessen: bunte Computeranimationen, 3D-Knäule von roten und blauen Strängen, die Tausende von Datenpunkten miteinander verknüpfen, alles erstellt von einem Computer auf Basis von weltweit verfügbaren Big Data - sieht so die Zukunft der Geschichtswissenschaft aus?
"Der Computer nimmt einem nicht die Arbeit ab,"
stellt Gregor Wiedemann vom Institut für Informatik an der Universität Leipzig klar.
"...sondern der Computer hilft einem dabei, bestimmte Muster zu finden."
Zum Beispiel solche:
"Mit unseren eine Million digitalisierten Schulbuchseiten kann man zum Beispiel schauen, wie frequent ein bestimmter Begriff in einer Schulbuchgattung ist, ob zum Beispiel in Religionsschulbüchern mehr die Rede von Freiheit ist oder in Geschichtsschulbüchern",
erklärt Maret Keller, Historikerin, die sich am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung mit digitaler Forschung beschäftigt. Auch kann man mit computergestützten Methoden analysieren, wie sich ein gesellschaftlich relevanter Begriff verändert hat.
"So, dass man sehen kann, wie das Wort Krise und in welchen Zusammenhängen es 2008 benutzt wurde im Vergleich zum Ende der 70er-Jahre."
Anders als früher, wo man Quellen einzeln händisch auswerten musste, kann man heute mithilfe des Text-Minings große Mengen Texten, Audios oder Bilder gebündelt auswerten. Geisteswissenschaftler und Informatiker gehen davon aus, dass sich durch die Auswertung großer Datenmengen, also "Big Data", Muster entdecken lassen, die bislang nicht sichtbar. Das heißt: Sie können neue Zusammenhänge herstellen und damit auch neue Fragestellungen beantworten.
Kontroverse Diskussion
"Als wesentliche Neuerung kommt hinzu, dass Ergebnisse intersubjektiv überprüfbarer werden. Wenn wir jetzt die großen Datenmengen nehmen und mit Computeralgorithmen aus diesen Datenmengen automatisch extrahieren, ist das etwas, was als Verfahren intersubjektiv überprüfbar ist und von vielen Forscherinnen und Forschern nachvollzogen werden kann."
Außerdem kann man dynamische digitale Editionen erstellen, die jederzeit veränderbar sind. Das allerdings stellt die Geschichtswissenschaft vor neue Herausforderungen: Denn noch ist nicht klar, welche Quellen überhaupt editiert werden und welche Standards für die Editierung gelten sollen.
Klar ist: Die computergestützten Methoden verändern die Geschichtswissenschaft – und das wird kontrovers diskutiert. Bislang dominierten vor allem hermeneutische und historisch-kritische Methoden die Geschichtswissenschaft, mit der man ein tieferes Verstehen der Bedeutung eines Textes erreichen kann. Historikerinnen und Historiker gehen meistens qualitativ vor, wenn sie zum Beispiel nachvollziehen wollen, warum einzelne Menschen so gehandelt haben.
Werden diese klassischen qualitativen Methoden von den quantitativen Methoden der Naturwissenschaften verdrängt werden? Oder anders gefragt: Werden die Geschichtswissenschaften bald nur noch von Zahlen und Statistiken beherrscht werden?
"Es gibt auf jeden Fall einen Trend hin zur Auswertung größerer Textmengen aufgrund der Tatsache, dass mehr digitale Daten zur Verfügung stehen. Aber ich würde nicht sagen, dass es zwangsläufig zu einer Verdrängung von qualitativen Forschung dadurch kommt."
Auch Maret Keller blickt dem viel beschworenen "Quantitative Turn" in den Geisteswissenschaften gelassen entgegen:
"Das geht nicht zulasten der bisherigen Methoden. Es ist einfach eine Erweiterung, ein weiteres Werkzeug im Koffer, bei dem man schauen muss, wofür es geeignet ist und wofür nicht."
"Eine kritische Haltung zu Suchmaschinen"
Wie viele junge Disziplinen müssen sich auch die Digital Humanities mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass es ihnen an theoretischer Reflexion fehle und Forscher unkritisch mit den neuen computergestützten Methoden umgingen.
"Es ist wichtig, dass man eine kritische Haltung zu Suchmaschinen entwickelt und ein grundsätzliches Verständnis davon hat, was passiert, wenn man bestimmte Algorithmen anwendet, das ist eine große Herausforderung, das ist sehr spannend."
Gängige Vorurteile über die Datenauswertung in den Digital Humanities müssen ausgeräumt werden, findet Gregor Wiedemann von der Universität Leipzig.
"Die Annahme, dass man einfach in einem Computerprogramm auf einen Knopf drückt und sofort ein brauchbares Ergebnis bekommt, ist nicht der Fall. Man muss sich schon mit den Daten intensiv auseinandersetzen, ansonsten kann man schnell zu Fehlinterpretationen neigen, oder Fehler und Lücken, die sich in den Daten befinden, als Forschungsergebnisse fehlinterpretieren."
Dass die Geschichtswissenschaften sich für den digitalen Wandel öffnen, hält
Maret Keller für eine positive Entwicklung:
"Meiner Meinung nach demokratisiert es die Wissenschaft auch ein wenig, wenn man weltweit Zugriff hat auf Bestände unterschiedlicher Sprachen und unterschiedlicher Zeiten."
In den kommenden Jahren müssen die Digital Humanities ihr Verhältnis zu den Naturwissenschaften klären. Inwieweit übernehmen die Geisteswissenschaften den Exaktheitsanspruch der Naturwissenschaften, wenn sie verstärkt auf computergestützte Methoden und statistische Auswertungen von großen Datenmengen setzen? Oder, mit dem Philosoph Odo Marquardt gefragt: Ist es nicht gerade der Mangel an Genauigkeit, die Offenheit für andere Interpretationen oder Erzählungen und das Wissen darum, dass die Wahrheit nicht exakt quantifizierbar ist, das, was Geisteswissenschaften ausmacht?
Mehr zum Thema