Geschichtensammlung für eine Grabrede

24.07.2007
Für die Reise ins Paradies ist es einen Tag vor Silvester eigentlich zu kalt, grübelt Skarlet, die Protagonistin in Kathrin Aehnlichs Roman "Alle sterben, auch die Löffelstöre". Doch was weiß sie schon vom Paradies.
"Gab es für jede Nation ein eigenes Paradies? Oder waren die Paradiese nach Berufsgruppen getrennt?"

Anlass, über diese philosophische wie ketzerische Frage nachzudenken, ist ein Brief, den Skarlet von Paul, dem Freund seit Kindertagen, erhalten hat. Und dieser Paul hat vor sieben Stunden mit seiner Suche nach dem Paradies ernst gemacht. Monatelang hatte der energisch gegen den Krebs Kämpfende alles vorbereitet. Auch diesen Brief, in dem er die Freundin bittet, seine Grabrede zu halten: "Ein bisschen Geschichtenerzählen ohne Pathos" wünscht er sich.

Kathrin Aehnlich nutzt in ihrem Romandebüt mit dem Brief ein klassisches literarisches Motiv. Ganz im Sinne Aristoteles, der den Brief als "Hälfte eines Dialogs" verstand, wird Skarlet aufgefordert, ein Gespräch fortzusetzen, das in vierzig Jahren nie ernsthaft unterbrochen wurde. Paradoxerweise erweist Paul der Vertrauten mit dieser Bitte die letzte ihm mögliche Ehre.

Skarlet und Paul wuchsen in einem Land auf, in dem das Himmelreich bereits auf Erden errichtet werden sollte. An dem utopischen Bauwerk Sozialismus nahmen sie ungefragt teil. In den öffentlichen Erziehungs- und Bildungsanstalten Kindergarten und Schule erlebten sie gemeinsam ein absurdes Statistendasein.

Die kalte Strenge der Erzieher hilft aber auch, trotzig "Nein" zu sagen, dem bösen Blick von Tante Edeltraut standzuhalten, füreinander einzustehen. Freundschaften haben Zeit zu wachsen und zerbrechen daran, aber nicht die zwischen den Protagonisten.

Pauls Sterben rückt all diese Erinnerungen nun in ein anderes Licht, die Konturen werden schärfer. Denn über den Freund nachzudenken, bedeutet auch, eine Bilanz des eigenen Lebens zu ziehen. Skarlet muss sich eingestehen, dass die erträumte Karriere ausblieb und sie als Pressesprecherin im Zoo ein ödes Dasein fristet. Dort hat sie auch über die Population der Löffelstöre zu berichten, das Lieblingsbiotop des Zoo-Direktors. Es handelt es sich um eine Familie der Störartigen, die zusammen mit den echten Stören unter Naturschutz steht und seit 1989 (!) vom Washingtoner Artenschutzabkommen kontrolliert wird. Mit klugem Sprachwitz begibt sich die Autorin auf nachdenkliche Exkurse, wobei artige und störrige Lebensläufe tragikomisch ausgeleuchtet werden.

Geschichten "ohne Pathos" soll Skarlet auf Pauls Beerdigung erzählen. Wie das geht, führt Kathrin Aehnlich in überzeugender Weise vor. In einfühlsamen, vielschichtigen Charakterstudien spricht sie von der Gefahr, dass mit dem Verlust des vertrauten Menschen Sprach-, Empfindungs- und Denkmuster veröden und die gelebte historische Zeit ins Vergessen rutscht. Doch die Erinnerung bleibt als Phantomschmerz zurück.

Rezensiert von Carola Wiemers

Kathrin Aehnlich: "Alle sterben, auch die Löffelstöre"
Roman. Arche Literatur Verlag 2007
250 Seiten. 19 Euro