Geschichte einer Verschwundenen

10.12.2007
Keine Geschichte von Erich Hackl ist erfunden. Wahr ist auch die Geschichte von Gisela Tenenbaum, die der Autor in "Als ob ein Engel" beschreibt. Die junge Frau verschwindet am im April 1977 in Argentinien, als im Land die Militärs herrschen. Hackl rekonstruiert das Schicksal von Gisela Tenenbaum und schreibt ein Requiem, dem die Klage als Anklage unterlegt wird.
Auf die Frage der Zeitschrift "Tintenfass", was er gern mag, antwortet Erich Hackl unter anderem: "Immer ein bißchen zu weit gehen. Aufrecht gehen. Revolutionen." Diese drei Vorlieben haben ein gemeinsames Zentrum: Erich Hackl sympathisiert mit Personen, die Grenzen überschreiten und mit Umbrüchen, die grenzüberschreitend sind.

Dass dieses Bekenntnis etwas mit seinen literarischen Texten zu tun hat, bestätigt ein Blick in die Bücher des 1954 in Steyr, Oberösterreich geborenen Autors. Den Chronisten interessieren Lebensschicksale von Menschen, die Opfer von Gewaltherrschaft wurden. Er erinnert an Personen, die vergessen wurden und vergessen bleiben sollen.

Zugleich macht er dabei auf Menschen aufmerksam, die gesellschaftlich vorgegebene Grenzen nicht akzeptiert haben. Hackl konzentriert sein Schreiben auf jene, die in komplizierten Zeiten über sich hinausgegangen sind und selbstlos halfen. Er zeigt Menschen, die den aufrechten Gang nicht erst trainieren mussten, sondern ihn beherrschten.

Keine Geschichte von Erich Hackl ist erfunden. Seinen Erzählungen und Romanen liegen authentische Fälle zugrunde. Er ist ein Rechercheur, der der Wahrheit verpflichtet ist. So, wie er die "Fälle" beschreibt, haben sie sich ereignet. Er sieht seine Aufgabe darin, Tatsachen durch seine Worte öffentlich zu machen, und spricht für die Opfer, die nicht mehr erzählen können.

Wahr ist auch die Geschichte von Gisela Tenenbaum, die Hackl in "Als ob ein Engel" beschreibt. Die junge Frau verschwindet am 8. April 1977 in Argentinien, als im Land die Militärs herrschen. Hackl rekonstruiert das Schicksal von Gisela Tenenbaum und schreibt ein Requiem, dem die Klage als Anklage unterlegt wird. Gern würde Hackl sein Buch wie ein Märchen enden lassen:

"Da ging die Tür auf, und die Tochter trat ein mit ihren goldenen Haaren und ihren leuchtenden Augen, und es war, als ob ein Engel vom Himmel käme."

Doch die Geschichte hat kein glückliches Ende. Das Schicksal von Gisela Tenenbaum bleibt ungeklärt. Ihrem Leben geht Hackl in der Erzählung "nach". Indem er aber die Lebensgeschichte Gisela Tenenbaums vergegenwärtigt, wird dem Leser immer mehr bewusst, dass es sich dabei um eine Geschichte "nach dem Leben" handelt, wie es im Untertitel des Romans heißt. Es wäre ein Wunder, würde Gisela Tenenbaum noch leben.

In der Rekonstruktion, die nach dem Leben von Gisela fragt, bildet der Tod das Zentrum. Das Erzählen setzt ein, als kaum noch Hoffnungen bestehen, dass Gisela lebt. Hackl kann nur an die Verschwundene erinnern, er kann die Angehörigen und Freunde zum Sprechen bewegen, aber Gisela bleibt stumm. Indem Hackls Worte diese Grenze bewusst machen, wird das "nur" sprechend.

Erich Hackls Bücher stoßen sich an der Ungerechtigkeit. Es sind Bücher, die stören, indem sie sich nicht am Vergessen beteiligen. Hackl hebt in seinen Büchern die Verlorenen auf und klagt diejenigen an, die sie fallen ließen - ein meisterlicher und verlässlicher Chronist.


Rezensiert von Michael Opitz


Erich Hackl: Als ob ein Engel. Erzählung nach dem Leben
Diogenes Verlag, Zürich 2007, 170 Seiten, 18,40 Euro