Geschichte einer Pastoren-Dynastie

Abgrund Pfarrhaus

Die untergehende Sonne lässt die Kirche St. Wenzeslaus in Bayern und das zugehörige Pfarrhaus, einen neubarocken Bau im Villenstil orange aufleuchten.
Ein ganz besonderes Milieu: das deutsche Pfarrhaus © dpa / picture alliance / David Ebener
Von Philipp Gessler · 02.05.2015
Was haben Lessing, Nietzsche, Angela Merkel und Joachim Gauck gemeinsam? Sie alle wuchsen in einem Pfarrhaus auf. Das deutsche Pfarrhaus ist ein echter Mythos, Milieu und außergewöhnliches Biotop. Cord Aschenbrenner zeichnet in seinem Buch eine Welt nach, die ihren speziellen Glanz und ihre besonderen Abgründe hat.
Die estnischen Bauern wussten nicht so recht, woran sie waren. Da kam dieser neue Pastor, ein deutschsprachiger, der eine Antrittspredigt auch auf Estnisch halten wollte, wie es von ihm erwartet wurde, der Volksnähe wegen. Ganz gut bewandert im Estnischen, aber eben doch nicht ganz sicher, ließ er sich seine Predigt von einem estnischen Muttersprachler in dessen Sprache übersetzen.
Der letzte Satz der Predigt sollte, ganz demütig-protestantisch, sein: "Nehmt mich von Herzen an". Dumm nur, dass dem wackeren deutschsprachigen Pastor vor Aufregung zwei Vokale und eine Betonung verrutschten, weshalb die estnischen Bauern stattdessen von ihm in ihrer Heimatsprache hörten: "Nehmt mich Scheißkerl an!" Man kann nicht so oft lachen in Cord Aschenbrenners "Das Evangelische Pfarrhaus. 300 Jahre Glaube, Geist und Macht: Eine Familiengeschichte" – aber manchmal eben doch.
Der Hamburger Journalist und Historiker hat sich auf 367 Seiten einen Mythos vorgenommen: das deutsche evangelische Pfarrhaus. Auch wenn dessen Ruhm langsam verblasst ist, so ist dieses Thema doch dankbar. Denn dieses besondere, fromme und bildungsbürgerliche Milieu war in der deutschen Geistesgeschichte von enormer Wirkung.
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"Das evangelische Pfarrhaus" von Cord Aschenbrenner© Siedler-Verlag
Aus einem Pfarrhaus stammen oder von ihm geprägt waren und sind viele, die Großes geleistet haben oder einiges an Ruhm ernten konnten: von Matthias Claudius über Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Nietzsche bis Albert Schweitzer, Angela Merkel oder Joachim Gauck, um nur wenige zu nennen.
Inbegriff der gutbürgerlichen Familie
Das deutsche Pfarrhaus galt vor allem im 19. Jahrhundert als der Inbegriff einer insgesamt gelungenen bürgerlichen Familie: gebildet, patriotisch, gehorsam, fromm und patriarchal.
Dem hielt der Volksmund das böse Sprichwort "Pfarrers Kinder, Müllers Vieh – gedeihen selten oder nie" entgegen. Und das dabei immer wieder hervor gehobene Paradebeispiel ist die spätere RAF-Terroristin Gudrun Ensslin. Wobei es Aschenbrenner durchaus zugute zu halten ist, dass er diese Sentenz sprachgeschichtlich richtig übersetzt. Denn "selten" ist hier in seinem älteren Wortsinne gemeint, bedeutet also so viel wie: "besonders" oder "außergewöhnlich". Demnach wäre der Sinn des Sprichworts eher: Pastorenkinder scheitern in ihrem Leben – oder werden etwas Besonderes. Und das hat sich in der deutschen Kulturgeschichte durchaus bewahrheitet.
Aschenbrenner kommt mit seiner großen Erzählung des evangelischen Pfarrhauses ein wenig spät. Denn schon vor zwei, drei Jahren wurde mit Christine Eichels "Das deutsche Pfarrhaus - Hort des Geistes und der Macht" und mit einer viel beachteten Ausstellung im Deutschen Historischen Museum zum gleichen Thema in Berlin so viel erzählt, dass fraglich erscheint, was ein weiteres Buch zum Thema an Mehrwert liefern könnte.
Das Besondere an Aschenbrenners Buch ist jedoch, dass er versucht, die Geschichte des deutschen evangelischen Pfarrhauses anhand einer Familiengeschichte zu erzählen: Es ist die Pastoren-Dynastie (von) Hoerschelmann, die er über acht Generationen beobachtet.
Jede Generation brachte mindestens einen oder eher mehr Pfarrer hervor – und ein offenbar exzellentes Familienarchiv hat dafür gesorgt, dass Aschenbrenner das Schicksal dieser Familie durch die letzten rund 250 Jahre deutscher und estnischer Geschichte nachvollziehen kann, als Spiegel der Zeitläufte.
Das Buch zeichnet eine Welt nach, die nicht mehr existiert
Denn das ist die zweite Besonderheit dieses Buches: Die Hoerschelmanns lebten über Generationen in Estland, als Teil der deutschen Elite in diesem baltischen Staat, der die meiste Zeit Teil des Zaren- und Sowjet-Imperiums war.
Man lernt also auch viel über die estnische Geschichte, noch mehr über die deutsche Minderheit in Estland, die kurz vor dem Zweiten Weltkrieg rund 16.000 Menschen umfasste. Die Zahl der deutschen Pfarrer dort betrug gerademal sechs Dutzend, wie man lernt, und viele von ihnen hießen im Laufe der Jahrhunderte Hoerschelmann.
Damit ist zugleich das Haupt-Manko des Buches benannt: Die Freuden und Sorgen einer so kleinen Berufsgruppe einer kleinen deutschen Minderheit in einem kleinen Land können nicht immer fesseln – zumal deren Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer mehr oder weniger vom NS-Regime (!) erzwungenen "Heimkehr ins Reich" vergangen ist. Und wie repräsentativ ist diese doch sehr spezifische Geschichte für das deutsche evangelische Pfarrhaus überhaupt?
Dennoch: Wen das deutsche evangelische Pfarrhaus – vielleicht sogar aus familiären Gründen wie beim Autor des Buches – als Milieu und außergewöhnliches Biotop interessiert, der kommt bei Aschenbrenners Werk auf seine Kosten. Das Buch zeichnet eine Welt nach, die nicht mehr existiert, aber ihren ganz eigenen Glanz, ihre besondere Würde – und auch Abgründe hatte.
Die vielleicht rührendste Geschichte dieses Buches, die dies am besten erläutert, ist die der Todesstunde des Revaler Propstes und Oberpastors Paul Eduard Hoerschelmann, der am 3. November 1833 in der estnischen Hauptstadt starb. Seine Frau Kristina Louise, die ebenfalls im Sterben lag, soll der Familientradition zufolge aus ihrem Zimmer ihrem Mann zugerufen haben: "Warte, warte, Eduard, ich komme gleich nach!"

Cord Aschenbrenner: Das evangelische Pfarrhaus. Dreihundert Jahre Glaube, Geist und Macht: Eine Familiengeschichte
Siedler-Verlag, München 2015
368 Seiten, 24,99 Euro, auch als ebook erhältlich

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