Geschichte des Arbeitskampfes

Rezensiert von Georg Gruber · 13.10.2005
Die Gewerkschaften entstanden in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, doch gestreikt wurde schon vorher, für mehr Lohn und mehr Rechte der Arbeiter und Handwerksgesellen. Michael Kittner hat mit "Arbeitskampf. Geschichte, Recht, Gegenwart" die erste umfassende Gesamtdarstellung des Arbeitskampfes vorgelegt.
Der erste überlieferte Arbeitskampf der Weltgeschichte ereignete sich vor mehr als 3000 Jahren in Ägypten. Die Arbeiter in den Totenstädten der Pharaonen streikten, als ihre Bezahlung ausblieb. Michael Kittner schreibt:

" Ihre Aktion hatte ganz und gar nichts mit ungeordneter Rebellion zu tun. Das hing offenkundig mit dem Bewusstsein zusammen, sich mit den Forderungen nach Lohn in einem Rahmen fundamentaler Legitimität zu bewegen."

Kittner konzentriert seine Untersuchung nach diesem Exkurs in die Antike vor allem auf die Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland.

Schon im Spätmittelalter entstanden in den Reichsstädten Gesellenvereinigungen, die miteinander auch in Kontakt standen. Sie waren eine Art Arbeitsvermittlung für wandernde Gesellen und konnten Handwerksbetriebe, die ihre Arbeiter schlecht behandelten, "verrufen", das heißt mit Boykott belegen. Davon waren immer wieder ganze Handwerkszünfte einer Stadt betroffen.

" Wir haben es mit einer gegenüber der heutigen gerade umgekehrten Situation zu tun: Während Arbeitskonflikte heute durch hohe Mobilität des "Faktors Kapital" gekennzeichnet sind, war unter der Zunftverfassung der "Faktor Arbeit" der bewegliche Teil, der die vollständig immobile Gegenseite vor nahezu unlösbare Probleme stellte."

Wenn die Gesellen streikten, verließen sie einfach die Stadt und waren dann auch juristisch nicht mehr zu fassen.

Michael Kittner, emeritierter Professor für Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht, demontiert einige Mythen: Etwa den Mythos, dass Streiks eine Erfindung des Industriezeitalters sind. Oder der Aufstand der schlesischen Weber 1844, einer der berühmtesten Arbeitskonflikte, war bei genauer Betrachtung nur eine zufällig ausgelöste Revolte und kein breit angelegter Unterschichtenprotest. Der Weberaufstand führte allerdings ab 1845 zu einem Streikverbot in der preußischen Gewerbeordnung.

" …und zwar (…) ohne reale Bedrohung! So wenig, wie es die "kommunistische Verschwörung" gab, so sehr ließen Streiks als Mengenproblem auf sich warten."

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte sich das. In der Gründerzeit der 70er Jahre wollten auch die Arbeiter an den Früchten des Aufschwungs teilhaben. Streiks wurden in der konservativen Presse als "Eitergeschwür der sozialen Frage" verunglimpft. Der Kaiser hätte die Streikenden am liebsten niederschießen lassen. Der Kampf gegen die deutsche Sozialdemokratie begann.

Letztlich, und das ist eine der Einsichten aus der Geschichte, ist die rechtliche Stellung der Arbeiter immer auch abhängig von Faktoren außerhalb der Arbeitswelt, Zugeständnisse sollen dem inneren Frieden dienen, zum Beispiel während des ersten Weltkrieges:

" Um den Krieg bei den Arbeitern zu legitimieren, wurden die Gewerkschaften, weit über ihre wahre Stärke hinaus (oder besser: ungeachtet ihrer Schwäche), zur Mitentscheidung zugelassen."

Die ersten 50 Jahre der Bundesrepublik gehörten, so die Analyse Michael Kittners, zu den arbeitskampfärmsten der deutschen Geschichte.

" Arbeitszeitverkürzungen durch die 40 Stunden Woche ("Samstags gehört Vati mir"), gerechter Anteil am Sozialprodukt …, bessere soziale Sicherheit, eine gesicherte Mitbestimmung und verbesserter Arbeitsschutz."

In den Zeiten des Ost-West-Konfliktes ließ sich all dies ohne größere Kämpfe durchsetzen:

" Allen politischen Kräften lag die Systemloyalität der Arbeiter am Herzen, und deren ökonomische Teilhabeansprüche konnten in den langen Jahren der Wiederaufbaukonjunktur mühelos verkraftet werden."

Michael Kittner hat auf rund 800 Seiten eine detaillierte Analyse der Geschichte des Arbeitskampfes vorgelegt. Es ist die erste umfassende Gesamtdarstellung, und sie wird sicher zu einem wissenschaftlichen Standardwerk werden, gut lesbar auch für Laien. Der Autor war 25 Jahre Justitiar der IG-Metall, aber er nimmt nicht – oder nur selten – Partei.

Die Macht der Gewerkschaften ist heute im Schwinden begriffen, in Zeiten von Globalisierung, Massenarbeitslosigkeit und sinkenden Mitgliederzahlen. Doch der Verteilungskonflikt bleibt bestehen, und die Arbeitnehmer sind die Schwächeren. Ein neues Kapitel in der Geschichte des Arbeitskampfes beginnt.


Michael Kittner: Arbeitskampf. Geschichte, Recht, Gegenwart
Verlag C.H. Beck, 2005,
784 Seiten, 39,90 Euro