Gertrude Lübbe-Wolff: "Das Dilemma des Rechts"

Recht kann im Einzelfall auch nachgeben

Buchcover "Das Dilemma des Rechts" vor dem Hintergrund einer Justitia-Figur
Buchcover "Das Dilemma des Rechts" vor dem Hintergrund einer Justitia-Figur © Imago / Blickwinkel / Schwabeverlag
Von Florian Felix Weyh · 22.07.2017
Warum bestrafen wir eigentlich? Und warum tun wir das sogar in Fällen, in denen wir die Motive des Täters verstehen können? Die Ex-Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff beschreibt in einem Essay die Zusammenhänge von Strenge, Milde und den Fortschritt es Rechts.
Schlechter kann kein Vertrag aussehen: Shylock darf seinem Schuldner ein Pfund Fleisch aus dem Leib schneiden, wenn dieser säumig bleibt. Zum Glück ist dies ein fiktiver Fall, und Shakespeare liefert die Lösung auch gleich mit: Der Vertrag enthält keinen Anspruch auf Blutstropfen, weswegen er unerfüllbar bleibt.
Ob es körperliche Selbstverpfändungen je gab, ist unklar. Klar ist: Heute wäre der Vertrag ungültig. Die Generalklausel der Sittenwidrigkeit setzt formale Vereinbarungen solch perverser Art außer Kraft. Gewiss, pacta sunt servanda, Regeln müssen eingehalten werden, und Recht fällt aus Präventivgründen prinzipiell streng aus. Wäre es aber nur streng, bliebe es unerträglich.

Bevor es neue Gesetze gibt, wendet man alte nicht mehr an

Deswegen hat die Moderne gelernt, durch "Generalklauseln", "Differenzierungen"," Nichtverregelungen" und "Gnadenakte" Recht erträglicher, milder, zu gestalten. Gnade? - Das klingt nach Vergangenheit und Willkür, doch zeigt Gertrude Lübbe-Wolff, dass mildere Regeln wie Bewährungsstrafen historisch zunächst als Gnadenakte ausprobiert wurden, bevor man sie in Gesetzestexte goss.
Die Todesstrafe setzte man in vielen Staaten zunächst lange Jahre aus, bis man sie endlich abschaffte. Und statt Shylocks brutaler Pfandeinlösung, die auf private Vertragserfüllung pocht, gibt es heute ein ausdifferenziertes Insolvenzrecht, das derartige Auswüchse nicht mehr zulässt.

Rechtsprechung ist eine Kultur der Abwägung zwischen Härte und Milde

In ihrem ebenso lesenswerten wie lesbaren sehr klugen, rechtsphilosophischen Essay vermag Gertrude Lübbe-Wolff zwar nicht das Dilemma zwischen Strafe und Milde aufzulösen, definiert aber Rechtsprechung als Kultur der Abwägung: "Die Kunst der Wahrung des Rechts mit begrenzten Durchsetzungsmitteln besteht darin, dafür zu sorgen, dass sich keine Inseln bilden, auf denen man vorhersehbarerweise mit hoher Wahrscheinlichkeit unbehelligt vom Arm des Rechts agieren kann."
Deswegen strafen wir, und deswegen kommunizieren wir Milderungsakte weit weniger offensiv als drakonische Urteile. Recht kann im Einzelfall nachgeben, aber das bleibt besser unbemerkt.

Gertrude Lübbe-Wolff: "Das Dilemma des Rechts"
Schwabe Verlag 2107, 94 Seiten, 14 Euro

Mehr zum Thema