German Bildungsangst

Von Matthias Gronemeyer · 06.05.2013
Der Schul- und Hochschulbetrieb in Deutschland zielt auf die Herstellung qualifizierter Arbeitskräfte mit empirisch messbaren Kompetenzen. Um wirkliche Bildung geht es dagegen auch knapp fünf Jahre nach Erfindung der "Bildungsrepublik" nicht, meint der Philosoph Matthias Gronemeyer.
Fast fünf Jahre ist es nun her, dass Angela Merkel Deutschland zur "Bildungsrepublik" erklärt hat. Seither ist Reform auf Reform gefolgt, auf dass das Schlechte dem Guten weiche und Deutschland im internationalen PISA-Vergleich den Anschluss an die Spitze finde. Wir haben mit der Bildung also unser großes Thema gefunden – könnte man meinen. Man kann aber auch zu der Erkenntnis gelangen, dass sich hier ein Volk an einer Kollektivneurose abarbeitet.

Es ist ein aus der Psychoanalyse bekanntes Verhaltensmuster, sich mit besonderer Inbrunst demjenigen zu widmen, das einem insgeheim Angst bereitet. In diesem Fall ist eine kollektive neurotische Angst vor Bildung zu diagnostizieren. Und wer sich nun von dieser Behauptung provoziert fühlt, darf sich getrost zum gefährdeten Personenkreis rechnen.

Bildung ist nämlich eine ausgesprochen gefährliche Sache. Laut Hegel ist sie das "Aufheben des natürlichen Selbst". Was wir von Natur aus sind, wird demnach durch Bildung auf eine höhere Ebene gehoben, dabei zugleich aber vernichtet. Durch Bildung, so der Philosoph, würde sich der Geist entfremdet. Auch wer Hegel nicht gelesen hat, kann diesen Zusammenhang zumindest intuitiv erkennen, und die Vorstellung der Selbstentfremdung macht eben Angst.

Gefragt sind ausgebildete Menschen, nicht gebildete
Bildung ist eine ganz und gar individualistische Angelegenheit. Für den Staat birgt sie daher immer die Gefahr, dass ihm die Gebildeten von der Fahne gehen. Corporate Germany will ausgebildete Menschen, nicht unbedingt gebildete. Und das führt oft zur "Einschüchterung des einzelnen bei seinen Versuchen, den Dingen auf die Spur zu kommen". So hat es der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich formuliert.

Wer Bildung hat, hat Macht über die Wirklichkeit, und das macht ihn suspekt. Wer sich bildet, bildet zugleich auch immer die Wirklichkeit, treibt damit einen Keil zwischen sich und die anderen, er spaltet. Man muss sich nur den öffentlichen Umgang mit unseren wenigen Intellektuellen anschauen, um zu sehen, dass deren Bildung nicht gemeint sein kann, wenn an den Schulen die Zeit zum Abitur kürzer und an den Universitäten der Freiraum für individuelle Interessen knapper wird.

Karl Marx, der meinte, Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben, verortete die Entfremdung vom natürlichen Selbst nicht in der Bildung, sondern in der industriellen Arbeit. Wer würde ihm heute noch Recht geben wollen? Ist uns doch der Job, die Anstellung, die Erwerbsarbeit zum Identifikationsprinzip schlechthin geworden. Name, Alter, Beruf: Damit ist für uns die Identität eines Menschen gegeben. Wir schätzen die Arbeit hoch und die Bildung gering. Sie ist nicht mehr als eine Freizeitbeschäftigung nach getaner Arbeit.

Die junge Generation wird mit allerlei Bildungsinitiativen traktiert
Weil wir also Angst haben, uns ganz individuell auf unsere eigene Bildung einzulassen, weil wir Angst haben, für einen Gewinn an Wahrheit den Preis der Entfremdung zu bezahlen, deshalb beschleicht uns, erstens, ein schlechtes Gewissen. Und zweitens projizieren wir dieses Unbehagen an unserer Kultur auf die folgenden Generationen, die wir mit Bildungsinitiativen noch und nöcher überhäufen.

Aber machen wir uns nichts vor: Um wirkliche Bildung geht es auch knapp fünf Jahre nach Erfindung der "Bildungsrepublik" nicht. Das wird besonders daran deutlich, dass dem Bildungsprozess jedwede Schmerzhaftigkeit genommen werden soll, wie die jüngste Debatte um das Sitzenbleiben zeigt. Leiden ist in jedem Falle zu vermeiden: Aus dem Land der Bildung flüchtet sich der entfremdete Geist in das Land der Moral.

Der Schul- und Hochschulbetrieb zielt auf die Herstellung qualifizierter Arbeitskräfte mit empirisch messbaren Kompetenzen. Man sollte das Formierung nennen, was die Universitäten vorantreiben, vielleicht auch Uni-Formierung, aber keinesfalls Bildung.

Als Therapie gegen die neurotische Bildungsangst empfiehlt es sich erstens, die Angst nicht länger übereifrig abzuwehren, sondern mit ihr leben zu lernen. Und zweitens braucht Bildung Mut und Tapferkeit und die Bereitschaft, ein anderer zu werden, als man ist.

Matthias Gronemeyer, Jahrgang 1968, ist Philosoph, Autor und Publizist. Er lehrt an der PH Ludwigsburg. In seinem Buch "Profitstreben als Tugend?" (Marburg 2007) hat er sich mit den Notwendigkeiten und Grenzen des Kapitalismus auseinandergesetzt. Im Renneritz Verlag erschien unter dem Pseudonym M. Grabow sein Romandebüt "Hanna", in dem er von einer Liebe in Zeiten der Gentechnik erzählt.
Matthias Gronemeyer
Matthias Gronemeyer© Iris Merkle
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