Gerhard Paul: "Das visuelle Zeitalter"

Von Bildakten und Superikonen

Ein US-Soldat legte 2003 eine Kette um den Kopf der Statue von Saddam Hussein, was den Sturz des irakischen Diktators verbildlicht.
Ein US-Soldat legte 2003 eine Kette um den Kopf der Statue von Saddam Hussein, was den Sturz des irakischen Diktators verbildlicht. © imago/ epa afp Haider
Von Ingo Arend · 01.04.2016
Der Flensburger Historiker Gerhard Paul hat eine voluminöse Geschichte der Visualität seit dem 19. Jahrhundert geschrieben. Er zeigt das Bild als Waffe im Krieg, als Medium der Überwachung und als Ziel von Bilderstürmen.
Your Country Needs You. Der Suggestivwirkung des Plakats, das der englische Graphiker Alfred Leete 1914 entwarf, kann man sich noch heute schwer entziehen. Mit grimmigem Blick und ausgestrecktem Arm richtet sich Lord Kitchener, der britische Kriegsminister, direkt an den Betrachter. Die Dominanz des Auges lässt es für den Flensburger Historiker Gerhard Paul zu einer Ikone des "Visuellen Zeitalters" werden.
Anders als die Theoretiker des "pictorial turn" zu Beginn der 1990er-Jahre lässt der Wissenschaftler diese Ära schon Mitte des 19. Jahrhunderts beginnen. Unter der "Hegemonie des Visuellen" versteht der Wissenschaftler, dass "Visualität zu einer Seinsform des Alltags" geworden sei, in der sich der Mensch der von Bildern definierten Gegenwart, der "Visual Man", behaupten muss. Das Bild wird zum wichtigsten Medium gesellschaftlicher Kommunikation.
In acht Großkapiteln verfolgt Paul die Entwicklung der Bildkulturen, von den ersten Bildern wie Louis Daguerres Fotografie aus dem Jahr 1839 über deren Ausbreitung in Filmen, Plakaten und Illustrierten bis hin zum Fernsehen, Video und Computerspiel. Im 21. Jahrhundert gelte dann das "Diktat der Sichtbarkeit", sei es in der Politik, den Massenmedien oder der Überwachung. Mit Google Earth sei die "totale visuelle Verfügbarkeit" der Welt erreicht.
Paul zeigt das Bild als Waffe im Krieg, als Medium der Überwachung, als Ziel von Bilderstürmen. Er legt Methoden der politischen Inszenierung durch das Bild offen oder die Entstehung von Erlebnisgemeinschaften via Public Viewing. Geschichte wird für Paul heute mit "Bildakten" und "Superikonen" gemacht: Hiroshima, 9/11 in New York oder die Enthauptungsvideos des Islamischen Staats.
Kern des "optischen Zeitalters" ist die Zerlegung des Sichtbaren in kreisförmige Rasterpunkte, vorläufiger Höhepunkt ist der digitale Pixel. Seitdem kreisen die Bilder als binäre Zeichencodes ort- und referenzlos um den Globus. Zugleich entsteht die "zweite Realität des Visuellen": immersive und emmersive Bilder, solche, die den Betrachter in sich hineinziehen wie im Computerspiel, und solche, die ihn als außergewöhnliche anzuspringen scheinen, virtuelle und imaginäre Bildräume. Die Grenze zwischen fiktiver und realer Wirklichkeit verschwimmt.

Die Schlacht von Sedan und der CDU-Parteitag

Pauls überbordende Materialfülle steht in umgekehrtem Verhältnis zu seiner theoretischen Basis. Den "Visual Man" charakterisiert er knapp als "hybrides Subjekt", das, halb Zuschauer, halb Teilnehmer, ständig "zwischen medialisiertem und unmittelbarem Erleben wechseln" müsse. Seinem Anspruch, eine "visuelle Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts" zu schreiben, wird Paul zumindest für Deutschland gerecht: Sie reicht von Anton von Werners Panoramagemälde der Schlacht von Sedan bis zu Angela Merkels überlebensgroßer Projektion auf einem CDU-Parteitag. Außereuropäische Bildwelten fehlen allerdings.
Trotz einiger Wiederholungen: Wer sich durch diesen voluminösen, intensiven Grundkurs in Visualität kämpft, ist bestens präpariert für eine Welt, in der literale Kompetenzen allein nicht mehr ausreichen. In ihr muss man Bilder wahrnehmen, kritisieren, sich in ihnen ausdrücken lernen.

Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel
Wallstein Verlag, Göttingen 2016
760 Seiten, 39 Euro

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