Gerechte unter den Völkern

Von Michael Hollenbach · 13.04.2013
Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem hat Elisabeth Schmitz bereits zur Gerechten der Völker ernannt. Nun wird die evangelische Religionspädagogin in ihrer Geburtsstadt Hanau posthum geehrt: für eine 1935 von ihr anonym verfasste Denkschrift, mit der sie sich deutlich gegen die Verfolgung der Juden wandte.
Elisabeth Schmitz wurde 1893 im hessischen Hanau geboren. Nach dem Studium der Geschichte und Theologie promoviert sie 1920 und wechselt später in den Schuldienst. Sie erlebt bald nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten die Folgen der antisemitischen Politik. Mehrere jüdische Freundinnen von ihr werden aus dem Dienst entlassen, verlieren ihre Lebensgrundlage, sind verzweifelt. Elisabeth Schmitz nimmt in den 30er-Jahren mehrere jüdische Verfolgte in ihrer Wohnung und in ihrem Wochenendhaus auf und hilft ihnen mit Geld und Lebensmittelkarten.

1935 verfasst die damals 42-Jährige als Mitglied der Bekennenden Kirche die Denkschrift "Zur Lage der deutschen Nichtarier", in der sie anonym zahlreiche Beispiele der Diskriminierung und Verfolgung jüdischer Bürger auflistet:

"Die Beispiele genügen, um zu zeigen, dass es keine Übertreibung ist, wenn von dem Versuch der Ausrottung des Judentums in Deutschland gesprochen wird. Es ist von Anfang an gesagt worden, man brauche keine Bartholomäus-Nacht, man habe andere Methoden. Wir haben keine Verlustlisten dieser Verfolgung. Aber wir müssen uns klar machen, dass bereits Hunderte, vielleicht noch sehr viel mehr Menschenleben dieser Verfolgung zum Opfer gefallen sind."

"Warum tut die Kirche nichts?"
Die Schrift hat eine Auflage von 200 Exemplaren. Elisabeth Schmitz verschickt sie vor allem an Mitglieder der Bekennenden Kirche. Und sie fordert ihre evangelische Kirche auf, endlich zu handeln:

"Was soll man antworten auf all die verzweifelten Bitten, Fragen und Anklagen: Warum tut die Kirche nichts? Wie kann sie immer wieder freudige Bekenntnisse zum nationalsozialistischen Staat ablegen, die doch politische Bekenntnisse sind und sich gegen das Leben eines Teiles ihrer eigenen Glieder richtet? Sollte denn alles das, was mit der heute so verachteten Humanität schlechterdings unvereinbar ist, mit dem Christentum vereinbar sein? Menschlich geredet bleibt die Schuld, dass alles dies geschehen konnte vor den Augen der Christen, für alle Zeiten."

Dies schreibt sie bereits 1935, als viele Christen die Verfolgung der Juden ignorieren und sogar mit den Nazis sympathisieren.

"Sie erliegt nicht den Verführungen wie so viele Protestanten, und sie ist sofort alarmiert über die Dinge, die passieren. Also die Anfänge der Judenverfolgung."

Sagt der Historiker Manfred Gailus. Doch die Resonanz auf ihre eindringliche Denkschrift muss für Elisabeth Schmitz enttäuschend gewesen sein:

"Auf einer Synode der Bekennenden Kirche im September 1935 wird diese Denkschrift gar nicht thematisiert. Die Bekenntnispfarrer waren zu ängstlich, zu vorsichtig."

Mit ihren Mahnungen und Warnungen kann sie unter ihrem Namen nicht an die Öffentlichkeit gehen:

"Sie wäre am nächsten Tag verhaftet worden."

Dietgard Meyer war Mitte der 30er-Jahre eine Schülerin von Elisabeth Schmitz. Die heute 90-Jährige über ihre damalige Lehrerin:

"Eine sehr ruhige, aber sehr bestimmte. Als Schülerin weiß man das eigentlich nicht zu würdigen, merkwürdigerweise habe ich sie von Anfang an geschätzt. Es war klar: was sie sagt, da steht sie zu."

In Berlin-Lankwitz macht sie ihren Schülerinnen gegenüber kein Hehl daraus, wo sie politisch steht:

"Sie kam in die Klasse niemals mit strammen Heil Hitler und Arm hoch, sondern so nur so ganz hingehaucht, dass man ahnen konnte, das sollte jetzt Heil Hitler sein."

Großer Widerwille gegen nationalsozialistische Ideologie
Ein eindeutiges Zeichen, da alle Lehrer zum Hitlergruß verpflichtet sind. Ihr Widerwille gegen die nationalsozialistische Ideologie ist so groß, dass sie sich nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zu einem mutigen Schritt entschließt, sagt der Schmitzbiograf Manfred Gailus:

"Sie findet das so furchtbar, dass sie von diesem Tag an als Lehrerin nicht mehr in die Schule geht. Sie verweigert den Unterricht, sie lässt sich krankschreiben und sie sagt – und das schreibt sie dann auch in einem Gesuch an die Schulverwaltung -, dass sie aus Gewissensgründen den Unterricht im nationalsozialistischen Sinn nicht weiter erteilen könne."

Im Gegensatz zu ihrer evangelischen Kirche hat Elisabeth Schmitz nicht nur die zum Christentum konvertierten Juden im Blick, sondern alle verfolgten Juden. Und sie fordert mehr als nur seelsorgerlichen Beistand, sagt ihre langjährige Freundin Dietgard Meyer:

"Das war ja der ständige Konflikt: Ja immer einzelnen, die soll man trösten, denen soll man helfen - Bodelschwinghs Richtung, seelsorgerlich ja. Aber um Gottes Willen nicht öffentlich, das hätte ja auch einen politischen Akzent gehabt."

1943 kehrt Elisabeth Schmitz nach Hanau zurück, wo sie nach dem Krieg wieder als Lehrerin tätig ist und sich als Historikerin engagiert. 1977 stirbt sie. Zu ihrer Beerdigung sollen nur sieben Menschen gekommen sein. Dass sie die Autorin jener Denkschrift zur Lage der deutschen Nichtarier ist, erfährt zunächst niemand.

Manfred Gailus: "Das wusste bis Ende des letzten Jahrhunderts kein Mensch. Dann kam 1999 eine Publikation von Dietgard Meyer, und die hat einiges gewusst und einiges geahnt."

Dietgart Meyer: "Nach dem Tod von Elisabeth Schmitz hat ihre Schwester mir eine dicke Aktenmappe übergeben und hat gesagt: Die war ihr das Allerwichtigste, die nimm du mal mit."

Späte Entdeckung der Autorenschaft
Doch Dietgard Meyer war noch berufstätig und fand keine Zeit zur Auswertung der Akten. Erst später stößt sie dort auf die Denkschrift und eine Bestätigung des Propstes und des Dekans aus Hanau:

"Die hatten beide ihr aufgeschrieben, dass sie wissen, dass sie diese Denkschrift geschrieben hat."

Und als sie noch weitere Indizien findet, ist ihr klar, dass Elisabeth Schmitz die Autorin der Denkschrift war. Theologen wie Karl Barth und Helmut Gollwitzer wussten, dass Elisabeth Schmitz die Denkschrift verfasst hatte. Sie haben nach 1945 geschwiegen.

Manfred Gailus: "Bei den genannten Großtheologen scheint es ein wenig so zu sein, dass sie keine anderen Götter neben sich duldeten. Und dass sie sozusagen ein bisschen kleiner geworden wären, wenn sie die historische Leistung dieser Frau anerkannt und öffentlich gewürdigt hätten."

Mittlerweile wächst das Interesse an Elisabeth Schmitz, die so deutlich wie wenig andere sich schon 1935 gegen die Judenverfolgung gewandt hat. In ihrer Landeskirche, der von Kurhessen-Waldeck, sei sie mittlerweile ein Begriff, sagt der Kasseler Theologe Michael Dohrs:

"Mir ist nicht bange drum, dass Elisabeth Schmitz in Zukunft ihren Platz haben wird. Und mein Eindruck ist: Ins kollektive Gedächtnis der Landeskirche ist sie eingegangen."

Immerhin wird sie nun in dem kürzlich von Margot Käßmann herausgegebenen Band über den Christlichen Widerstand mit einem Kapitel gewürdigt, allerdings nur auf gerade einmal 14 von 479 Seiten.
Mehr zum Thema