Georg-Büchner-Preisträger Marcel Beyer

"Ich bin popkulturell sozialisiert"

Der Schriftsteller Marcel Beyer bei einer Autorenlesung in Koblenz (Archiv).
Der Roman "Flughunde" machte Marcel Beyer 1995 weithin bekannt. Zuletzt erschien von ihm der Gedichtband "Graphit". © picture alliance / dpa / Thomas Frey
Marcel Beyer im Gespräch mit Anke Schäfer und Christopher Ricke · 28.06.2016
Der Büchner-Preis? Frühestens in zehn Jahren hätte er wieder mit einer Auszeichnung gerechnet, bekennt Marcel Beyer. Im Gespräch erklärt er, warum für ihn der Klang der Sprache so wichtig ist - und dass er sich Georg Büchner verwandt fühlt.
Ob Lyrik oder Prosa: Marcel Beyer stellt sich beim Arbeiten immer vor, dass "der Leser eine Stimme" höre. Man sage ja auch metaphorisch: diese Figur hat eine Stimme. "Ich nehme diese Metapher ganz konkret", erklärt er. "Die Stimme und der Buchstabe haben fast ein magisches Verhältnis zueinander."
Doch woher kommt diese Neigung? "Ich glaube, diese Leidenschaft hat einfach damit zu tun, dass ich - Jahrgang 1965 - natürlich popkulturell sozialisiert bin." Er habe immer Musik und Radio gehört, Filme gesehen - "also viele Dinge, die auch in der Betrachtung von Literatur sehr lange ausgespart blieben. Diese selbstverständliche Medienwirklichkeit, in der man lebt, ist ja zum großen Teil auch eine akustische oder optische."

Gefühl der Verwandtschaft zu Büchner

Derzeit arbeitet Beyer nach eigenem Bekunden wieder an einem Libretto. Dass er nun den Georg-Büchner-Preis erhalte, habe ihn überrascht:
"Ich habe überhaupt nicht mit der Auszeichung gerechnet. Ich habe eher gedacht, jetzt muss ich erst mal wieder zehn Jahre ordentliche Arbeit abliefern - und dann gibt es vielleicht mal wieder einen Preis."
Zum Namensgeber spürt Beyer eine Verwandtschaft: Auch Büchner habe viel mit historischem Material gearbeitet, sei intensiver Zeitungsleser gewesen und habe Kriminalfälle aufgegriffen. "Sprache außerhalb von Literatur in Literatur zu verwandeln", sagt Beyer, sei etwas, was ihn selbst fasziniere und umtreibe.

Marcel Beyer und die Popkultur - In "Kompressor" fragt Max Oppel den Journalisten Tobias Lehmkuhl, welchen popkulturellen Bezug der Büchner-Preisträger hat.
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Das Interview mit Marcel Beyer zum Nachlesen:
Anke Schaefer: Es steht fest, wer den Büchner-Preis in diesem Jahr bekommt, das ist der Schriftsteller Marcel Beyer. Das hat die Jury der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt heute entschieden, und zur Begründung steht da … Christopher, magst du mal zitieren?
Christopher Ricke Selbstverständlich: Ob Gedicht oder Roman, ob zeitdiagnostischer Essay oder Opernlibretto, für Marcel Beyer ist Sprache immer auch Erkundung. Seine Texte sind kühn und zart, erkenntnisreich und unbestechlich.
Schaefer: Das klingt gut. Sein bekanntestes Buch, das ist der Roman "Flughunde", 1995 ist der rausgekommen, und darin erzählt er vom Zweiten Weltkrieg, von der Instrumentalisierung der Sprache durch die Propaganda und von Experimenten mit der Stimme.
Ricke: Es gibt viel Ruhm und Ehre, es gibt auch Geld, 50.000 Euro ist der Büchner-Preis wert, es ist die herausragende literarische Auszeichnung in Deutschland. Wir begrüßen jetzt den Preisträger persönlich, Marcel Beyer, guten Tag!
Marcel Beyer: Guten Tag!
Ricke: Erst mal ganz herzlichen Glückwunsch!
Beyer: Vielen Dank!
Ricke: Was trinken Sie gerade?
Beyer: Ehrlich gesagt Wasser und Kaffee. Ich bin seit sieben Uhr auf den Beinen und bin noch nicht weitergekommen.
Ricke: Ach, wissen Sie es schon seit sieben?
Beyer: Ich weiß es ehrlich gesagt schon seit Donnerstagvormittag.
Ricke: Oh, da haben Sie es geheim gehalten!
Schaefer: Da hatten Sie uns was voraus! Unser Kritiker in der "Lesart" hat heute gesagt: Endlich mal eine richtige Entscheidung! Hatten Sie selbst mit der Auszeichnung gerechnet?
Ricke: Also, ehrlich gesagt, ich weiß es schon seit Donnerstag.
Beyer: Nein, ich habe überhaupt nicht mit der Auszeichnung gerechnet, ich habe eher gedacht, jetzt muss ich erst mal wieder zehn Jahre ordentlich Arbeit abliefern und dann gibt es vielleicht mal wieder einen Preis.

"... was denn mit Sprache möglich ist, auch in übelster Weise"

Ricke: Sie steigen ja in Ihren Büchern auch in tiefe, dunkle Keller, in Abgründe der Geschichte, in Abgründe des 20. Jahrhunderts, Abgründe des Nationalsozialismus, so eben wie in dem vorhin schon angesprochenen "Flughunde", ein Roman über den Tod der Goebbels-Kinder. Warum hatten Sie denn das Gefühl, dass Sie sich genau mit diesem Thema so beschäftigen müssen?
Beyer: Na, die Zeit zwischen 1933 und 1945 war ja auch eine Zeit, in der die Schriftsteller ihr eigenes Tun und die deutsche Sprache wirklich verraten haben und sich in den Dienst gestellt haben. Und das war so eigentlich in der Nachfolge des Mauerfalls im November 89, da lief alles auf die deutsche Wiedervereinigung zu, so ein Moment, wo ich dachte, jetzt muss ich mal zurückschauen, muss mich damit auseinandersetzen oder will mich auseinandersetzen damit, was denn mit Sprache möglich ist, auch in übelster Weise. Und da ist eigentlich eine sprachpolitische Dimension vielleicht in meine Arbeit hineingekommen.
Schaefer: Sie sind ja tatsächlich jemand, der so die Sprache ganz genau nimmt. Sie sind ja auch Lyriker, Sie schreiben Libretti für Opern, Sie beschäftigen sich mit dem Klang der Sprache. Wie kommt es zu dieser Leidenschaft?
Beyer: Ich glaube, diese Leidenschaft hat einfach damit zu tun, dass ich – Jahrgang 65 – natürlich popkulturell sozialisiert bin. Also, ich habe immer Musik gehört, man hat immer Radio gehört, man hat Filme gesehen und so weiter und so fort, also viele Dinge, die auch in der Betrachtung von Literatur sehr, sehr lange ausgespart blieben. Und diese selbstverständliche Medienwirklichkeit, in der man lebt, ist ja zum großen Teil auch eine akustische oder optische. Und diese Erfahrung, diese Lebensselbstverständlichkeiten auch in Texte hineinzubringen oder da zu reflektieren, das ist glaube ich etwas, was in den 80er-Jahren ganz stark im deutschsprachigen Bereich dazugekommen ist.
Ricke: In den 80er-Jahren war ja der Träger der Sprache noch das Buch, heute ist sehr viel digitalisiert. Aber mit dem Jahrgang 65 können Sie mit Büchern noch umgehen, man hat Sie auch schon mal Wörterbuch-Junkie genannt!
Beyer: Ja, ich bin tatsächlich ein Wörterbuch-Junkie und könnte mir eigentlich nicht vorstellen, E-Books zu lesen. Allerdings, was Wörterbücher angeht, irgendwelche tollen historischen Dialektwörterbücher oder Wörterbücher der Gaunersprache und so was, da greift man natürlich heute schon auf die hervorragenden Online-Angebote zurück.
Schaefer: Wenn Sie Ihre Bücher schreiben, stellen Sie sich dann vor, wie der Leser sozusagen es hört, was da steht?
Beyer: Ja, ich habe immer die Vorstellung – und das ist ja für uns auch beim Leise-Lesen so –, ich habe immer die Vorstellung, dass der Leser eine Stimme hört. Wir sagen das ja auch so metaphorisch, das ist eine literarische Stimme oder diese Figur hat eine Stimme. Und ich nehme diese Metapher wirklich ganz konkret. Es ist auch tatsächlich so, dass man beim Leise-Lesen den Kehlkopf bewegt. Man formt also die Laute nach, die man da vom Papier abliest.
Ricke: Wenn man etwas lauter liest, könnte es aber schon ein Unterschied sein, was man liest, Lyrik oder Prosa!
Beyer: Ja, das ist auch ein Unterschied. Aber in beiden Bereichen ist für mich sozusagen die Vorlesefähigkeit meines Textes ganz wichtig. Es sind natürlich zwei unterschiedliche Lesevorgänge. Wenn man jetzt zu Hause sitzt und liest einen Roman von 400 Seiten, dann kann man zurückblättern, man kann auch mal ein bisschen vorspringen, wenn man sehen will, was passiert denn 100 Seiten weiter, lebt eine bestimmte Figur noch oder so. Beide Momente, die Stimme und der Buchstabe haben ja fast ein magisches Verhältnis zueinander. Und das lässt sich ja eigentlich fast durch die Jahrtausende zurückverfolgen.
Schaefer: Wann schreiben Sie denn Ihren nächsten Roman? Sie haben ja jetzt letztes Jahr, nein, 2014 war das, zum Beispiel den Gedichtband "Graphit" veröffentlicht, aber ein Roman ist schon länger nicht erschienen!

"Für einen Roman brauche ich fünf Jahre oder länger"

Beyer: Ja, ein Roman ist schon länger nicht erschienen, ich arbeite im Moment wieder an einem Libretto für eine Oper und erprobe manchmal in Essays oder Vorträgen so kleine Momente oder Geschichtenkerne, wo ich selber noch so abwarte, wird sich daraus einmal der Wunsch ergeben, einen Roman zu machen? Ich brauche ja immer lange für einen Roman, brauche ja fünf Jahre oder vielleicht länger, und das muss etwas sein, was mich auch so lange fesselt.
Ricke: Jetzt kriegen Sie ja den Georg-Büchner-Preis. Und wenn man sich Georg Büchner mal vorstellt, ist das jemand, in dessen Schatten Sie gerne stehen? Oder ist das jemand, …
Schaefer: … in dessen Glanz Sie stehen wahrscheinlich eher!
Beyer: Beides, sowohl im Schatten wie im Glanze Georg Büchners stehe ich gerne. Ich spüre da schon eine Verwandtschaft oder eine Ähnlichkeit, wenn Sie denken, dass Georg Büchner viel mit historischem Material gearbeitet hat, dass Georg Büchner auf eine Weise intensiver Zeitungsleser war, dass er Kriminalfälle aufgegriffen hat und immer versucht hat, sagen wir, die Sprache, die außerhalb der Literatur ist, in Literatur zu verwandeln, also immer ein Sensorium zu haben dafür, wie Sprache außerhalb der Literatur verwendet wird. Das ist etwas, was mich sehr fasziniert und selber auch umtreibt.
Schaefer: Der Büchner-Preis 2016 geht an Marcel Beyer, die Verleihung ist am 5. November in Darmstadt.
Ricke: Vielen Dank, Herr Beyer!
Schaefer: Danke Ihnen sehr!
Beyer: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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