Genie und Wahnsinn

19.07.2013
Über die Band The Doors wurde schon alles geschrieben, denkt man. Der amerikanische Publizist Greil Marcus traut sich trotzdem noch einmal an die skandalträchtige Band um ihren Sänger Jim Morrison heran. Wobei Greil weniger die allseits bekannten biografischen Fakten interessieren als vielmehr die "pure" Musik und deren Rezeption.
Der 1945 geborene US-amerikanische Publizist Greil Marcus veröffentlicht seit den 1960er Jahren Texte, die sich kulturkritisch mit Phänomenen vor allem der Popkultur auseinander setzen. Das Schwergewicht seines Interesses liegt dabei auf der Pop/Rockmusik, deren Entwicklung er hautnah verfolgen konnte, und die er bis heute begleitet. Bücher wie "Mystery Train: der Traum von Amerika in Liedern der Rockmusik" (1975) oder "Lipstick Traces: von Dada bis Punk - kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert" (1989) gelten als Standardwerke, nicht zuletzt aufgrund von Marcus‘ Ansatz, musikalische Phänomene in größere Zusammenhänge zu setzen.

Diese Arbeitsmethode, basierend auf umfassenden Kenntnissen, hat ihm den Ruf eines "Kritiker-Papstes" eingebracht. Allerdings sind nicht alle Menschen katholisch, auch ein Kritiker-Papst hat Kritiker. Manch einem stößt der intellektuelle, oft auch nur intellektualisierende Stil und der Hang zu teilweise sehr steilen Thesen auf. Wissen und Kompetenz spricht niemand ab.

In seinem neusten Werk beschäftigt sich Marcus mit The Doors, der legendären Band um den 1971 verstorben Jim Morrison, die in den fünf Jahren ihres Wirkens ein Oeuvre von beeindruckend nachhaltiger Wirkung entstehen ließ. Wobei ihn weniger die allseits bekannten biografischen Fakten interessieren als vielmehr die "pure" Musik bzw. deren Rezeption. Vor allem Reflexionen zur Wechselwirkung zwischen Doors-Musik und Zeitläufen stehen im Fokus der Essays.

Genie und Wahnsinn, Höhenflug und Absturz
Assoziativ stellt Marcus Zusammenhänge her zwischen einzelnen Songs und sozialen Phänomen (Protest und Gegenkultur der Sechziger Jahre) oder etwa Filmen (u.a. Oliver Stones "The Doors"), wobei er meist nicht die von Alben bekannten Fassungen der Stücke zugrunde legt, sondern obskure Live-Versionen. Das ermöglicht Marcus, in seine Interpretationen nicht nur die "nackten" Texte der Songs zu analysieren, sondern vor allem auch den Vortrag – die B-Note, sozusagen.

The Doors, vor allem das Wirken ihres Sängers Jim Morrison, wurden seit eh und je ambivalent rezipiert. Hingebungsvolle Begeisterung ob schamanistischer Qualitäten, kopfschüttelndes Unverständnis über platte Möchtegern-Lyrik – der Grat zwischen Genie und Wahnsinn, Höhenflug und Absturz, war bei ihnen – bei Morrison besonders schmal. Auch Greil Marcus zeigt sich nachhaltig fasziniert vom Charisma der Band – der Untertitel der amerikanischen Originalausgabe von The Doors lautet A Lifetime of Listening to Five Mean Years; gleichzeitig ist er bemüht, kritische Distanz zu wahren.

Ein Drahtseilakt, der nur teilweise gelingt. Seine assoziativen Gedankengänge eröffnen manch neuen und überraschenden Einblick; allerdings vermögen sie die Perspektive eines Lesers, der selbst längst vertraut ist mit der Band und ihrem Oeuvre – und für ein solches Publikum ist "The Doors" offenbar gedacht – nicht wirklich zu erweitern. Insofern die Wertung: Ein Kann. Kein Muss.


Besprochen von Helmut Heimann

Greil Marcus: The Doors
KiWi-Paperback 2013
256 Seiten, 9,99 Euro
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