Gemeindefusion in Düsseldorf

Kirche ohne Bänke

29:41 Minuten
Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne faerben die Wolken, die hinter dem Turm der Evangelischen Thomaskirche am Himmel stehen, rosa.
Die Thomaskirche in Düsseldorf: Sie wird im Rahmen der Gemeindefusion geschlossen und entwidmet. © picture alliance / Horst Ossinger
Von Elin Hinrichsen  · 03.05.2020
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Im Düsseldorfer Norden fusionieren drei evangelische Gemeinden. Ein unvermeidbarer Prozess, der Tränen, Trauer und auch sehr viel Freude mit sich bringt. Eine wichtige Rolle dabei spielen die alten Kirchenbänke.
Es soll ein produktiver Tag werden für die Fusion der drei Gemeinden, und der liebe Gott spielt offenbar mit: Er schickt Sonnenstrahlen in den Kirchenraum und der Pfarrer hat Kaffee gekocht, gleich mehrere Kannen. Nur die Herren von der Spedition sind nicht so sonnig drauf an diesem Morgen, die haben einen harten Tag vor sich und möchten lieber gleich anfangen. Schon haben sie die ersten Rollwagen unter die erstbesten Kirchenbänke geschoben. Der Pfarrer hat eine andere Idee. Er hat sich viele Wochen lang Gedanken gemacht über die Logistik dieses Tages.
Der Entschluss, die drei Düsseldorfer Gemeinden Matthäi, Thomas und Christus zu einer großen Gemeinde für insgesamt vier Stadtteile zusammenzulegen, ist Ende 2016 gefallen. Und jetzt wird es ernst. Am nächsten Sonntag startet eine Projektphase. Acht Wochen lang erspüren und gestalten, was die Fusion für die Menschen bedeutet.

Alle Bänke müssen raus

Klaus und die anderen Möbelpacker machen sich an die Arbeit. Ihr Job: Alle Kirchenbänke aus der riesigen Matthäi-Kirche rausräumen und in die Christus- und Thomaskirche reinräumen. Ein Knochenjob.
Die Thomaskirche wird geschlossen und entwidmet, die Christuskirche zu zwei Dritteln an die Jugendkirche Düsseldorf verpachtet, und nur in Matthäi werden künftig noch Gottesdienste der Gemeinde stattfinden. Pfarrer Lars Schütt ist Planer und Moderator der Fusion.
Eine Kirchenbank wird in einen Umzugswagen verladen.
Eine Kirchenbank wird in einen Umzugswagen verladen.© Elin Hinrichsen
"Das Problem, ähnlich wie wenn man gemeinsam in eine Wohnung zusammenzieht und wenn dann alle Möbel von einer Person so bleiben, wie sie sind, dann ist es für die andere Person schwierig, dann fremdelt man und fühlt sich als Gast. Dann dachten wir, wir sollten was tun als Gemeinde, um allen, also auch denen, die sich die Kirche neu aneignen müssen oder wollen, dass die auch die Gelegenheit bekommen. Dass man sie gemeinsam neu entdeckt."
Dafür muss man auch mal drastisch was verändern, vorübergehend, sagt er noch. Da rollen die Möbelpacker längst die ersten vier Bänke aus der Kirche.

Drei Jahre Infoveranstaltungen

"Es gibt schon Tränen, die Menschen müssen ja auch auf etwas verzichten und sich auf neue Dinge einstellen, man hat schon Sorge, man spürt das sowohl in Christus als auch in Thomas: was wird werden, wenn wir jetzt alle in die Matthäi-Kirche sollen, was wird aus unserer Kirche, aus unseren Traditionen, aus unseren Ritualen? Das wird jetzt alles anders werden, das ist schon eine emotionale Angelegenheit."
Der Pfarrer nickt. Drei Jahre Infoveranstaltungen und Gemeindeversammlungen in allen drei Kirchen liegen hinter ihm und dem Team. Und jede Menge Überlegungen dazu, welches Gebäude überhaupt wie weitergenutzt wird und welches nicht.
Thomaskirche, ein paar Straßenzüge weiter, in einem beschaulichen Wohnviertel in Düsseldorf. Eine Abordnung der örtlichen Grundschule besichtigt den Kirchenraum: die Bestuhlung, die Lichtanlage, den Altarraum mit der fahrbaren Orgel und dem Lesepult. In ein paar Tagen soll hier eine Schulaufführung stattfinden, der krönende Abschluss einer Woche Trommelworkshop mit einem externen Künstler. Es war Zufall, dass die Schule die Thomas-Kirche als Location entdeckt hat und anmieten konnte.
Oberhalb des Altarraumes ist so eine Art Regieraum mit moderner Technik eingerichtet. Die Thomaskirche war in den 70er-Jahren bekannt für ihre Beat-Messen: viel Rhythmus, viel Bewegung, viel Mittun der Gottesdienstbesucher. Damals war das Kult. Heute ist so viel Action hier Geschichte.

Erfolglose Suche nach einem Investor

"In den Gottesdienst kommen, je nach dem, wer predigt, vielleicht 15, an Weihnachten kommen natürlich auch mal 600 Leute, aber man kann eine Kirche, die 60.000 Euro Instandhaltungskosten frisst, nicht für einmal Weihnachten aufrecht erhalten."
Alle nicken, ist ja klar. Pfarrerin Judith Uhrmeister kommt in Fahrt. Sie gehört mit zum Projektteam. Sie hätten alles versucht, die Thomaskirche zu retten, erzählt sie, aber es geht einfach nicht. Die Gemeinde wird dieses Gebäude entwidmen und veräußern.
Ohne Sitzbänke ist am 19.02.2015 in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) die evangelische Christuskirche.
Die Christuskirche war bereits 2015 schon mal ganz ohne Bänke - auf Anregung von Pfarrerin Sabine Reinhold während der Passionszeit.© dpa / Horst Ossinger
Sie haben lange Jahre nach einem passenden Investor gesucht, mit sozialem Hintergrund für Betreutes Wohnen oder ähnliches. Vielleicht kommt er ja auch noch, dieser Messias. Aber für den Moment wollen sie nicht länger auf ihn warten, erzählt die Pfarrerin. Sie wollen Gemeinde aufbauen und gestalten. Und dazu gehört die Einigung auf einen zentralen Gottesdienstort.
"Um mehr Kapazitäten zu haben, auch neue Sachen zu probieren, beispielsweise. Und deswegen haben wir ausgeräumt, weil da die Kirchenbänke festgeschraubt sind und man gar nichts bewegen kann."
Schon die kurzen Bänke sind acht Meter lang. Die langen aber musste ein Tischler aufwendig umarbeiten, damit man sie überhaupt auseinandernehmen und transportieren kann. Fast ein Drittel der Gelder, die der Kirchenvorstand für das ganze Projekt bereitgestellt hat, fließt in den Umbau und Transport der Kirchenbänke. Nun müssen sie nur noch ohne Kratzer bleiben. Denn vielleicht kommen die heiligen Bänke nach Projektende ja wieder zurück in die Matthäikirche.

Pilgerort für Architekturstudenten

Unter der Empore links ist richtig viel Platz jetzt und das Sonnenlicht aus den bunten Glasfenstern kann viel weiter in den Kirchenraum hineinstrahlen.
"Ich finde, es ist einer der schönsten Arbeitsplätze, die man als Kantor haben kann."
Der Kantor strahlt mit dem Licht um die Wette. Die Sonne wandert im Laufe des Sonntag-Gottesdienstes durch die Kirche. Am Ende der Predigt streichelt sie das schlanke, schlichte Kreuz, erzählt Karlfried Haas weiter. Matthäi ist Baujahr 1930 und steht unter Denkmalschutz .
"Es atmet sehr Bauhaus, und ist deshalb auch architektonisch eine Besonderheit. Es kommen immer wieder Architekturstudenten mit ihren Professoren hierher und gucken sich das an."
Sagt der bekennende Matthäi-Fan. Er hat es gut, braucht sich von seiner Kirche nicht zu trennen. Die anderen hingegen müssen den Weg hierhier finden und hier erst noch heimisch werden.
"Es geht nicht um die Frage, Bänke oder Stühle, oder in welche Richtung guckt man. Das ist ja die äußere Form, sondern wir hoffen, im Laufe dieser acht Wochen immer wieder gemeinsam an so wesentliche Fragen dranzukommen. Die Frage, wofür feiern wir eigentlich Gottesdienst. Wir merken, dass es sehr oft sehr schnell um die Frage geht, wie feiern wir Gottesdienst, wie kann es moderner sein und so, aber zu wenig intensiv darüber nachgedacht wird, wofür machen wir das eigentlich, so dieses Innere, also "form follows function" ist da ja auch wichtig. Das ist die Hoffnung, dass wir da gemeinsam ganz oft drankommen, mit sehr vielen Menschen gemeinsam drüber nachdenken und eine Idee dafür entwickeln, was wir hier zukünftig für eine Gottesdienst-Gemeinschaft sein möchten."

Offen für Ideen von außen

Sieben Wochen ohne Kirchenbänke planen sie und eine achte Woche zusätzlich. Außerdem wird die Kirche jeden Tag geöffnet sein für Kaffee, Diskussionen und zündende Ideen. An der einzigen Kirchensäule wird das Team einen Infotisch einrichten, die "Open-Space-Ecke". Open Space ist eine Methode, die aus der Wirtschaft kommt. Die besten Diskussionen entwickeln sich in der Kaffeepause, das hat man bei Konferenzen immer wieder beobachtet, und beim Kaffee zwischendurch kommen auch alle Themen auf den Tisch, ganz von allein. In ein paar Tagen also soll es à la Open-Space dann auch in der offenen Kirche hoch hergehen. Tanzen könnte man hier jetzt schon - und überall im Raum verteilt um die Gemeinde herum mit dem Chor singen, so fällt es dem Kantor gerade ein. Auch Pfarrer Schütt hat eine Menge Ideen, wie er den Eröffnungsgottesdienst in ein paar Tagen gestalten will. Es soll richtig gut werden:
"Ich freu mich, ich freue mich auf die Zeit, ich freue mich auf den Effekt. Das löst was aus."
Zwei Menschen stehen vor einem großen Kochtopf und lächeln in die Kamera.
Helmy Steppen und ihr Mann leiten jeden Mittwoch die Essensausgabe in der Thomaskirche.© Elin Hinrichsen
Mittwochs gibt es Essen für alle. Im Gemeindezentrum der Thomaskirche, direkt unter dem Kirchturm, im Untergeschoss. Blumentöpfchen in Herzform stehen mittig auf der langen Tafel, Teelichter in Gläschen mit karierter Schleife und dazwischen frische Efeuranken. Frühlingsambiente beim "Mittagessen für Senioren". So nennt sich diese wöchenliche Veranstaltung, die abwechselnd von der Diakonie – evangelisch – und der Caritas – also katholisch – angeboten wird.

Eintopf mit Nachschlag-Garantie

Heute sind ungefähr 30 ältere Damen und Herren zum Essen und Klönen hergekommen.
"Alt werden ist nichts für Feiglinge. Mein Mann ist vor drei Jahren gestorben, wir waren 64 Jahre verheiratet - und immer verliebt in den eigenen Mann."
Die alte Dame sitzt ganz aufrecht auf ihrem Stuhl, und dass sie fast blind ist, lässt sie sich nicht anmerken. Sie ist 92 Jahre alt.
Erbseneintopf mit Eisbein, auf Wunsch auch vegetarisch, und mit Nachschlag-Garantie: Die Steppens haben so viel gekocht, dass es garantiert für alle reicht. Auch für Frau Lindenbaum. Die meisten hier sind alleinstehend.
"Seitdem mein Mann tot ist, koche ich nicht mehr. Ich gehe jeden Tag essen und hierher komme ich wegen der Gesellschaft."
Sie hat sich schick gemacht, wie viele andere auch. Mal rauskommen, klönen und einfach was vorhaben – das tut gut und wer will, der kann sogar noch eine Portion Eintopf mit nach Hause nehmen.
Jürgen Herzer lässt sich gerade noch ein mitgebrachtes Joghurttöpfchen aus dem riesigen Kessel abfüllen. Er trägt sein Mittagessen für morgen an den Kopf der langen Tafel zurück. Sein Sitzplatz neben seiner Frau. Es ist eine eingeschworene Gesellschaft hier, die sich am guten Essen und an der Gemeinschaft wärmt. Wie lange wird es das noch geben?
"Ich hoffe, dass es weitergeht, denn es wird ja nur die Kirche entwidmet."
Jürgen Herzer ist gut informiert. Er organisiert seit vielen Jahren die Verteilung des Gemeindeblattes im Stadtteil Mörsenbroich. Diese Etage hier, unterhalb der Kirche, mit dem Speisesaal und dem öffentlichen Café, der KiTa und dem Jugendtreff, erzählen seine Frau und er, soll weiterhin für die Gemeinde nutzbar bleiben. Das sind zumindest die Auflagen, die der Kirchenvorstand für den Verkauf der Thomaskirche gemacht hatte.
"Bis die Kirche vielleicht mal ganz abgerissen wird, wir wissen das ja nicht, wenn die verkauft wird. Das hat die Kirche dann ja nicht mehr in der Hand."

"Die Kirche war meine Heimat"

Ein geeigneter Käufer oder Nachnutzer für die Kirche zu diesen Konditionen ist bisher nicht in Sicht. Wenn es schlecht läuft, verlieren sie nicht nur ihre Kirche, sondern auch den Ort für ihre Gemeinschaft. Und das Mittagessen.
"Das ist unsere Heimat. Seit 1971 wohnen wir hier und gehen hier zum Gottesdienst, und viele sind hier konfirmiert und getauft und haben sich hier trauen lassen."
"Für mich war die Thomaskirche immer meine Heimat. Und jetzt ist meine Heimat verloren gegangen, also das ist nicht schön."
Zeit zum Abräumen, Helmy Steppen, die Köchin, und ihr Mann schenken Kaffee aus, zum Nachtisch gibt es Rote Grütze mit Vanillesoße. In der Küche haben die beiden anderen Helferinnen schon mit dem Aufräumen begonnen. Auch sie machen sich so ihre Gedanken über die Zusammenlegung der Gemeinden: Es sei doch Schwachsinn, sagt die eine.
Aber Thomas wird entwidmet und Christus verpachtet. Für Gottesdienste bleibt dann nur noch Matthäi, die Kirche in der Mitte. Die Sieben-Wochen-ohne-Aktion ist eine Art Probelauf für alle.

Odyssee mit dem Kirchentaxi

Es ist Sonntag, noch eine Stunde bis zum Eröffnungsgottesdienst. Am Eingangsportal der Matthäi-Kirche ist das Banner der Sieben-Wochen-ohne-Aktion befestigt, es ist klar und schlicht, in himmelblau-weiß. "Emmaus bewegt sich". Den Slogan hat das Planungsteam entwickelt.
Die Herzers sind neugierig. Edeltraud kämpft sich mit ihren Krücken die vier Kirchenstufen hinauf und Jürgen Herzer macht ihr Mut. Sie sind mit dem Kirchentaxi gekommen, eine kleine Odyssee. Pfarrer Schütt begrüßt seine frühen Gottesdienstbesucher. Und Edeltraut Herzer kommt direkt ins Gespräch mit Martin aus dem Willkommensteam.
Möbelpacker sind in der riesigen Kirche beim Bänkeschleppen zu sehen. Über ihnen thront die Orgel.
Die Matthäikirche wird als einzige bleiben.© Elin Hinrichsen
Keine Kirchenbänke. Edeltraut Herzer kann sich kaum satt sehen. Nett gedeckte Kaffeetische zur Linken. Himmelblau-weiße Papphocker und natürlich Stühle in der Mitte. Im Halbkreis angeordnet. Die alte Dame wirkt auf einmal müde und ein wenig überwältigt.
"Jetzt weiß ich nicht, wo ich hingehöre und das ist schade. Denn ich gehöre eigentlich immer in die Kirche. Sie gibt mir Halt und Freude und Stütze."
Ob sie auch hier gut ankommen wird?
An den drei Eingängen bekommt das Willkommensteam richtig zu tun, erkennbar an den himmelblauen, runden Namensschildern am Revers. Martin ist von Beruf Hotelier und außerdem ehrenamtlich im Kirchenvorstand. Die kommenden sieben Sonntage will er hier Dienst machen und weitere Kommentare sammeln.

Fürbitten für die Fusion

Kirche ohne Kirchenbänke – das wollen die Leute erleben. Ob die Gemeinde das beibehalten wird mit den Stühlen, wird sich noch zeigen müssen. Schon sind alle Plätze belegt, und mehr Sitzgelegenheiten müssen her. Fleißige Helfer holen weitere Stühle aus einem Nebenraum. Wenig später sind drei weitere Stuhlreihen angebaut. Sie reichen jetzt fast ran an die Kaffeelounge unter der Empore. An den Vierertischen hocken Konfirmanden, auf einem der himmelblauen Sofas stillt eine Mutter ihr Neugeborenes. Kirche mal ganz anders.
Ein paar Kinder spielen Fangen im Kirchenraum, andere verlegen Eisenbahnschienen aus Holz auf dem Spielteppich vor den Sofas. Ein buntes Gewusel, das nur der Kantor bändigen kann.
Pfarrer Schütt wird gleich während der Predigt frei im Raum umhergehen. Er hat sich auch so einen himmelblauen Willkommensbutton an sein blaues Sweatshirt gepappt und trägt jugendliche Straßenkleidung statt des üblichen schwarzen Talars. Seine Predigt erzählt von Aufbruch und neuen Wegen und sie endet mitten im Raum, in dem freiem Raum zwischen den Halbkreisen. Hier dürfen dann auch Gottesdienstbesucher hereintreten und Fürbitten halten. Viele bitten Gott darum, dass Gutes aus diesem Projekt erwachsen möge.
Es sind besondere Augenblicke, auch, als der Kantor zu singen beginnt, im Wechsel mit der Gemeinde – und er ebenfalls verschiedene Positionen im Raum einnimmt.
So einen Gottesdienst haben die Gläubigen in der Matthäi-Kirche noch nie erlebt.
"Ich fand es großartig, dass man endlich mal die anderen Gemeindemitglieder sieht, statt immer nur den Rücken. Inhaltlich fand ich die Predigt hervorragend, die Lieder großartig, ich habe selten so einen tollen Gottesdienst erlebt."
"Es ist ein anderes Gefühl, sonst kommt man rein, setzt sich in irgendeine Kirchenbank, sieht die anderen Menschen von hinten und hat nur so Kontakt mit dem Pfarrer, aber jetzt, durch dieses Halbrund hier, das ist so ein anderes Gefühl von Gemeinschaft - ich hab schon wieder Gänsehaut, wenn ich das erzähle, ich musste mir auch zwischendurch mal ein Tränchen verdrücken - das ist so ein anderes Gefühl irgendwie, in Kontakt zu kommen mit den anderen Gemeindemitgliedern, großartig, dann schien immer die Sonne hier so rein, ich bin richtig erfüllt heute Morgen von diesem Erlebnis."

Ehepaar Herzer will wiederkommen

"Die Kirche hat einen anderen Eindruck gemacht und neben mir saß eine junge Frau, die sagte "aber es sind ja so viele Leute hier", aber es ist ja klar, wenn aus drei Gemeinden sagen wir mal je zwanzig kommen, die sonst eine Kirche so leer aussehen lassen und heute sitzen hier sechzig, achtzig, das ist einfach viel besser."
"Nee, es sind hundertzwanzig, ich hab mal gezählt."
"Es war wirklich so viel Bewegung in diesem Gottesdienst, das finde ich eben so toll, weil sonst mit den Kirchenbänken wirkt das hier immer so steif, das hat richtig Dynamik bekommen."
Die vier suchen sich einen Platz an einem der Tische, Kaffee trinken und Kuchen essen. Am Infotresen, der Open-Space-Ecke, werden fleißig Fragebögen studiert und mitgenommen. Und jetzt tauchen auch die Herzers aus der Tiefe des Raumes wieder auf.
"Ein wunderschöner Gottesdienst, ganz toll gemacht. Sie: muss ich auch sagen, ich bin angenehm überrascht."
Beim Rausgehen schütteln sie Pfarrer Schütt noch die Hand. Sie wollen wiederkommen. Was für ein Auftakt!

Die fusionierte Gemeinde ist riesig

Pfarrerin Uhrmeister ist auf dem Sprung. Es ist ein paar Tage später. Auf dem Sprung sein ist hier Teil des Pfarr-Berufes. Die fusionierte Gemeinde ist riesig geworden; sie erstreckt sich über den gesamten nördlichen Innenstadtring von Düsseldorf, das sind insgesamt vier Stadtteile. Das heißt, vom Südfriedhof, wo sie heute Morgen eine Bestattung geleitet hat, bis hier ins Pastorat an der Thomaskirche, wo sie mit Mann und Kindern wohnt, sind es locker mal 30, 40 Minuten pro Weg.
"Aber ich genieße das auch total, weil ich auf den Wegen die besten Ideen habe und ja, am meisten Leben auch mitkriege, Bahnfahren, an der Haltestelle stehen und so. Da kriegt man mit, was in der Umgebung so los ist, was die Menschen da bewegt."
Es ist eine bunte Gemeinde: Von arm bis reich ist alles dabei, und auch ein bisschen Multi-Kulti. Uhrmeister hat sich diese Gemeinde mit Bedacht ausgesucht, es ist ihre erste Stelle als ordinierte Pfarrerin. Eine traditionelle Gemeinde, sagt sie, wäre nicht ihr Ding gewesen. Sie steht für den Aufbruch, für neue Formen der Kirche, da ist sie hier genau richtig, wo sie im Team mit sechs Pfarrerinnen und Pfarrern jeden Tag neue Strukturen entwickeln und ausgestalten kann und auch muss.
"Was emotional anstrengend ist, ist mit den ganzen Verlustängsten, der Aggression, der Wut umzugehen, was natürlich kommt, weil wir Kirchen schließen müssen und weil die Leute völlig zu recht traurig sind und wütend und natürlich in so einer großen Gemeinde die Kommunikation immer ein Thema ist."

Offene Kirche zu dritt

Wie erklärt man treuen, traditionellen Kirchgängern, dass sich was ändern muss? Dass Kirchengebäude mehr Geld kosten, als an Kirchensteuern je wieder hereinkommt – weil die Menschen reihenweise aus der Kirche austreten oder wegsterben? Judith Uhrmeister beschäftigen diese Dinge schon seit dem Studium. Was kann Kirche bewirken? Und was hat der liebe Gott überhaupt den Menschen noch zu bieten in unserer Zeit?
"Für mich ist die Übersetzung von Gott eigentlich Leben. Für mich ist nicht so wichtig, wer Gott ist, sondern wie er wirkt. Und da sehe ich schon viel, viel, viel Wirken von Gott in der Stadt, was zwischen den Menschen passiert. Allein, dass wir jetzt hier Bewegung reinkriegen in eine krisengebeutelte Situation eigentlich, ich glaube nicht, dass wir das alles allein machen können, ich glaube schon, dass da ein Geist wirkt, der Leben bringt, so blöd sich das anhört. Und ich würde es auch nicht machen, wenn ich nicht eine Wirkung sehen würde."
Sie ist auf dem Weg zur Kirche. Matthäi hat in diesen "sieben Wochen Emmaus bewegt sich" jeden Tag verlässlich ab 15 Uhr geöffnet. Uhrmeister ist heute Nachmittag eingeteilt zum "Open-Space-Dienst"; also: einfach nur da sein im Kirchenraum, ansprechbar und gesprächsbereit.
Die beiden anderen sind auch schon da: eine Presbyterin, eine Ehrenamtlerin. Offene Kirche zu dritt, mit wechselnden Pfarrern und Freiwilligen – so hat es sich das Projektteam ausgedacht. Mitten im Raum sind zwanzig Stühle aufgestellt, dieses Mal im Kreis. Am Abend wird eine Andacht hier stattfinden, als Teil der besonderen Aktion.
Auf der Empore versucht der Kantor, sich auf die veränderte Akustik einzulassen. Ihm fehlen jetzt doch die Kirchenbänke, sie haben mit ihrem Holz und den Kissen viel Hall geschluckt.

Getauft wird mittendrin

Gäste kommen bis 18 Uhr überhaupt keine. Aber in den wechselnden Konstellationen können sie sich auch so über Gott, den Glauben und vor allem ihre Vorstellungen von Gemeinde unterhalten. Es geht bei "Emmaus bewegt sich" nicht darum, neue Schäfchen für die Kirche zu gewinnen, sondern die bisherigen Schäfchen aus allen drei Gemeinden in einer neuen Herde zu vereinen. Und dabei auch die alten, treuen Schäfchen im Blick zu behalten.
Es ist Sonntag. Der zweite Projektsonntag. Wieder scheint die Sonne. Und wieder trägt Martin, der gelernte Hotelier, seinen blauen Button am Revers. Dieses Mal verteilt er Gesangbücher und das Gottesdienstblatt am Eingang. Willkommenskultur heute ganz klassisch. Die Stühle sind heute in einem großen, flachen U angeordnet. Sodass alle von ihrem Platz aus den Altar sehen können. Pfarrerin Elisabeth Schwab muss sich ihre Erfahrungswerte im neuen Raum erst noch erarbeiten. Es ist ihr erster Sonntag in der leergeräumten Kirche.
Sie trägt Beffchen und Talar, auch das ganz klassisch. Das Taufbecken aber, in dem sie nachher zwei Kinder taufen wird, das hat sie vorne vom Altar wegtragen und mitten ins U hineinstellen lassen. So können es alle hautnah miterleben: Hier kommen zwei neue in die Gemeinde hinein.
"Wir bewegen uns und manche denken, es ist der Boden unter uns, der sich bewegt. Wir werden eine Kirche schließen, wir werden eine andere Kirche nicht mehr nutzen, wir dürfen traurig sein, lassen wir uns einander helfen durchzuhalten, Shalom zu leben."

215 Besucher am zweiten Sonntag

In ihrer Predigt geht auch Pfarrerin Schwab – wie letzte Woche Lars Schütt – auf die Fusion der Gemeinden ein: Durchhalten sei wichtig, offen bleiben, aufeinander zugehen.
215 Gottesdienstbesucher und -besucherinnen: das Willkommensteam hat mitgezählt. Für die nächste Woche sind wieder viele Aktionen in der offenen Kirche geplant. Jam-Sessions, Rennautos flitzen lassen, Weltgebetstag-Andacht. Pfarrerin Uhrmeister nimmt ihren Sohn auf den Arm und schaut auf das bunte Treiben. Was ist ihr Wunsch für die zusammenwachsende Emmaus-Gemeinde?
"Ich wünsche mir, dass wir die große Vielfalt und die Andersartigkeit, die da ist, nicht gegeneinander verwenden, sondern es irgendwie schaffen, uns irgendwie so zu lassen, wie wir sind und trotzdem einen gemeinsamen Kern zu finden."
Die Herzers aus der Thomaskirche waren heute nicht im Gottesdienst. Vielleicht kommen sie nächste Woche wieder.