Geliebt und verwünscht

Das Harmonium und der indische Hinduismus

Inder mit Harmonium in Rajasthan.
Alles andere als unumstritten; das Harmonium, hier gespielt von einem Mann im indischen Rajasthan. © imago stock&people
Von Ralf Bei der Kellen · 29.10.2017
Manch ein Europäer mag denken, das Harmonium sei ein für den Hinduismus typisches Musikinstrument. Das hat mit der hierzulande recht bekannten Hare-Krishna-Bewegung zu tun. Dabei gibt es kaum ein Instrument, das in Indien umstrittener war als das Harmonium.
Berlin, Reinickendorf. Im mit Blumen geschmückten Andachtsraum der Hindu-Gemeinde Berlin sitzt Olaf Thaler. Der 56-Jährige ist Vorsitzender des Vereins Hindu Gemeinde e.V. Der weltliche Vorsitzende, betont der Mann, dessen spiritueller Name "Haladhara" ist.
Olaf Thaler spielt auf einem Harmonium. Allerdings sitzt er nicht auf einem Stuhl und betreibt den Blasebalg mit den Füßen, wie man es hierzulande früher in kleineren Kirchengemeinden tat. Er spielt auf einem indischen Harmonium.
"Das spielt man am Boden sitzend, und klick, der Blasebalg, den spielt man mit einer Hand – wir sehen, wir können den auf zwei Seiten öffnen, ob Links- oder Rechtshänder, das ist jetzt egal."
So wie in vielen Teilen der Welt die christliche Kirche mit der Orgel in Verbindung gebracht wird, so assoziieren die meisten Menschen in Europa den hinduistischen Glauben in erste Linie mit dem indischen Harmonium. Schuld daran ist nicht zuletzt die Hare-Krishna-Bewegung. Ende der 1960er Jahre kam sie im Gefolge der Hippie-Bewegung nach Europa. Beatles-Gitarrist George brachte die Londoner Hare Krishna-Dependance sogar in die Hitparaden.
In der Folge sah man auch hierzulande immer häufiger kleine Gruppen von kahlgeschorenen Männern und Frauen in Fußgängerzonen und auf Plätzen das Hare-Krishna-Mantra singen. Musikalisch begleitet wurden sie dabei oft von einem Harmonium.
Doch kaum ein Instrument war in Indien umstrittener als dieses.
"Das Harmonium, jener Fluch der indischen Musik, war damals noch nicht in Mode."
Schrieb 1921 der indische Dichter Rabindranath Tagore in Rückblick auf die Vorkoloniale Zeit. Tagore, der auch die indische Nationalhymne komponierte, war ein großer Bewunderer westlicher klassischer Musik. Er stellte aber auch klar, dass diese mit der klassischen Musik seines Heimatkontinents nicht kompatibel war:
"Sie leben in zwei völlig verschiedenen Wohnungen und betreten das Herz des Hörers nicht durch dieselbe Tür."

Harmonium nicht in der Lage, Mikrotöne zu erzeugen

Um diese Ablehnung zu verstehen, muss man in die Geschichte gehen: Als die Briten sich im 18. Jahrhundert als neue Hausherren in Indien einrichteten, brachten sie Spinette und Orgeln mit – denen entweder der lange Transport oder anschließend das indische Klima den Garaus machten. Das 1842 von dem Franzosen Alexandre Debai patentierte Harmonium war da robuster – und außerdem transportabel, weshalb es gerne von Missionaren eingesetzt wurde. 1875 baute dann ein Instrumentenbauer in Kalkutta eine Version ohne Unterteil, da man in der klassischen Musik Nordindiens ohnehin auf dem Boden sitzend musiziert. Und da die Melodien im Gegensatz zu europäischer Musik nicht in komplexe Harmonien eingebunden sind, konnte man mit eine Hand spielen, während die andere pumpte.
"… und die eine Hand, die betätigt den Blasebalg… und die andere, die macht die Töne…"
Bereits 1913 hatte sich Indien zum führenden Markt für das Harmonium entwickelt. Es wurde bei Gottesdiensten, von Missionaren, bei hinduistischen Feiern, aber auch zur Begleitung von musikalischen Dramen und von klassischem indischem Gesang eingesetzt.
Und das war vielen Fürsprechern der Indischen Unabhängigkeitsbewegung – und zwar Indern wie Briten – ein Dorn im Auge. Ihre Kritik: das Harmonium sei nicht in der Lage, die Mikrotöne zu erzeugen, die man auf Instrumenten wie der Sitar oder der Sarod spielen könne. Es sei eben europäisch und würde die indische Musik ihrer Eigenheit berauben.
"Das Harmonium ist eine ernsthafte Bedrohung der indischen Musik!"
Schrieb 1914 der britische Musikologe Arthur Henry Fox-Strangways.
"Es ist bereits bis in die letzten Ecken des Landes vorgedrungen: Es dominiert das Theater, es macht die häusliche Musikpraxis trostlos – nicht lange, und es wird auch die Tempel entweihen. Wenn das nicht bereits geschehen ist."

Lauter als die traditionellen indischen Instrumente

1940 verbannte All-India Radio, der nationale Hörfunk Indiens, das Harmonium aus seinem Programm. Maßgeblich verantwortlich für diesen Bann war wieder mal – ein Brite: der Musikdirektor John Foulds. In der Programmzeitschrift des Senders erschien sogar ein Cartoon, in dem ein gewisser "Herr Monium" in einer Nazi-Uniform zu sehen war. Das Harmonium sollte zum unberührbaren Instrument gemacht werden. Aber weder Sänger, noch gläubige Hindus kümmerten sich darum – und das Harmonium behauptete seine Stellung.
"Ich kann das ganz und gar zusammenklappen, so den Blasebalg entlüften (man hört einen tiefen Ton des Harmoniums), jetzt klapp ich das rum…"
Im Andachtsraum der Hindu-Gemeinde in Berlin-Reinickendorf demonstriert Olaf Thaler die Vorteile des Instruments:
"… und jetzt ist es ein handliches, kleines Köfferchen, mit dem ich ganz unproblematisch überall hingehen kann."
Es ist lauter als die traditionellen indischen Instrumente, es ist einfacher zu stimmen und leichter zu transportieren – man kann es sogar auf Prozessionen im Gehen spielen. Aus dem Harmonium der Missionare haben die Hindus ihr ganz eigenes Instrument gemacht. Für Olaf Thaler ist diese Form des musikalischen Synkretismus auch ein Spiegelbild seiner eigenen Entwicklung:
"…das haben die Inder übernommen und das ist für mich auch ne ganz wesentliche Erkenntnis gewesen in meinem eigenen spirituellen Weg, dass es jetzt wirklich nicht davon abhängt, indisch zu sein. Also, ich muss jetzt nicht indische Traditionen oder Folklore übernehmen, sondern kann das schon mit mir prägen, da wo ich herkomme."
Mehr zum Thema