Geld schafft sich ab im Netz!

Von Jörg Kantel · 23.11.2010
Sie haben sicher keine Angst davor, dass Ihre Ehefrau und Ihre Kinder fünfmal vor Ihrer Zelle "Happy Birthday" singen müssen, nur weil Sie sich einen Film aus dem Internet heruntergeladen haben. Dass Ihnen dies ein populärer Spot der Medienindustrie weismachen will, zeigt, welche Panik die Industrie vor dem Netz hat - aber auch, mit welch harten Bandagen gefochten wird. Woher kommt nun diese Panik?
Um dies zu verstehen, müssen wir ein wenig in die Betriebswirtschaftslehre eintauchen. Der Tauschwert einer Ware, also den Wert, den das Unternehmen mindestens einnehmen muss, um seine Kosten hereinzuspielen, setzt sich aus fixen Kosten (also zum Beispiel Miete der Geschäftsräume) und variablen Kosten (das sind die Kosten, die bei jedem zusätzlich produzierten Stück anfallen) zusammen. Dem steht der Gebrauchswert gegenüber, also der Wert, den der Kunde maximal bereit ist, für ein Gut zu zahlen. Tausch- und Gebrauchswert werden in unserer Gesellschaft in Geld ausgedrückt.

Die Reproduktion, also die Vervielfältigung oder Massenfertigung eines digitalisierten Gutes - sei es ein Film, ein Musikstück oder ein Text - besitzt nun aber die Eigenschaft, mehr oder weniger kostenfrei zu sein. Denn für das Speichern, Kopieren und Herunterladen fallen nur noch minimale bis gar keine Kosten an. Das heißt, die variablen Kosten gehen gegen Null.

Andererseits können digitalisierte Güter einen nahezu unbegrenzten Kundenkreis erreichen. Und wie Sie vielleicht noch aus dem Mathematikunterricht wissen, ergibt jede noch so große Zahl geteilt durch Unendlich ebenfalls Null. Das heißt aber, dass auch die fixen Kosten gegen Null tendieren.

Also haben in letzter Konsequenz digitalisierte Güter keinen in Geld ausdrückbaren Tauschwert mehr. Und einen Gebrauchswert? Den haben sie sicherlich, denn sonst würde man sich ja einen Film oder ein Musikstück nicht herunterladen. Aber Geld zahlen will dafür eigentlich niemand, und das nicht nur aus Geiz. Denn wenn der Tauschwert nicht mehr in Geld messbar ist, dann lässt sich auch der Gebrauchswert digitaler Güter nur noch schwerlich in Geld ausdrücken. Die Digitalisate haben ihren Warencharakter und das Geld seine Rolle als allgemeines Äquivalent verloren.

Was für Konsequenzen ergeben sich daraus? Nun, die Medienindustrie kann versuchen, ihre Produkte künstlich zu verknappen. Digitales Rechtemanagement, Kopierschutz, kostenpflichtige Apps - all dies sind Strategien der Verknappung. Damit wird der Warencharakter der Digitalisate wieder hergestellt. Doch lässt sich dies nur mit massiven staatlichen, wirtschaftlichen und juristischen Eingriffen durchsetzen. Die Verschärfungen und Einschränkungen des Urheberrechts gehören ebenso dazu, wie die Angriffe auf die Netzneutralität oder der Versuch, Internetsperren durchzusetzen.

Oder man kann versuchen, damit zu leben. Die Strategie der Filmindustrie, Kinoabende als "Event" zu zelebrieren, ist ein Weg dorthin. Oder der Versuch der Unterhaltungsmusiker, wieder mehr von ihren Konzerten als von ihren Platteneinnahmen zu leben.

Man kann es nämlich auch positiv sehen. Der französische Sozialphilosoph André Gorz formulierte es schon 2003 so:

"Alles formalisierbare Wissen kann von seinen stofflichen und menschlichen Trägern abgetrennt, als Software praktisch kostenlos vervielfältigt und in Universalmaschinen unbeschränkt genützt werden. Je weiter es sich verbreitet, umso größer sein gesellschaftlicher Nutzen. Sein Warenwert hingegen schwindet mit seiner Verbreitung und tendiert gegen Null: Es wird zu allgemein zugänglichem Gemeingut."

Das digitalisierte Wissen der Welt als allgemein zugängliches Gemeingut. Das halte ich für eine schöne, erstrebenswerte Utopie. Zu der schon Bertolt Brecht meinte: "Sollten Sie dies für utopisch halten, so bitte ich Sie, darüber nachzudenken, warum es utopisch ist."


Jörg Kantel, EDV-Fachmann, Künstler, Blogger, geboren 1953 in Duisburg, studierte Mathematik, Philosophie und Informatik im zweiten Bildungsweg. Seine Berufe waren: Speditionskaufmann, Gitarrist, Programmierer, Kabarettist, Systembetreuer, Systemanalytiker, Unternehmensberater. Seit Mai 1994 ist er EDV-Leiter am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und war von 2006 bis 2009 Lehrbeauftragter für Multimedia im Fachbereich "Angewandte Informatik" an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft (FHTW) Berlin. Er betreibt den Blog Der Schockwellenreiter.
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Jörg Kantel© Kantel/Rosemarie Windorf