Geistesgeschichte

Der Verlust der Götter

Die Statue des Merkur auf der Alten Kanzlei in Stuttgart scheint nach dem Mond zu greifen.
Die Statue des Merkur auf der Alten Kanzlei in Stuttgart scheint nach dem Mond zu greifen. © picture-alliance / dpa / Marius Becker
Von Jörg Magenau · 21.07.2014
Vom Polytheismus der Antike bis zu Nietzsches Kampfansage vom Tod Gottes: Hubert Dreyfus und Sean Dorrance Kelly unternehmen einen Parforce-Ritt durch die Philosophie- und Literaturgeschichte - und erzählen dabei vom Verschwinden der Götter.
Der Sinn einer Sache oder gar des Lebens ist nichts, was man den Sätzen wie Rahm abschöpfen könnte oder was auf der Sprache liegt wie die Butter auf dem Brot. Sinn ist auch nichts, was sich einfach mal so erklären ließe, als stünde er fix und fertig bereit und müsste den Begriffsstutzigen nur noch plausibel gemacht werden. Insofern führt der deutsche Untertitel "Wie große Literatur den Sinn des Lebens erklärt" in seiner Ratgeberhaftigkeit gründlich in die Irre. Er zeigt das Risiko an, das bei der Popularisierung philosophischer Theorie besteht. Präziser war der Untertitel der englischen Originalausgabe von "All things shining" (deutsch nun "Alles, was leuchtet"): "Reading the Western Classics to Find Meaning in a Secular Age".
Sinn oder Bedeutung, so die Ausgangsthese der beiden phänomenologisch orientierten amerikanischen Philosophen Hubert Dreyfus und Sean Dorrance Kelly, treten in Augenblicken intensiven Erlebens und einer gesteigerten Wahrnehmungsfähigkeit hervor, in der die Dinge "zum Leuchten" kommen. In der griechischen Antike zur Zeit Homers waren das die Momente, in denen die Götter erschienen, die in ihrer Vielzahl für verschiedene Stimmungen als kollektive Erfahrungsweisen standen. So folgten die Menschen, wenn sie es vermochten, ihrem göttlichen "Geschick". Diese Offenheit oder "Stimmungsgestimmtheit" unterschied sie gründlich vom modernen Individuum, das gelernt hat, sich selbst als alleinige Ursache all seines Handelns zu betrachten, als gäbe es kein Außerhalb, keine "Stimmung", die stimmiges Handeln erst möglich macht.
Am Ende dieser Geschichte steht David Foster Wallace
Die Geschichte, so erzählt, ist eine Geschichte vom Verlust der Götter und der göttlichen Augenblicke, eine Geschichte vom Sinnverfall und vom unaufhaltsamen Aufstieg des Nihilismus. Dreyfuss und Kelly zeichnen sie in einem Parforce-Ritt durch die westliche Philosophie- und Literaturgeschichte nach, die vom Polytheismus der Antike über den Monotheismus des Christentums, zur Etablierung des autonomen Subjekts bei Descartes und Kant und endlich zu Nietzsches Kampfansage "Gott ist tot" reicht.
Am Ende dieser Verhüllungs- und Verlustgeschichte steht David Foster Wallace als schärfster Diagnostiker des Gegenwartsnihilismus. In seinem Roman "Unendlicher Spaß" versuchte er, auch mitten in der sinnentleerten amerikanischen Supermarktrealität einzelne Momente durch gesteigerte Hinwendung "zum Leuchten" zu bringen. Erfolgreicher war damit, 150 Jahre zuvor, Hermann Melville. Dessen Erzähler Ismael aus "Moby Dick" ist das letzte große Beispiel eines stimmungsgestimmten Menschen, der den Bezug zu den Göttern noch nicht verloren hat.
Natürlich können wir heute den griechischen Götterhimmel nicht wiederherstellen; das ist auch Dreyfus und Kelly klar. Aber wir können das Lauschen üben und die Sinne schärfen für den intensiv erlebten Augenblick mit all den Möglichkeiten, die er bietet. Das ist die einigermaßen banale Lehre dieses insgesamt aber sehr anregenden Buches, bei dessen Lektüre man sich schon einmal in der geforderten Offenheit über kann.

Hubert Dreyfus, Sean Dorrance Kelly: Alles, was leuchtet
Wie große Literatur den Sinn des Lebens erklärt
Aus dem Amerikanischen von Yvonne Badal
Ullstein, Berlin 2014
364 Seiten, 19,99 Euro